Brief aus Moskau

Sergej Guk

Dietrich Kittners Politiker-Zitate ( Ossietzky 6/05) animieren mich, einen russischen Cicero vorzustellen: Ex-Ministerpräsident Viktor Tschernomyrdin, heute Botschafter in Kiew. In unserer Öffentlichkeit gilt er seit langem als unübertroffener Sprachkünstler. Beiliegend sende ich einige seiner Perlen nach Berlin:

»Wenn wir begreifen, daß man arbeiten soll, dann, glaube ich, wird kein nennenswerter Schaden entstehen, und wir verlieren nicht viel.« Niemand wird es wagen, einer solchen Weisheit zu widersprechen.

»Wer sagt, die Regierung sitze auf dem Geldsack? Wir sind richtige Kerle und wissen, worauf wir sitzen.« Da verstummt jede Opposition.

Ohne falsche Bescheidenheit urteilt Tschernomyrdin über seine Sprachbegabung: »Ich kann jede Sprache mit jedem sprechen. Aber ich gebe mir Mühe, von diesem Instrument selten Gebrauch zu machen« – was zu bedauern ist, wenn man bedenkt, was dadurch der Schatzkammer der Sprachkunststücke entgeht.

Neuerdings wirkt der Meisterformulierer, wenn er vor die Medien tritt, resigniert und selbstkritisch. Zu den jüngsten Ereignissen in der Ukraine sagte er lediglich: »Ich werde besser nichts sagen. Sonst sage ich schon wieder was.«

Wie schade. In unserem tristen Alltag ist Heiterkeit längst zur Rarität geworden.

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Das Sprengstoffattentat auf Anatolij Tschubajs, den berüchtigten Chef des Elektrizitätskonzerns, hat die Öffentlichkeit einige Tage beschäftigt. Böse Zungen redeten von einer Inszenierung: Die Explosionswelle schlug nicht gegen seine gepanzerte Limousine, sondern in die Gegenrichtung – ein Wunder, wenn man berücksichtigt, daß laut Polizei ein professioneller Sprengpionier, ein Oberst der Reserve, den Anschlag verübt hat. Noch dazu soll er unverständlicherweise für die Zündung der selbstgebastelten Bombe eine schwere Autobatterie durch den Wald geschleppt haben, obwohl für diesen Zweck ein gewöhnliches kleines Elektroelement gereicht hätte. Nachdem in Rußland seit dem Ausbruch der Demokratie kein einziges Attentat, kein einziger Mord auf Bestellung vollständig aufgeklärt worden sind, ist es erst recht ein Wunder, daß die Sicherheitskräfte schon nach wenigen Stunden den Tatverdächtigen präsentierten.

Dem glücklich Geretteten haben seine Gesinnungsfreunde, unter ihnen Ex-Präsident Jelzin, sofort telefonisch oder telegrafisch gratuliert. Viele Zeitungen dagegen nahmen den Vorfall als Vorwand zu unzähligen Witzen, die vor allem zeigen, wie verhaßt Tschubajs ist. Der Duma-Abgeordnete Rogosin verstieg sich gar zu der Bemerkung, wenn seine Anhänger den Anschlag vorbereitet hätten, hätten sie das Ziel garantiert nicht verfehlt. Journalisten traten ihm mit dem Argument entgegen, solche Buhmänner der Nation wie Tschubajs, der als Verursacher des Massenelends in Rußland gilt, seien im Prinzip nicht umzubringen: Es gebe zu viele Freiwillige, die einander schubsen, zurückstoßen und stören würden – unter dem Geschrei: »Laß mich ran!«

Der »Held des Tages« hat nach dem Attentat die Öffentlichkeit auf seine Weise beruhigt: Er werde nunmehr mit doppelter Energie die Reform der Stromwirtschaft vorantreiben und zu Ende bringen. Nach diesen Worten bekam das Publikum Schüttelfrost. Denn jede Etappe seiner Reform bedeutet eine Erhöhung der Stromtarife, der jedesmal eine Preisspirale folgt – so sicher wie der Sonnenuntergang im Westen.

Erschienen in Ossietzky 7/2005