Zur normalen Fassung

Europa: Nein zu diesem EU-Verfassungsvertrag

Ja zu einem sozialen, demokratischen und friedlichen Europa

vom wissenschaftlichen Beirat von Attac-Deutschland

Europa ist in schlechter Verfassung. Die jüngsten anti-sozialen Zumutungen von Seiten der EU-Kommission und des EU-Rates sprechen eine deutliche Sprache. So die Bolkestein-Richtlinie, mit der die Dienstleistungsmärkte in der EU total liberalisiert werden, oder die Arbeitszeitrichtlinie, mit der europaweite Arbeitszeitverlängerungen auf den Weg gebracht werden sollen. Begleitet wird dies von einer andauernden Aufrüstung der EU-Mitgliedstaaten hin zu einer weltweiten Kriegsführungsfähigkeit. Der Verfassungsvertrag soll, wenn es nach dem Willen der Staats- und Regierungschefs der EU geht, die Grundlage für die Politik in Europa in den nächsten Jahrzehnten bilden.

Jetzt hat in den einzelnen Staaten der Ratifikationsprozess begonnen.

Wir, die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner, wenden uns gegen die Ratifizierung dieses Verfassungsvertrags.

Denn mit diesem Vertrag wird kein soziales, friedliches und demokratisches Europa unterstützt.

Wirtschafts- und gesellschaftspolitisch wird die Europäische Union eine neoliberale Ausrichtung festgelegt

- weil die Wirtschafts- und Währungspolitik der EU auf den "Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb" (III-177, III-178) und weltweiten Freihandel (III, 314) verpflichtet wird;

- weil die Beschäftigungs- und Sozialpolitik den "Grundzügen der Wirtschaftspolitik" untergeordnet wird (III-206, 179), die geprägt sind durch die einseitige Orientierung auf das "vorrangige" Ziel der "Preisstabilität" (I-3, I-30, III-177, 185) und durch den in Verfassungsrang erhobenen "Stabilitätspakt" (III-184);

- weil die Etablierung der Marktfreiheiten (III, 130), eines Eigentumsrechts ohne soziale Bindungen (II, 77) und eine Stabilitätspolitik, die der internationalen Wettbewerbsfähigkeit dienen soll (u.a. III 185), Vorrang haben vor anderen Politikzielen.

Mit diesem Vertrag wird kein friedensfähiges Europa ermöglicht

- weil mit ihm die Militarisierung der Europäischen Union, bis hin zur globalen Kriegsführungsfähigkeit vorangetrieben wird (I-41, 1 und III-309);

- weil Aufrüstung zur Pflicht wird: "Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern" (Art. I-41 Abs. 3);

- weil eine Rüstungsagentur, die "Agentur für die Bereiche Entwicklung der Verteidigungsfähigkeiten, Forschung, Beschaffung und Rüstung" in der Verfassung festgeschrieben wird, um die Aufrüstung der Mitgliedstaaten zu überwachen und zudem "zweckdienliche Maßnahmen zur Stärkung der industriellen und technologischen Basis des Verteidigungssektors" durchzusetzen (III-311);

- weil eine Verpflichtung auf die UN-Charta als Ganzes nicht vorgesehen ist und somit auch Militärinterventionen, die nicht UN-mandatiert durchgeführt werden, vom EU-Verfassungsvertrag gedeckt sind.

Mit diesem Vertrag werden die sozialen Grundrechte nicht gestärkt

- weil die sozialen und gewerkschaftlichen Grundrechte in der EU-Grundrechtecharta durch beigefügte Erläuterungen ausgehöhlt und praktisch ihrer Wirksamkeit beraubt werden (II-112, 7, Erklärung Nr. 12). Zwar ist ein sozialer Dialog zwischen den Tarifparteien vorgesehen (I 48; III 211). Doch werden den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern keine Mitbestimmungsrechte eingeräumt (II 87) Die Verfassungsartikel über eine repräsentative und partizipative Demokratie (I 46; I 47) können daher nur schwer mit Leben gefüllt werden;

- weil den europäischen Bürgerinnen und Bürgern anstelle eines "Rechts auf Arbeit" nur das "Recht zu arbeiten" gewährt (II-75) wird.

Mit diesem Vertrag wird kein demokratisches Europa geschaffen

- weil das Demokratiedefizit bestehen bleibt. Das Europäischen Parlament erhält nicht einmal die gleichen gesetzgeberischen Befugnisse wie der Ministerrat. Das parlamentarische Grundrecht auf eigene Gesetzesinitiativen bleibt den Abgeordneten weiterhin vorenthalten. Das Parlament hat in vielen und entscheidenden Bereichen lediglich ein Anhörungsrecht (III 173; III 304) und kann die EU-Kommission lediglich auffordern, "geeignete Vorschläge zu Fragen vorzulegen, die nach seiner Auffassung die Ausarbeitung eines Rechtsakts der Union zur Anwendung der Verfassung erfordern" (Art. III-332). Die Wahl des Kommissionspräsidenten obliegt zwar den Abgeordneten, beschränkt sich aber auf Bestätigung oder Ablehnung eines einzigen, vom Europäischen Rat vorgeschlagenen Kandidaten (Art. I-27);

- weil die Entscheidungen in der Außen- und Sicherheitspolitik vom Europäischen Rat, Ministerrat und vom EU-Außenminister getroffen werden. Das Europaparlament wird lediglich "regelmäßig gehört" und über die "Entwicklung auf dem Laufenden gehalten" (Art. I-40);

- weil es keine Möglichkeit der Individualklage vor dem Europäischen Gerichtshof in den Bereichen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und in der Innen- und Rechtspolitik (Art. III-376 und III-377) gibt.

Mit diesem Vertrag entsteht keine zukunftsoffene Verfassung der Europäischen Union.

Es wäre für die demokratische Entwicklung in Europa fatal, wenn diese Verfassung angenommen würde. Sie ist weder zukunftsoffen noch zukunftsfähig. Eine Verfassung muss Raum für politische Alternativen offen halten. Dies geschieht im vorliegenden Verfassungsvertrag nicht. Im Gegenteil: Dieser Raum wird geschlossen. Eine Änderung des Verfassungsvertrages ist nur möglich, wenn alle Mitgliedstaaten der EU einem neuen Vertrag zustimmen und ihn ratifizieren (IV-443), keineswegs per Bürgerbegehren (I-47). In wenigen Jahren wird die EU 30 und mehr Mitgliedstaaten haben. Vor diesem Hintergrund ist eine spätere Änderung des Verfassungsvertrages wirklichkeitsfremd.

Um zu verhindern, dass dieser Vertrag in Kraft tritt, unterstützen wir öffentliche Kampagne, die die Bevölkerungen über die Inhalte dieses Vertrages aufklärt. Die einseitigen Informationskampagnen der Regierungen für die Zustimmung zum Verfassungsvertrag, die den Charakter von Propagandafeldzügen tragen, müssen eingestellt werden. Die dafür vorgesehenen Mittel sollten zur ausgewogenen Information von Bürgerinnen und Bürgern verwendet werden;.

Wir rufen die Abgeordneten in den Parlamenten jener Länder, in denen die Ratifizierung per Parlamentsvotum erfolgen soll, auf, gegen den EU-Verfassungsvertrag zu stimmen. Wir rufen die Bürgerinnen und Bürger, die per Referendum über den Verfassungsvertrag abstimmen können, auf, den Vertrag über die Verfassung abzulehnen.

Nein zu diesem Verfassungsvertrag!
Ja zu einem sozialen, friedensfähigen und demokratischen Europa!

Bei diesem Aufruf handelt es sich um eine Initiative aus dem wissenschaftlichen Beirat von Attac-Deutschland.

Zur normalen Fassung


https://sopos.org/aufsaetze/426c5080b1a34/1.phtml

sopos 4/2005