Verleugnete Geschichte

Ulrich Sander

Einmal in den letzten Monaten fand der angeklagte Milosevic doch ein Echo in den deutschen Medien: als er darauf hinwies, daß die Bundesrepublik Deutschland schon lange das Ziel verfolgt habe, den Bundesstaat Jugoslawien zu zerschlagen. Deutsche Kommentatoren mokierten sich über die »Schutzbehauptung«, als hätte der ehemalige jugoslawische Präsident seine Darstellung erfunden.

Ich erinnere mich an ein »Fürstenfeldbrucker Symposium für Führungskräfte aus Bundeswehr und Wirtschaft«, das im September 1991 stattfand. Bundesverteidigungsminister a.D. Rupert Scholz rief dort offen zum Verfassungsbruch auf, indem er alles andere als Verteidigungseinsätze – nur sie waren und sind durch das Grundgesetz gedeckt – von der Bundeswehr einforderte: Nach der Überwindung der wesentlichen Folgen des Zweiten Weltkrieges sei nun die Zeit gekommen, auch die Ergebnisse des Ersten Weltkrieges zu überwinden. Die Redaktionen, denen ich meinen Bericht über das Symposium sandte, ließen diese These des CDU-Politikers und späteren Vorsitzenden des Verfassungsrates von Bundestag und Bundesrat unveröffentlicht – sie kam ihnen wohl unwahrscheinlich vor, und ich konnte mich nur auf meine Notizen als Zuhörer berufen. Erst zwei Jahre später gelangte ich an das inzwischen vom Bildungswerk der Bayerischen Wirtschaft gedruckte Tagungsprotokoll.

Die Hauptaussagen der Fürstenfeldbrucker Tagung waren alarmierend. Militärs und Manager sagten den Politikern, wo es lang gehen soll. Ihr Vordenker war Scholz. Er führte aus, »daß der Jugoslawienkonflikt unbestreitbar fundamentale gesamteuropäische Bedeutung hat. Wir glauben, daß wir die wichtigsten Folgen des Zweiten Weltkrieges überwunden und bewältigt hätten. Aber in anderen Bereichen sind wir heute damit befaßt, noch die Folgen des Ersten Weltkrieges zu bewältigen. Jugoslawien ist als eine Folge des Ersten Weltkrieges eine sehr künstliche, mit dem Selbstbestimmungsrecht nie vereinbar gewesene Konstruktion.« Das bedeute, »daß Kroatien und Slowenien völkerrechtlich unmittelbar anerkannt werden müssen. Wenn eine solche Anerkennung erfolgt ist, dann handelt es sich im Jugoslawienkonflikt nicht mehr um ein innenpolitisches Problem Jugoslawiens, in das international nicht interveniert werden dürfe.« Auch für Teile von Staaten gelte das Selbstbestimmungsrecht, »wozu auch Sezession« gehöre.

Was in Fürstenfeldbruck intern ausgesprochen wurde, hat Rupert Scholz wenige Tage später laut Frankfurter Rundschau (5. Oktober 1991) vor 300 CDU-Anhängern beim »Deutschlandforum« im Frankfurter Haus Dornbusch wiederholt, wo er über »Deutschlands neue Rolle in der Welt« sprach und verlangte: »Deutschland muß aus der Nische heraus.« Und »keine Verschweizerung der Bundesrepublik!« Für die Bundeswehr »genügt es künftig nicht mehr, die Grenzen Deutschlands und Westeuropas zu verteidigen!« Denn »wir stehen vor Nord-Süd-Konflikten«. Skrupel, daß das Grundgesetz Militäreinsätze außerhalb der NATO verbiete, seien »grundweg falsch.« Die Frankfurter Rundschau damals: »Der Jurist fordert die sofortige Anerkennung Sloweniens und Kroatiens als unabhängige Staaten – damit deutsche Soldaten dort ›gegen die Aggression Serbiens intervenieren können.‹« Heute scheint das längst vergessen – auch in der Frankfurter Rundschau , die sich über Milosevics »Schutzbehauptung« mokierte.

Erschienen in Ossietzky 4/2005