Der Visa-Presseskandal

Ulla Jelpke

Unverständlich lange haben die Grünen den Visa-Untersuchungsausschuß des Bundestages nicht ernst genommen. Von einer Gegenstrategie gegen das Geschrei über einen »Schleuser-Skandal« war keine Spur zu erkennen. Offenbar glaubte die Partei, sich aus der Affäre ziehen zu können, indem sie den früheren Staatsminister im Auswärtigen Amt, Ludger Volmer, als »Bauernopfer« brachte. Nicht nachvollziehbar, warum Minister Joseph Fischer wochenlang abtauchte, bevor er endlich – offenbar wegen der bevorstehenden Landtagswahl in Schleswig-Holstein – Stellung bezog.

Das wäre zu sagen gewesen:

Ein weltoffenes Land, wie es die Bundesrepublik Deutschland gern zu sein vorgibt, braucht großzügige Visa-Regeln. Das sollte schon aus humanitären Gründen selbstverständlich sein. Wer sich aber mit diesem Argument nicht anfreunden mag, sollte immerhin einsehen, daß die BRD vielfältige wirtschaftliche, kulturelle, wissenschaftliche Verbindungen in alle Welt hat und darauf mehr und mehr angewiesen ist. Daher sind es mitnichten nur Multi-Kulti-Befürworter, die eine großzügige Visa-Vergabe fordern. Auch konservative CDU- und CSU-Politiker haben häufig beim Auswärtigen Amt interveniert, damit einzelne von ihnen gewünschte Visa erteilt wurden.

Der Volmer-Erlaß war also, wie Die Zeit vor einigen Wochen schrieb, »prinzipiell einleuchtend«: Im Zweifel für die Reisefreiheit – das sei im März 2000 eine richtige Absicht gewesen. Aus nachvollziehbaren Gründen habe das Auswärtige Amt angesichts riesiger Warteschlangen eine raschere Abfertigung angestrebt und zu diesem Zweck die Konsulate angewiesen, eine Reiseversicherung des Allgemeinen Deutschen Automobil Clubs (»Carnet de Touriste«) zu akzeptieren, um das Visum-Verfahren zu erleichtern.

Selbst wenn in der deutschen Botschaft in Kiew Fehler gemacht wurden, selbst wenn die neuen Bestimmungen mißbraucht wurden, wäre das kein Grund für Skandal-Geschrei. Denn längst hat das Auswärtige Amt dem Bundestag Bericht erstattet, längst sind die Bestimmungen wieder verschärft worden, längst müssen Ausländer – auch in völlig klaren Fällen – wieder lange darum kämpfen, in angemessener Frist ein Besuchervisum zu erhalten. Die Maschinerie der Abschottung läuft auf vollen Touren.

Ein »Skandal« wurde aus alledem erst dadurch, daß nahezu die gesamte deutsche Presse wochenlang – ohne echte Neuigkeiten – das Thema in einer Weise ausbreitete, als wäre sie von der Pressestelle des Konrad-Adenauer-Hauses gleichgeschaltet. Bis in die Wortwahl hinein glichen die seitenlangen Ergüsse in Spiegel , Süddeutscher Zeitung bis hin zur Zeit (die dann freilich eine Kehrtwende machte) dem, was die CDU/CSU mit Unterstützung der Springer-Presse intoniert hatte. »Die Schleusen geöffnet« titelte der Spiegel. Das erinnerte – gewiß nicht unbeabsichtigt – an die Art und Weise, wie Anfang der 1990er Jahre die Asyldebatte geführt worden war: mit Angstmache vor einer »Asylantenschwemme«, vor »Überschwemmung« und »Überflutung«. Ganz in diesem Sinne schrieb nun auch Die Zeit von einer »Flutwelle von Anträgen«. Und: Es werde »hemmungslos verharmlost«.

Hemmungslos ist in Wahrheit die Sprache, die mittlerweile allseits benutzt wird. Vom »Schleuser-Skandal« spricht Der Spiegel , der hauptsächlich ukrainische Schlepper zum Feindbild macht. Kaum jemand bemüht sich um Präzision, wozu die schlichte Feststellung gehören würde: Jeder, der ein Visum erhalten hat, ist legal eingereist. Er ist nicht »eingeschleppt« oder »eingeschleust« worden. Erst wer nicht nach Ablauf des Visums zurückgekehrt ist oder beispielsweise entgegen dem angegebenen Aufenthaltszweck mit Besuchervisum schwarz gearbeitet hat, hat sich regelwidrig verhalten. Wie vielen das vorzuwerfen ist, weiß niemand genau. Sicher ist, daß Hunderttausende in die Ukraine zurückgekehrt sind (einige vielleicht mit Empfehlungen für eine Revolution in Orange).

Der eigentliche Skandal liegt in der Ausbeutung von Schwarzarbeitern. Die Ausbeuter haben allerdings nie ein Visum gebraucht, sie leben mitten unter uns. Aber dieser Skandal wird den Untersuchungsausschuß des Bundestags wohl nicht interessieren.

Erschienen in Ossietzky 4/2005