Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union unterzeichneten am 29. Oktober 2004 den so genannten "Vertrag für eine Verfassung der Europäischen Union". Dieser Verfassungsvertrag ist vor allem das Ergebnis eines 16 Monate andauernden Willensbildungsprozesses des "EU-Konventes", der seine Arbeit im Juli des Jahres 2003 der Öffentlichkeit vorstellte. Ziel des Vertragswerkes ist eine weitere "Demokratisierung" der Europäischen Union: der europäische Integrationsprozess soll auf diese Weise einen weiteren Impuls erfahren. Kommentatoren beklagen nicht ohne Grund ein so genanntes "Demokratiedefizit" der Europäischen Union. Wie zahlreiche Kritiker monieren, handelt es sich bei der Europäischen Union um eine "Union der Regierungen": Rechtsakte werden in einer Prozedur erlassen, die eindeutig von nationalen und supranationalen Exekutiven dominiert wird. Nicht wenige europäische Rechtsakte, die sich auf das Leben der EU-Bürger mitunter einschneidend auswirken, werden von den nationalen Regierungen in Form des auf seinem jeweiligen Fachgebiet tagenden Ministerrates erlassen. Im Zuge aufeinander folgender Vertragsreformen ist zwar das so genannte Mitentscheidungsverfahren zugunsten des immerhin direkt gewählten Europäischen Parlamentes schrittweise und kontinuierlich erweitert worden: Es hat schon jetzt für einen Großteil europäischer Rechtsakte eine Art Vetorecht. Doch das ändert nichts am Befund einer exekutivistisch dominierten Rechtsetzungspraxis - zumal auch im Mitentscheidungsverfahren bei fast allen Rechtsakten das alleinige Initiativrecht bei der EU-Kommission verbleibt, einer supranationalen Art von Behörde: ein eklatanter Verstoß gegen die Prinzipien der Gewaltenteilung und der repräsentativen Demokratie. Ohne ein Aktivwerden der EU-Kommission und der nationalen Regierungen können weder bereits bestehende EU-Rechtsakte geändert noch neue EU-Regelungen erlassen werden. Man stelle sich eine ähnliche Struktur in der Gesetzgebungspraxis der Bundesrepublik Deutschland vor: Dann würden zum Teil Bundesgesetze allein von den im Bundesrat zusammentretenden Landesregierungen erlassen; und auch für den Fall, dass der Bundestag ein Vetorecht hätte, gälte das alleinige Gesetzesinitiativrecht einer eigens noch zu schaffenden "Hohen Unabhängigen Behörde".
Nicht zuletzt aufgrund dieses so genannten "Demokratiedefizits" herrscht also der Eindruck vor, dass sich das Verhältnis der Bürger zu EU-Institutionen zunehmend entfremdet. Auf dem bisherigen Höhepunkt des europäischen Integrationsprozesses wenden sich in der Tat mehr und mehr Bürger von "Brüssel" ab: Die ausgesprochen niedrige Beteiligung bei der letzten Wahl zum Europäischen Parlament gibt hiervon ein beredtes Zeugnis ab. Dem sollte vor allem die Konventsarbeit entgegenwirken und das "Europa der Bürger" mit einem "großen Wurf" vorantreiben. So ging es ähnlich wie schon beim Konvent zur Erarbeitung der EU-Grundrechtecharta sehr wesentlich darum, das bislang als bürokratisch empfundene Gebilde der EU transparenter, bürgernäher und "demokratischer" zu gestalten. Ist das gelungen? Diese Frage ist nicht nur deshalb wichtig, weil der EU-Verfassungsvertrag so weitreichende Aspekte behandelt wie etwa die zukünftige Autorität des EU-Parlaments in Straßburg, die Macht des EU-Ministerrates oder die Schaffung eines EU-Außenministerpostens, der möglicherweise vom amtierenden "Hohen Vertreter für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik", Javier Solana, eingenommen werden wird. Die Frage, wie eine schon so weit gediehene Europäische Union, die inzwischen in nahezu alle Politikfelder hinein regiert, machtpolitisch strukturiert ist, verdient vor allem deshalb ein so großes Interesse, weil sie nicht zuletzt den Grad der Wertschätzung widerspiegelt, den die europäischen Eliten den demokratischen Idealen der Aufklärung gegenüber hegen. Laut Konventspräsident Giscard d' Estaing soll diese hier beschlossene Verfassung für ein "Europa der Bürger" schließlich die kommenden "30 Jahre" überdauern. Ein solcher durchaus historisch zu nennender Einschnitt berechtigt sehr wohl zur Frage nach der ideellen und verfassungsrechtlichen Fundierung sowie Ausgestaltung der Europäischen Union; dabei spielen auch Aspekte der realen Bedingungen eines "demokratischen Lebens" der EU-Bürger eine wichtige Rolle. Das schließt sicher auch den problematischen Aspekt einer "europäischen politischen Öffentlichkeit" ein. Zwar ist derzeit angesichts der bevorstehenden Ratifikationshürden von bereits jetzt 25 Mitgliedstaaten ungewiss, ob der EU-Verfassungsvertrag tatsächlich wie geplant Ende 2006 in Kraft treten wird. Dennoch ist eine grundsätzliche Behandlung wichtiger Aspekte des gegenwärtigen EU-Einigungsprozesses mehr als geboten - gerade im Lichte schwer erkämpfter Errungenschaften der Aufklärung, die man nicht so leichtfertig aufs Spiel setzen sollte.
Meine These ist, dass der europäische Einigungsprozess besonders in Form des jetzt unterzeichneten EU-Verfassungsvertrages genauso an der Erschöpfung früherer politischer Ideale, Konzepte und positiver Visionen leidet wie gegenwärtige Politik allgemein; und diese Tendenz der Entleerung politischer Programme samt dem Rückzug vieler Bürger aus dem "demokratischen Leben" begünstigt den Aufbau eines bürokratisch-autoritären Apparates. So ist die Arbeit des Konventes zwar insofern positiv zu werten, als dass sie das bislang intransparente Geflecht an EU-Verträgen, europäischer Rechtsprechung und zwischenstaatlicher Zusammenarbeit in einem abgeschlossenen Dokument zusammenfügt und dadurch dem "Normalbürger" verständlicher macht. Jedoch gibt es offenbar ein ganz elementares Problem bei dem ganzen Prozedere: die Arbeit der beiden Konvente ist politisch entwurzelt, weil die "Idee Europa" in den letzten Jahren ihren visionären zukunftsoffenen Charakter vollends verloren hat. Daran können auch die gerne zitierten Vergleiche mit den Verfassungsgebungen im alten Europa und in Amerika nichts ändern, sie gehen fehl. Im Unterschied zu den aktuellen Integrationsbestrebungen auf europäischer Ebene entsprangen die Verfassungen Frankreichs, Amerikas und anderer Länder im 18. Jahrhundert und später im wesentlichen der Aufklärung verpflichteten politischen Bewegungen, die eine positive Vision einer fortschrittlicheren Gesellschaft hatten. Die großen Ideengeber und Philosophen um Voltaire und Locke waren eingebunden in soziale Bewegungen, die für Freiheitsrechte kämpften und alte feudale Strukturen durch neue, bessere ersetzen wollten. Die zu dieser Zeit gebildeten Verfassungskonvente waren entsprechend das Produkt großer gesellschaftlicher Strömungen. Und ihre Arbeit brachte die Menschheit einen Sprung nach vorne. Zu den größten Fortschritten, die das Zeitalter der Aufklärung brachte, gehörte die Institutionalisierung eines gemeinsamen gesellschftlichen Handlungs- und Verständigungsrahmens, im dem sich freie, aufgeklärte und mündige Bürger ihre gesellschaftlichen Rahmenbedingungen entsprechend ihrer Wünsche und Vorstellungen umformen konnten. Gesellschaft galt nicht länger als gottgegeben, sondern als ein im Rahmen eines rationalen und demokratischen Willensbildungsprozesses gestaltbares menschliches Konstrukt. Besonders im 19. Jahrhundert entwickelte sich eine politische Strömung der Linken, die den Gedanken gesellschaftlicher Veränderung und Gestaltung auch auf das Wirtschaftsleben anwendete - insoweit eine schlüssige Fortsetzung zunächst eher bürgerlich orientierter Bewegungen.
Beim EU-Konvent ist von dieser gesellschaftlichen Aufbruchsstimmung hingegen nichts zu spüren: kein Wunder in einer Zeit tiefer Entpolitisierung. Im Zuge des Wegfalls konkurrierender Politikkonzepte besonders nach dem Ende des Kalten Krieges färbt sich die allgemeine Desillusionierung auch auf den europäischen Einigungsprozess ab, und das scheinbar paradoxerweise in einer Zeit, wo Erweiterungsrunde auf Erweiterungsrunde folgt und sich die EU im historischen Vergleich fast mühelos geographisch ausbreiten kann. So scheint den europäischen Eliten, die die Idee eines geeinten Europas in der Nachkriegszeit noch mit großem Engagement und politischer Überzeugung vorangetrieben haben, das Politisch-Visionäre Europas in den letzten Jahren vollends abhanden gekommen zu sein. Diese Visionslosigkeit spiegelt sich auch an der öffentlichen Rezeption des Themas. Das Bild eines bürokratischen Brüsseler Verwaltungsapparates, der unser aller Leben nur noch komplizierter macht, ist weit verbreitet - und das nicht zu Unrecht. Auch den vermeintlichen Visionären im Konvent fiel es bei den Arbeiten schwer, an diesem Bild zu rütteln und den "alten Geist" der Europa-Idee mit neuem Leben zu füllen.
Die Konventsmitarbeiter unter dem ehemaligen französischen Staatspräsidenten Giscard d'Estaing waren sich zweifelsohne der Legimitationskrise der Europa-Idee bewusst, und ebenso sicher war es kein Zufall, dass mit d'Estaing ein altgedienter Verfechter eines geeinten Europas dem Konvent vorsaß. Nicht in Abrede zu stellen ist, dass Europa durch die Implementierung der erarbeiteten Verfassung zum Teil transparenter und die Europäische Union als Institution lebendiger und realer werden könnte. Dennoch vermochte der Konvent am Grunddilemma nichts zu ändern. Es ist ihm nicht gelungen, Europa als für seine Bürger kulturell und politisch lohnende Initiative neu zu beleben. Nicht einmal unter den handverlesenen Konventsvertretern der EU-Mitgliedsstaaten konnte Einigkeit über grundlegende Prinzipen einer gemeinsamen Verfassung erzielt werden. Die Konventsarbeit blieb streckenweise in einem überaus technischen Gefeilsche um Stimmrechte und komplizierte Abstimmungsmodalitäten stecken. Nationalstaatliche Präferenzen und Streitigkeiten spielten bis zum Schluß eine große Rolle, und d'Estaing wurde der Vorwurf gemacht, autoritär über die Köpfe der anderen hinweg entscheiden zu wollen. So wurde schließlich ein Kompromisspapier vorgelegt, das die gegenwärtige Krise der europäischen Idee mehr spiegelt als überwindet.
Zentrale Ergebnisse der Konventsarbeit bleiben sogar hinter alten demokratischen Errungenschaften zurück. Besonders angesichts der Tatsache, dass die Europäische Union auch in Form des Verfassungsvertrages weiterhin eine "Union der Regierungen" bleiben wird, wirkt der Vertragstext insgesamt künstlich und den aktuellen Problemen unangemessen. Der Eindruck entsteht, als wolle man das sogenannte "Europa der Bürger", das über Jahrzehnte in weiten Teilen der Bevölkerung auf spontane Zustimmung stieß, heute mangels Rückhalt und Begeisterung mit institutionellen Mitteln aus dem Boden stemmen: in Form eines Vertragstextes, der trotz seiner um Transparenz bemühten Gliederung auch Juristen eine unerquickliche Lektüre zumutet. Der Verlust des Positiv-Visionären der Europa-Idee wird durch einen technokratischen Paragraphen- und Regulierungsdschungel kompensiert - wodurch die "Bürgerferne" von Brüssel sicher nicht abgebaut wird. Ohne eine politische Bewegung, die für das Zusammenwachsen Europas nicht nur mit einengenden pragmatischen "Notwendigkeiten" argumentiert (die Notwendigkeit, den Euro besser zu schützen, die Notwendigkeit, militärpolitisch zu reifen, die Notwendigkeit, die EU-Grenzen besser überwachen zu können usw.), sondern die stattdessen positive Ziele hinsichtlich freiheitlicher und demokratischer Lebensweisen überzeugend vermittelt und dafür Rückhalt im Volk gewinnt, wird es keine demokratische europäische Öffentlichkeit geben.
Noch vor einigen Jahrzehnten war die Idee Europa auch von solchen Visionen getragen. Zwar dominierte seit jeher bei den europäischen Eliten ein technokratischer und politischer Pragmatismus, der das Visionäre immer in den Hintergrund drängte. Insofern ist es den Eliten selbst zuzuschreiben, dass sich die Menschen immer weniger für Europa begeistern ließen. In der Nachkriegszeit entwickelte sich rasch die Idee, Europa neben den USA zu einer eigenständigeren wirtschaftlichen und politischen (und später auch militärischen) Weltmacht werden zu lassen. Doch spielten neben solchem primär auf wirtschaftspolitische Fragen abzielenden Pragmatismus in der Diskussion auch die Prinzipen des Transatlantizismus, der Völkerverständigung und Versöhnung eine Rolle. Die Idee Europa war in die Zukunft gerichtet und versprach eine "bessere Welt". So gelang es trotz aller Engstirnigkeit, die in den Europadiskussionen immer wieder durchschlug, den europäischen Integrationsprozesses seit den 1950er-Jahren weit voran zu treiben, ohne dabei große Teile der europäischen Bevölkerung zu verlieren. Ein Geflecht von EU-Verträgen hat der EU eine institutionelle Gestalt und viele neue Aufgaben gegeben. Obwohl kein Bundesstaat, ist die EU auch kein bloßer Staatenbund mehr: als ein Staatenverbund ist sie eine institutionelle Innovation, die supranationale Beschlussverfahren und zwischenstaatliche Zusammenarbeit in sich vereinigt. Die EU hat eine gemeinsame Währung, gemeinsame Zollgrenzen, eine gemeinsame Handelspolitik, sie betreibt "Innenpolitik" auf den Feldern des Sozialen bis hin zur Umwelt, und die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten bei rechtlichen Angelegenheiten nimmt ebenfalls langsam Gestalt an.
Doch dieser institutionelle Aufbau ist längst zu einem Problem geworden, da er mangels öffentlichem Interesse und befriedigender Strukturen keiner demokratischen Kontrolle unterliegt. Heute rächt es sich, dass Diskussionen und institutionelle Innovationen immer von einem technokratischen Pragmatismus dominiert wurden. Von fortschrittlichen Wegmarken eines langsam zusammenwachsenden Kontinents, der nach vorne blickt, ist in den letzten Jahren jedenfalls nichts mehr zu spüren. Der Einigungsprozeß ist zwar auf formeller Ebene nicht ins Stocken geraten. Aber sein Charakter und seine Wahrnehmung haben sich stark geändert. Man könnte auch sagen, er zeigt heute sein wahres Gesicht, bzw. verkörpert heute nur noch das, was die europäischen Eliten aus einer im Grunde ansprechenden Idee haben werden lassen: Bürokratie, Machtspielchen und gewichtige Demokratiedefizite.
So hat die EU ihre Erweiterung auf 25 Mitgliedstaaten abgeschlossen, und ihr Blick richtet sich weiter nach Osten. Gerade hier wird aber die politische Ebene des Problems deutlich. Wenn von der EU-Erweiterung die Rede ist, hört man meist nur von engstirnigen Streitigkeiten um Agrarsubventionen, Sorgen, wie die Grenzen dicht zu halten und die Osteuropäer in weltpolitischen Fragen wie dem Irakkrieg auf Linie zu halten sind und ihr Einfluss auf Entscheidungen auf EU-Führungsebene am effektivsten einzudämmen ist. Vom großartigen Zusammenwachsen und von Versöhnung ist hingegen kaum mehr die Rede. Vielmehr behandeln gegenwärtige innenpolitische Debatten um das Thema EU-Erweiterung überproportional die Schattenseiten der Osterweiterung - vor allem in Form der gegenwärtigen Skandalisierung einer ach zu freizügigen Visapolitik. So nimmt das (wenn auch tatsächlich vorhandene) Problem des Menschenhandels seit mehreren Wochen einen der prominentesten Plätze in der politischen Diskussion ein. Im Übrigen behandeln aktuelle Auseinandersetzungen um die "Zukunft" Europas primär die Frage, wie man auf Augenhöhe mit den USA gelangen und den eigenen politischen und vor allem militärischen Einfluß ausbauen kann. Im Zuge dieser Neuorientierung wurde deshalb die Idee der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU (GASP) mehr in den Mittelpunkt geschoben. Zudem ist im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) die Aufstellung einer 60.000 Mann starken Schnellen Eingreiftruppe vorgesehen. Das Augenmerk richtet sich verstärkt auf militärische und machtpolitische Fragen. Kaum ein EU-Politiker verpasst eine Gelegenheit, zu betonen, welche große Verantwortung europäische Streitkräfte im "internationalen Kampf gegen den Terrorismus" und zur "Friedenssicherung" in den Konfliktherden der Welt tragen. So wurde auch im Sommer 2003 dem ersten großen militärischen EU-Einsatz außerhalb Europas und unabhängig von transatlantischen militärischen Kapazitäten im Kongo große Bedeutung beigemessen. Hierzu passt, dass der Hohe Beauftragte der EU zur Außen- und Sicherheitspolitik, Javier Solana, eine EU-eigene Sicherheitsdoktrin verfasste, die, ähnlich wie die der USA, präventives militärisches Eingreifen vorsieht.
All diese Initiativen wären freilich jede für sich gesondert zu analysieren und zu bewerten. Doch auch ohne eine eingehende Behandlung der GASP oder der ESVP, die hier den Rahmen sprengen würde, wird deutlich, in welche Richtung sich die Diskussion um Europa in den letzten Jahren gedreht hat: es geht einerseits um Reglementierung, andererseits um Militär- und weltpolitische Machtaspekte. Auf diesem Feld wird zudem die gewachsene Geringschätzung der politischen Eliten gegenüber demokratischen Prinzipien und Verfahren besonders deutlich. Der Verfassungsvertrag legt fest, dass über militärische Einsätze, die europäische Soldaten überall auf der Welt hinführen können, die EU-Regierungen entscheiden sollen: das EU-Parlament hat hier kein Mitentscheidungsrecht. Zwar ist in der Bundesrepublik Deutschland ein grundsätzlich konstitutiver Parlamentsvorbehalt für militärische Einsätze vorgesehen. Doch das Ende 2004 verabschiedete Entsendegesetz sieht in so genannten "Eilfällen" eine alleinige Entscheidung der Bundesregierung über das "Ob" eines weltweiten Militäreinsatzes vor und billigt dem Bundestag für solche Fälle lediglich ein Rückholrecht zu. Das ist "interessant": Bei den geplanten EU-"Eingreiftruppen" liegt die Betonung auf schnell.
In der konkreten Arbeit des EU-Verfassungskonventes spiegelt sich das fundamentale Problem der Entzauberung der Europa-Idee - und ebenso eine Art von "Demokratieverdrossenheit" der europäischen Eliten. Die Konvente setzten sich aus Repräsentanten von EU-Institutionen und der Mitgliedstaaten zusammen. Sie zeigten zwar in Umrissen, wie ein Fortschreiten des Europäischen Integrationsprozesses theoretisch möglich sein könnte. So werden die richterrechtlich entwickelten Grundrechte nun in einem einzigen Dokument sichtbar. Aber sobald es um konkrete Vorhaben geht, stellt sich unmittelbar die Frage nach ihrer demokratischen Legitimation. Die Frage, wie mit dem Demokratiedefizit auf EU-Ebene umgegangen werden soll, wird immer dringlicher. Oft wird diese Frage falsch verstanden. Es geht nicht nur darum, wie die internen Entscheidungsprozesse in Brüssel und Straßburg transparenter und "demokratischer" gehandhabt werden könnten. Die ganz grundlegende Frage ist die nach der öffentlichen demokratischen Legitimation und Kontrolle dieser Prozesse durch die EU-Bürger, die ihre Regierungen auf jeweiliger Landesebene wählen und abwählen können, die aber an dem, was in Brüssel In der konkreten Arbeit des EU-Verfassungskonventes spiegelt sich das fundamentale Problem der Entzauberung der Europa-Idee - und ebenso eine Art von "Demokratieverdrossenheit" der europäischen Eliten. Die Konvente setzten sich aus Repräsentanten von EU-Institutionen und der Mitgliedstaaten zusammen. Sie zeigten zwar in Umrissen, wie ein Fortschreiten des Europäischen Integrationsprozesses theoretisch möglich sein könnte. So werden die richterrechtlich entwickelten Grundrechte nun in einem einzigen Dokument sichtbar. Aber sobald es um konkrete Vorhaben geht, stellt sich unmittelbar die Frage nach ihrer demokratischen Legitimation. Die Frage, wie mit dem Demokratiedefizit auf EU-Ebene umgegangen werden soll, wird immer dringlicher. Oft wird diese Frage falsch verstanden. Es geht nicht nur darum, wie die internen Entscheidungsprozesse in Brüssel und Straßburg transparenter und "demokratischer" gehandhabt werden könnten. Die ganz grundlegende Frage ist die nach der öffentlichen demokratischen Legitimation und Kontrolle dieser Prozesse durch die EU-Bürger, die ihre Regierungen auf jeweiliger Landesebene wählen und abwählen können, die aber an dem, was in Brüsseloder Straßburg geschieht, nicht nur wenig Interesse zeigen, sondern auch keine vergleichbaren Möglichkeiten haben, EU-Politiker und Diplomaten zur Rechenschaft zu ziehen.
So wird es heute als Fortschritt im "Demokratisierungsprozess" der EU bewertet, dass zukünftig beim Erlaß von EU-Rechtsakten im Regelfall das (immerhin direkt gewählte) EU-Parlament "gleichberechtigt" mit dem Ministerrat entscheiden kann. Hier stellt sich durchaus die Frage, warum über lange Zeit gewachsene demokratische Prozesse in Europa heute so leichtfertig zur Disposition gestellt werden. Offenbar hat ihre Wertschätzung in Politikerkreisen derart abgenommen, dass "Demokratie" heute als etwas ausgegeben werden kann, das man in kleinen Dosierungen gutsherrlich "gewähren" kann. Andererseits fehlt aber wohl der öffentliche Druck, diese Entwicklungen mit der nötigen Sorgfalt zu diskutieren und sich ernsthaft zu bemühen (und sich nicht bloß dazu zu "bequemen"), für die postnationale Vertretung in der EU ein überzeugendes demokratisches Modell zu finden.
Aufgrund dieses ungelösten Problems sind die Ergebnisse des EU-Konvents auf allen Ebenen sehr fragwürdig. Das Europäische Parlament wird zwar in seinem Mitentscheidungsrecht gestärkt und soll von einem Vetorecht Gebrauch machen können. Die nationalen Parlamente können außerdem den Europäischen Gerichtshof bei Kompetenzstreitigkeiten anrufen, und die EU bekommt einen zweieinhalb Jahre amtierenden Ratspräsidenten. Entgegen der Verheißungen einer umfassenden Demokratisierung wird dem Europäischen Parlament (als einem immerhin direkt gewählten Organ) aber nur eine passive Rolle in der Gesetzgebung zugesprochen. Das Initiativrecht verbleibt bei der EU-Kommission, und der EU-Ministerrat wird auf verbleibenden Politikfeldern auch weiterhin einstimmig Rechtsakte erlassen können. Besonders bedenklich ist, dass nun auch z. B. materielles Strafrecht im Rahmen der so genannten "Gemeinschaftsmethode" erlassen werden kann. (Direktdemokratische Vorrichtungen im Verfassungsvertrag wie etwa das "Europäische Bürgerbegehren" ändern nichts an den grundlegenden Mängeln des Vertragswerkes.)
Der Konvent scheiterte darin, die Europäische Union mit demokratischem Geist zu beleben. Der Text erinnert vielmehr an die pragmatische Flickschusterei früherer Dokumente, die dem Tagesgeschäft bedeutend mehr Gewicht einräumen als den in Präambeln und anderen Zusätzen wortreich aber konsequenzlos ausformulierten Visionen über das "Europa der Bürger" und dergleichen. Zudem fühlt sich die EU heute offenbar verstärkt der Aufgabe verpflichtet, durch den Aufbau eines bürokratisch-autoritären Apparats ein auseinanderfallendes Gemeinwesen zusammenzuhalten.
Hinter verschlossenen Türen agierende Expertenklüngel werden deshalb wohl auch zukünftig die Zügel in Brüssel in der Hand behalten. So mag man traurig darüber sein, wie sehr die Idee eines vereinten Europas politisch degeneriert ist. Andererseits erscheint es aber abwegig und aus freiheitlich-demokratischer Perspektive fragwürdig, für den Verfassungsvertrag in die Bresche zu springen. Statt Zynismus gegenüber den Eliten und der Abkehr von der Vorstellung, dass die Menschen in Europa "besser" zusammenleben können, sollte man darüber nachdenken, wie sich das Ziel eines "Europa der Bürger" wirklich verwirklichen ließe.
Kai Rogusch ist Redakteur des politischen Zweimonatsmagazins Novo und lebt in Frankfurt am Main. Der vorliegende Beitrag erschien auch in der diesjährigen März-April-Ausgabe der ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISTISCHE POLITIK UND WIRTSCHAFT.
https://sopos.org/aufsaetze/426c4c8ec71ce/1.phtml
sopos 4/2005