Nackter Mann in Neuenhagen

Lothar Kusche

Vor vielen Jahren wohnte ich während der Sommermonate in Neuenhagen bei Berlin, einer weit ausgedehnten, grünflächigen, sehr ruhigen und, wie es schien, äußerst friedlichen Siedlung am östlichen Rand der großen Stadt. Ich hauste zunächst in einer Gartenlaube, die meinen Gästen besonders sympathisch war. Flüchtige Besucher neigen dazu, alles, was etwas windschief ist, als romantisch zu empfinden, weil sie tagsüber nicht merken, daß Petroleumlampen nur geringe Helligkeit spenden, aber beträchtlich stinken. Später bezog ich ein steinernes, elektrifiziertes Häuschen, umgeben von schönen alten Buchen und vielen kleinen Feldmäuschen, die auf benachbarten Äckern dafür sorgten, daß die Saat nur teilweise aufging. Im Winter nährte sich das Mausevölkchen vom Hundekuchen, welcher für unseren Boxer Jonas im Schuppen lagerte. Der Boxer Jonas hat mir übrigens, wenn auch nur kurzzeitig, bei den benachbarten Hühnerzüchtern einen gewissen Respekt verschafft, indem er einen hühnerfeindlichen Steinmarder erlegte. Nun wußten die Mitbürger Bescheid über meinen sozialen Nutzen für die Allgemeinheit. Vorher hatte ich Fragen nach meiner Tätigkeit nur beantwortet: Ich lese und schreib'n bißchen. Etwas lesen und schreiben konnten alle Neuenhagener von sechs Jahren an, das war nichts Besonderes; Marderjäger mußte man sein.

Oder wenigstens mit einem solchen Häuschen und Garten teilen.

Später ging ich noch manchmal in dem stillen Ort spazieren, um alten Freunden Guten Tag zu sagen oder die Kleinbahn-Haltestelle Neuenhagen Dorf und das Rathaus mit seinem weithin sichtbaren Turm anzuschauen, in dem sich ein Wasser-Reservoir befindet (drei Etagen Verwaltung, sieben Etagen Wasserkopp, scherzten respektlose Besucher der Gaststätte im Souterrain des Baudenkmals).

»Was Neues im Ort?« Darauf sagte Heinz: »Hier passiert nischt.« Gelegentlich geschah aber doch was. Eines Tages war der neue Bürgermeister über Nacht spurlos verschwunden. Man hatte ihn aus dem Westen importiert, und er wollte hier vielleicht eine große Karriere machen, was aber in Neuenhagen schwierig ist. Er nahm, soweit ich mich erinnere, auch nichts mit, ausgenommen vielleicht die Portokasse. »In Neuenhagen ist nischt zu holen.« Also kam ein längst bewährter Mann ins Rathaus, der sich dort und in der Siedlung gut auskennt, was für einen Bürgermeister wichtig sein dürfte. Und im vorigen Jahr... Die Zeitung meldet: »Nackter Mann auf dem Dorfplatz . – Die Polizei ist am Montag in Neuenhagen (Märkisch-Oderland) zu einem nackten Mann gerufen worden. Der 56jährige hatte sich auf dem Platz der Republik (Dorf und Republik scheinen dort identisch zu sein; L.K. ) ausgezogen und versucht, Damenunterwäsche anzuziehen. Die Beamten nahmen den betrunkenen Mann mit. Hatte er die Wäsche von einer Wäscheleine gestohlen? Nach Mitteilung der Polizei hatte der Mann die Wäsche zuvor (zuvor – aha!) in einem Geschäft gekauft. Nach seiner Ausnüchterung wurde er aus dem Polizeigewahrsam entlassen.«

Da geistern Fragen durch den Nebel überm Mühlenfließ. Wer hat die Polizei zu jenem nackten Mann gerufen? Warum? Weil der sich ausgezogen hatte? Oder weil er sich auf dem »Platz der Republik« ausgezogen hatte? Oder weil er versuchte, Damenwäsche anzuziehen? Oder weil er betrunken war? Oder weil er die Wäsche nicht gestohlen hatte? Oder weil er sie zuvor in einem Geschäft gekauft hatte? Oder weil er sich trotz seiner Trunkenheit an den Kauf erinnern und ihn beweisen konnte? Oder weil er ein Schwerenöter war? Wie wird man zu einem Schwerenöter, und woran erkennt man einen solchen? In Neuenhagen »passiert nischt«? Dort ereignen sich aber Kleinigkeiten, die zum Grübeln verführen.

Man kann die Polizei jederzeit zu einem Mann rufen, weil er nackt ist. Ist er das, kann ihn die Polizei ohne Verfahren in Polizeigewahrsam nehmen, ebenso weil er versucht, sich Damenunterwäsche anzuziehen, ebenso weil er in den Verdacht gerät, diese Wäsche gestohlen zu haben, gekauft zu haben und (demzufolge?) ein Schwerenöter zu sein. Ein hübscher Katalog. Herren im Alter von mehr als fünfzig Jahren werden ersucht, sich sehr vorsichtig zu verhalten sowie Wäscheleinen oder Geschäfte für Damenunterwäsche zu meiden und nie als Schwerenöter aufzutreten (auch nicht als Leichtnöter oder Nöter schlechthin). Es werden gewiß noch viel mehr Gründe gefunden werden, um sogenannte Mitbürger polizeilich zu verwahren.

Warten Sie nur ab.

Thomas Immanuel Steinberg, Kusche, Neuenhagen (05. Apr. 2005, 10:34)

Erschienen in Ossietzky 5/2005