Wirtschaftskriminalität

Sergej Guk

Im vergangenen Jahr hat der russische Fiskus durch Wirtschaftskriminalität rund 275 Milliarden Rubel eingebüßt, wie Innenminister Raschid Nurgalijew bekanntgab. Er präzisierte nicht, wer aus den Verbrechen Nutzen zog. Doch auch ohne ihn gewinnen wir durch Medienberichte eine Vorstellung oder zumindest Ahnung davon. Zum Beispiel war zu lesen, daß in die Wohnung eines Ministers eingebrochen wurde. Die Täter ließen 30 000 Dollar, weißgoldene Uhren der Edelmarken Patek Philippe und Cartier und andere Wertsachen mitgehen. Das Monatsgehalt des Ministers beträgt etwa 25 000 Rubel, das sind umgerechnet weniger als 800 Dollar. Solche Raubüberfälle haben also auch ihr Gutes: Indem die bedauernswerten Opfer der Polizei mitteilen, was ihnen abhanden gekommen ist, geben sie Hinweise auf das wahre Ausmaß ihrer Einkünfte. Der als gestohlen gemeldete Handkoffer eines Duma-Abgeordneten enthielt unter anderem eine Cartier-Uhr, 5000 Dollar, drei Kreditkarten US-amerikanischer Unternehmen und Zulassungen für drei Autos westeuropäischer Marken. So konnten dank der Medien die Wähler wieder einmal erfahren, wie es ihren Günstlingen geht.

Gegenwärtig macht vor allem der Minister für Gesundheit und Soziales, Michail Surabow, von sich reden. Er hat einigen von ihm protegierten Pharmafirmen dazu verholfen, die Lieferung der Arzneimittel, die zu Vorzugspreisen an sozial Schwache abgegeben werden, zu monopolisieren. Alles lief wie geschmiert – mit dem Ergebnis, daß die verbilligten Medikamente schließlich um 40 bis 60 Prozent teurer waren als die für die normalen Verbraucher. Die Gauner konnten sich einen Gewinn von mehr als 18 Milliarden Rubel ausrechnen. Noch im Sommer vorigen Jahres hatte Surabow versichert: Wenn sich im Laufe der Reform die Arzneimittelversorgung verschlechtere, werde er sofort zurücktreten. Mit solchen Versprechungen gehen unsere Politiker freigiebig um. Präsident ­Jelzin zum Beispiel hatte zu Beginn seiner Amtszeit angekündigt, er werde sich quer auf die Schienen legen, wenn der Lebensstandard der Bevölkerung abrutsche. Ein anderer (den Namen habe ich leider vergessen) erklärte sich bereit, seine Hand abhacken zu lassen. Viel besser wäre es, wenn solche Typen sich ihre Zungen amputieren ließen.

Parallel zur Arzneimittelaffäre erlebten wir eine andere Geschichte. Minister Surabows Gemahlin wurde vom Gericht vorgeladen. Die Staatsanwaltschaft warf ihr vor, daß sie 6,4 Hektar Land in einem Wasserschutzgebiet bei Moskau zu erstaunlichen Bedingungen erworben habe: Statt des Marktpreises zwischen 4000 und 5000 Dollar pro 100 Quadratmeter habe sie nur 70 Dollar zahlen müssen. Die Pressestelle des Ministers dementierte im Namen ihres Chefs: Die Surabows hätten niemals ein Grundstück besessen. Doch das Gericht entschied in Bezug auf das nicht existierende Grundstück, das Geschäft für nichtig zu erklären. Ein Triumph der Gerechtigkeit? Vorsicht vor übereilten Schlüssen. Es dauerte nur ein paar Wochen, bis sich ein anderes Gericht mit dem Fall befaßte und ein neuer Staatsanwalt die Klage zurückzog. Das Ehepaar Surabow ist nun wieder im Besitz des nicht existierenden Grundstücks.

Erschienen in Ossietzky 6/2005