Zur normalen Fassung

Allah am Bosporus

Die Diskussion um den EU-Beitritt der Türkei vermischt Mythos und Realität

von Sabine Küper-Büsch

Wenn es um Türkinnen und Türken geht, wissen Deutsche ganz genau Bescheid: "Allahs ausgebeutete Töchter" und "Allahs willige Schergen" agieren im Schatten des Minaretts und im Namen des Propheten, entweder im "hintersten Anatolien" oder aber in den Hinterhöfen der Stadtteilmoscheen in der Kreuzberger Böckstrasse, in Köln-Nippes oder in Hamburg-Altona. Also überall da, wohin unsere Phantasie uns trägt und wo kaum ein Mehrheitsdeutscher je gewesen ist, gleich ob links, liberal oder rechts. In der gegenwärtigen deutschen Diskussion um die EU-Beitritts-Kandidatur der Türkei schaffen Orientalismen und Allah-Neologismen den nötigen Stoff für Ammenmärchen, die an die Stelle einer differenzierten Auseinandersetzung mit den widersprüchlichen gesellschaftlichen Realitäten in der Türkei treten.

Im Grunde hat die momentane Diskussion um die türkische Gesellschaft und das Für und Wider des EU-Beitrittes kaum noch etwas mit der zeitgenössischen Türkei zu tun. Wer weiß in Europa schon, daß sich 75 Prozent der türkischen Bevölkerung eine strikte Trennung von Politik und Religion wünschen, während sich dies in den USA und Mitteleuropa nur durchschnittlich 50 Prozent von ihrem Staat erhoffen? In EU-Europa vorherrschend ist statt dessen eine Melange aus unverarbeiteter türkischer Arbeitsmigrationsgeschichte und Angstvisionen nach dem 11.September 2001, die mit menschenrechtlichen Argumentationsrelikten der 90er Jahre vermischt werden. Die Türkei ist demnach islamistisch, militärdominiert und minderheitenunterdrückend. Alle Reformbemühungen sind reine Augenwischerei, der türkische Parlamentarismus sowieso eine Farce und das Zypern-Problem ungelöst.

Letzteres ist noch der konkreteste Punkt an dieser Türkeikritik. Zypern ist eines der neuen EU-Beitrittsländer und macht verständlicherweise den Abzug des türkischen Militärs aus dem türkisch besetzten Teil der Insel zur Bedingung für die Beitrittsgespräche der EU mit Ankara. Daß die zypriotische Gesellschaft wohl kaum selbstständig über ihre Zukunft wird entscheiden können, liegt aber nicht allein daran, daß Lefkosia (die Hauptstadt des türkischen Teils von Zypern) von Ankara abhängig ist. Auch die Hauptstadt des griechischen Teils, Nikosia, kann kaum als unabhängig von Athen bezeichnet werden.

Wie steht es mit den anderen Lieblingsthemen in der EU-Beitrittsdebatte? Die Inflation von sensationsheischenden Medienberichten über verkaufte Bräute, Morde im Namen der Ehre und die Kopftuch-Trägerinnen eignet sich gut zu einer Veranschaulichung, wie kulturalistisch aufgeladen und wenig faktenbasiert die Diskussion ist. Die Kopftuch-Frage ist inzwischen mehr ein europäisches als ein türkisches Thema. In der Türkei ist das Tragen des Kopftuchs an Universitäten und Schulen und im öffentlichen Dienst verboten. Verstöße führen zu Suspendierungen und Studienplatzverlusten. Die politische Bewegung für das Recht auf Kopftuchtragen ist Ende der 1990er Jahre versandet. Die kemalistische Staatsdoktrin sieht ihr säkulares Frauenbild als modernitätsweisend, und die derzeitige gemäßigt islamistische Regierungspartei AKP hat resigniert aufgehört, dies in Frage zu stellen. Sie hofft auf bessere Zeiten, in denen aber nicht die Sharia eingeführt werden soll, sondern in denen es Mädchen beispielsweise freigestellt ist, ob sie am nationalen Feiertag, dem "Tag der Jugend", kemalistisch in kurzen Röckchen zur Nationalhymne "Atatürk ist der größte Führer aller Zeiten" brüllen wollen, wie es heute verpflichtend ist, oder aber lieber im schwarzen Büßergewand auf dem Unicampus wandeln. Letzteres ist übrigens eine Mode, die nicht aus dem "hintersten Anatolien" kommt. Dort war sie nie en vogue, der schwarze Schleier ist vielmehr Ausdruck des modernen politischen und weitgehend städtischen Islam.

Und den gibt es inzwischen auch in Deutschland, das ist richtig. Er fühlt sich hier wohler als in der Türkei, wo er mit autoritärer Staatsräson malträtiert wird. Die Inhalte des politischen Islam in Deutschland beziehen sich inzwischen zu einem erheblichen Teil auf innerdeutsche Themen wie z.B. das Kopftuchverbot. Es gilt, klar zwischen dem Migrations-Islam in Deutschland und dem Islamismus in der Türkei zu unterscheiden. Die ehemals islamistische Fraktion in der Türkei hat sich einem Demokratisierungsprozeß unterzogen. Die momentane Regierungspartei für "Gerechtigkeit und Fortschritt" (AKP) besteht aus einem Konglomerat unterschiedlicher Gruppen: islamisch-konservative, laizistisch-konservative und nationalistische Kräfte; viele Pragmatiker haben sich von der ehemaligen autoritären Parteispitze der inzwischen verbotenen "Wohlfahrtspartei" (RP) um den Islamistenführer Necmettin Erbakan befreit. Sie machen eine flexible, europanahe Politik, weil ihre immensen Wahlerfolge auch auf einer breiten Basis nicht islamisch orientierter Wähler fußen. Diese sehen die moderaten Islamisten als Alternative zu den ehemaligen kemalistischen, militärnahen Regierungen. Der Migrations-Islam in Deutschland hingegen beruht zu einem großen Teil auf Necmettin Erbakans Ideologie "Milli Görüs" (Nationale Sichtweise). Deren Erfolgsrezept besteht darin, den türkischen Migranten in Deutschland institutionelle und kulturelle Angebote zu machen, wie Moscheen und Koranschulen, aber auch Sportvereine, Schulaufgabenhilfe und Freizeitangebote. Sie federn Integrationsschwierigkeiten ab, münden gleichzeitig aber in eine Parallelgesellschaft.

Der Unterschied zwischen Migrations-Islam in Deutschland und Islamismus in der Türkei zeigt sich gerade auch in der Frage von religiös oder traditionell begründeter Frauenunterdrückung. Das vermehrte Aufbegehren geprügelter und verfolgter "Töchter des Islam" in Deutschland und ihre wachsende Wahrnehmung in der hiesigen Debatte hat mehrere Gründe. Es gibt zum einen inzwischen effektive Migrantinnenzentren und Frauenrechtlerinnen, die erfolgreich Selbsthilfe und Öffentlichkeit schaffen. Zum anderen beruhen sowohl die Frauenunterdrückung als auch die Gegenwehr auf einem Konfliktpotential, das auf der spezifischen Situation gerade der jüngeren Migrantengeneration in Deutschland beruht - ein Konfliktpotential, an dem die deutsche Öffentlichkeit jegliche Beteiligung wie z.B. mangelhafte Integrationspolitik leugnet. Statt dessen werden Problemfälle in die Türkei abgeschoben oder die Problematik wird in die Türkei projiziert, wie etwa im Falle der 'Ehrenmorde'.

Die oft als Beweis für die Rückständigkeit der Türkei und gegen ihren EU-Beitritt angeführten "Morde im Namen der Ehre" sind aber ein Thema, das in der Türkei inzwischen alle politischen Parteien eint: von den Islamisten über die Ultranationalen bis zu den Linken gibt es niemanden, der sie verteidigt. Während man in der europäischen Diskussion den Eindruck hat, 'Ehrenmorde' seien der Inbegriff türkischer Volkskultur, kämpft die türkische Regierung gegen den Anstieg von Gewalt an Frauen, der im übrigen vor allem in den kurdischen Gebieten und in kurdischen Migrantenfamilien zu beobachten ist. In jüngster Zeit wendet sich die Politik gegen eine Gesetzgebung, die sich seit den 1920er Jahren auf das italienische Strafrecht aus Mussolinis Zeiten bezog und überhaupt nichts mit dem Islam zu tun hatte. Der Straferlaß bei Morden innerhalb der Familie paßte nämlich bestens in das mediterrane christliche Ehrverständnis und spiegelte die Regeln einer patriarchalischen Gesellschaft wider. Jahrelang kämpfte die starke türkische Frauenbewegung gegen diese Gesetze an, in der Vergangenheit konnte jedoch keine türkische Regierung eine Mehrheit für eine Änderung finden. Das hat sich nun geändert. Sicherlich spielte die EU eine große Rolle bei der im Jahr 2004 erfolgten Verabschiedung eines umfassenden Reformpakets, das erstmalig Strafmilderungen für 'Ehrenmorde' abschafft und Gewalt in der Ehe strafbar macht. Das spricht jedoch für den EU-Beitritt, nicht gegen ihn.

Warum haben dann gerade jene politischen Kräfte, die eine Unterstützung des Reformprozesses in Osteuropa durch die EU gutheißen, ein Problem mit der Unterstützung des türkischen Reformprozesses? Es muß wohl an Allah liegen, der in der blühenden Phantasie vieler Europäer noch einige Zeit am Bosporus spuken wird.

Sabine Küper-Büsch ist freie Journalistin und Filmemacherin. Sie lebt in Istanbul.
Der Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift informationszentrum 3. welt (iz3w), Nr. 284.

Zur normalen Fassung


https://sopos.org/aufsaetze/426315a4c9f50/1.phtml

sopos 4/2005