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Auf den Fensterscheiben, vor denen sie auf Einlaß warten, steht in blauen Buchstaben: »Die Tafel«. * Die Ladenstraße verändert ihr Gesicht. Alteingesessene Fachgeschäfte schließen sang- und klanglos; an ihrer Stelle machen Ramschklitschen auf, die alles für einen Euro weggeben. Restposten aus Konkursauflösungen, Krimskrams, Plunder! Ein Friseur bietet seine Arbeitskraft zum Einheitspreis von zehn Euro pro Dienstleistung an – sechs Tage die Woche, von morgens um acht bis abends um acht. Erst stirbt die Binnenwirtschaft, dann die Kultur, dann die Kaufkultur. Und dann? * Ich treffe einen meiner früheren Lehrer. Seit etlichen Nächten bringt ihn sein Herzrasen um den Schlaf: »Wir werden von Idioten regiert. Sehen Sie sich die Leute in dieser Stadt doch an, denen steht das Elend in die Gesichter geschrieben! Hier wird es bald zur Getto-Bildung kommen, da bin ich sicher.« Seit anderthalb Jahren hat er keinen Fernsehapparat mehr – »da läuft doch nur noch Mist.« Er kann aber auch nicht mehr richtig lesen. Er ist depressiv, sagt, er habe sein Leben vertan. »Manchem hab' ich vielleicht mit Gesprächen geholfen. Aber sonst?« Er unterrichtet auch psychisch behinderte Jugendliche: »Was die Menschen einander antun! Diese Abgründe hätte ich nie erwartet, darauf bereitet einen niemand vor.« – »Die Medien nicht. Und die Schulen auch nicht,« ergänze ich. Mein Lehrer will, sobald er pensioniert ist, fortziehen, vielleicht auswandern. Zur Zeit laufe sein Philosophieunterricht ganz gut; es gehe um den Begriff der Seele bei den Vorsokratikern. Als er mir vom Lob seiner Schüler erzählt, strahlt er Begeisterung aus. Ich denke: Metaphysik als Alkoholersatz. Irgendwie muß sich jeder diese Welt schönsaufen. * Beim abendlichen Spaziergang durch die Stadt überrascht mich ein Regenguß; ich stelle mich unters lange Vordach eines Kaufhauses. Es ist dunkel und kalt. Regentropfen funkeln im Licht der Laternen, bevor sie auf den Steinplatten zerplatzen. Zehn Meter vor mir sitzt ein alter Mann an einem Plastiktisch, der zum hell erleuchteten Dönerladen nebenan gehört. Der Mann kaut müde auf einem Brötchen und trinkt etwas Dunkles aus einem Pappbecher, was Kaffee sein könnte. Der Regen wütet weiter, spritzt auf die Tischplatte. Dem Mann ist das offenbar egal. Als ich an ihm vorbeigehe, erkenne ich ihn. Er fegt hier jeden Tag den Dreck zusammen, den die Passanten gleichgültig fortwerfen. Ist dieses verregnete Abendmahl seine Bezahlung? * Mitschüler von einst veranstalten ein Jahrgangstreffen. Anlaß: einfach mal wieder zusammenkommen. Wissenschaftler, Lehrer, Psychologen, Zahnärzte, EDV-Spezialisten, Manager, Börsianer, Ehefrauen wohlhabender Männer. Für das Festmahl sind dreißig Euro pro Kopf angesetzt; davon müssen sich manche eine ganze Woche lang ernähren. Eine Rundführung durch die alte Schule wird angeboten. Irgendwann werden sie gefühlsselig von der schönen Zeit unter Helmut Kohl schwärmen, als »Modern Talking« aus den Lautsprechern dröhnte und sie noch irgendwelchen Idealen nachhingen. Ich ahne: Niemand wird so recht über den letzten Schultag sprechen wollen, als fünf Abiturienten heimlich bei Nacht in die Schule eingedrungen waren, um einen Feuerlöscher auf den Flur zu entleeren. Um die Wände mit Kot und antisemitischer Hetze vollzuschmieren. Ihr Reifezeugnis, das sie damit restlos entwerteten, erhielten sie trotzdem. Ich lese die Einladung zweimal, sehr genau. Das Treffen der Sieger muß ohne mich stattfinden. * Samstagmittag im Supermarkt, kurz vor Ladenschluß. An der Kasse sehe ich, daß ungewöhnlich viele Menschen im Eingangsbereich stehen. Ein Dutzend Leute, die augenscheinlich nichts kaufen wollen. Sie haben sich ein wenig herausgeputzt, beäugen einander mißtrauisch, warten auf irgendwas, viele mit vor der Brust verschränkten Armen. Die jüngsten sind Twens, die ältesten stehen kurz vor dem Rentenalter. Dann erscheint der gutgelaunte Filialleiter: »Seid Ihr alle als Inventurhelfer hier?« Die meisten nicken freudlos. Sie nehmen es hin, daß der Chef sie einfach duzt. Sie schlagen sich für ein paar Euros diesen Samstagnachmittag zwischen Supermarktregalen um die Ohren, damit sie ab Montag wieder etwas von dem kaufen können, was in den Regalen liegt. * Ein junger Mann im weißen Anorak steht am Altglascontainer. Er hat sich die Kapuze über den Kopf gezogen, bis an die Augenbrauen. Nervös schaut er sich um, dann steckt er einen Arm tief in die Einwurföffnung. In der Hand hält er einen metallenen Greifarm Marke Eigenbau. Mit ihm will er Pfandflaschen herausfischen, die beim Einwurf nicht zersprungen sind. Ich höre im Vorübergehen das helle Klirren der Scherben, die er mit seiner Greifhilfe durchwühlt. Zehn Minuten später fährt er auf einem Fahrrad mit großen Satteltaschen an mir vorbei. An der nächsten Kreuzung steigt er ab, inspiziert rasch den dortigen Altglasbehälter und steigt wieder auf. Zielstrebig setzt er seine Fahrradtour fort. Ich rechne: Wie viele Pfandflaschen ergeben ein Brot? * Ich habe den Kopf voller Scherben: Einige liegen auf diesem Papier. Wer mag, kann seine eigenen dazulegen.
Erschienen in Ossietzky 5/2005 |
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