Selten wurde im Europäischen Parlament und im Bundestag so viel geheuchelt wie in der Debatte über die Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit der Türkei. CDU und CSU, die nie Probleme damit hatten, mit einer türkischen Militärdiktatur herzlich zusammenzuarbeiten, und denen das Schicksal von Kurdinnen und Kurden nicht der Rede, geschweige denn des politischen Asyls wert war, mahnen jetzt die Menschenrechte an, die in der Türkei nicht weit genug entwickelt seien. Deshalb könne nicht über einen EU-Beitritt, sondern nur über eine "privilegierte Partnerschaft" geredet werden. Mit dieser Scheinargumentation kann die Union aber nicht verdecken, daß es ihr vor allem darum geht, nationalistische und rassistische Stimmungen auf die eigenen Mühlen zu leiten.
Aber auch Sozialdemokraten und Grünen geht es -- entgegen aller Verlautbarungen -- nicht um Menschenrechte. Der französische Sozialdemokrat Michel Rocard brachte es im Auswärtigen Ausschuß des Europaparlaments auf den Punkt: "Lassen Sie uns nicht so viel von Menschenrechten reden, lassen Sie uns über das reden, um was es geht: Um Geopolitik." Und EU-Superkommissar Günter Verheugen (SPD) ließ es an Deutlichkeit nicht fehlen: "Der Beitritt der Türkei würde Europa -- ob Europa das will oder nicht -- zu einem weltpolitischen Akteur ersten Ranges machen. Wir müßten bis dahin in der Tat in der Lage sein, eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu entwickeln, die diesen Namen auch verdient."
Geopolitik, nicht Menschenrechte sind also für die EU das Gebot der Stunde. In einem zur "Verplausibilisierung" des EU-Beitritts der Türkei gefertigten Arbeitspapier der EU-Kommission heißt es: "Die Türkei ist ein strategisch wichtiges Land. (...) Der Beitritt der Türkei würde der EU helfen, die Energieversorgungsrouten besser zu sichern. (...) Im Hinblick auf Zentralasien könnte die Türkei den politischen Einfluß der EU in dieser Region kanalisieren helfen." Die Rede ist auch von militärpolitischen Optionen: "Dank ihrer hohen Militärausgaben und ihres großen Streitkräftekontingents ist die Türkei in der Lage, einen bedeutenden Beitrag zur Sicherheit und Verteidigung der EU zu leisten." Diese militärstrategische und geopolitische Interessenlage der EU scheint letztlich hinter den hehren Worten "die Werte der Europäischen Union sind universell und beruhen auf den Errungenschaften der Aufklärung" zu stecken, mit denen salbungsvoll die eigene Bestimmung im Hinblick auf künftige Erweiterungen beschworen wird.
Bei Demokratie und Menschenrechten in der Türkei dagegen geht es weniger ruhmreich zu. Einige Beispiele zur aktuellen Situation: Nach Angaben von amnesty international wird in der Türkei in ähnlichen schlimmen Ausmaßen wie zuvor weiter gefoltert, nur anders. Die Pressefreiheit wird permanent verletzt, mißliebige Zeitungen werden mit Prozessen überzogen. Kriegsdienstverweigerer werden nach wie vor hart bestraft. Die Lage in den kurdischen Gebieten bleibt angespannt, Menschenrechtsverletzungen sind an der Tagesordnung. Wer über den Völkermord an den Armeniern spricht oder schreibt oder die türkische Besetzung im Norden Zyperns kritisiert, dem drohen weiterhin Anklage und jahrelange Haft.
Nach ihrer bisherigen Vorgehensweise zu urteilen, kann man sicher sein, daß es den EU-Staats- und Regierungschefs um eines nicht geht: Um die Situation der Menschen in der Türkei. Hingegen wird während der Beitrittsverhandlungen ab Oktober 2005 alles versucht werden, die menschenrechtliche Lage schön zu reden. Damit die EU ungehinderten Zugang zu einem "Markt mit siebzig Millionen Konsumenten" erhält, wie Rocard anläßlich der Abschlußdebatte zum EU-Beitritt der Türkei im Europäischen Parlament betonte.
Tobias Pflüger ist Mitglied des Europäischen Parlamentes.