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Da sollte man annehmen, daß die Gesellschaft mit den wenigen Kindern, die geboren werden, um so pfleglicher umgeht. Aber im Gegenteil: Mehr und mehr Kinder wachsen in Armut hinein und vergrößern durch ihr Dasein das Verarmungsrisiko der Mutter, des Vaters, der Geschwister. Daher sind viele Kinder unerwünscht. Trotzdem geborene bekommen es zu spüren. Jedes dritte Kind in Berlin ist nach amtlichen Kriterien arm. Hartz IV sorgt dafür, daß diese Quote rasch steigt. Und im selben Zeitraum, in dem sich die Zahl der armen Kinder in der deutschen Hauptstadt verdoppelt hat, haben die verantwortlichen Berliner Politiker (ich kann auch hinzufügen: Politikerinnen) die Hilfen für arme Kinder halbiert. Wir erfahren das von dem Sozialpädagogen Daniel Emeringer in einer von der Ossietzky -Redaktion gemeinsam mit der Humanistischen Union und der Internationalen Liga für Menschenrechte veranstalteten »Republikanischen Vesper« im Haus der Demokratie und Menschenrechte. Emeringer leitet ein noch nicht (wie viele andere) geschlossenes, aber (wie allmählich fast alle) von Schließung bedrohtes Hilfsprojekt im Stadtbezirk Neukölln, die psychosoziale Praxis »Kompaß«. Ein anderes Projekt hat viel von sich reden gemacht und kann sich deswegen zu 95 Prozent aus Spenden finanzieren, die »Arche« im Stadtbezirk Hellersdorf, eine freikirchliche Gründung. Von wem kommen die Spenden? »Von Menschen wie du und ich«, sagt »Arche«-Mitarbeiter Kai-Uwe Lindloff. Nein, nicht von Reichen. Die geben nichts. In die »Arche«, die demnächst im Stadtbezirk Friedrichshain eine Filiale eröffnet, kommen immer mehr hungernde Kinder zum Mittagessen und werden bei den Hausarbeiten betreut. Die Armut, wie die 25 MitarbeiterInnen sie erleben, ist alles andere als romantisch: Die Kinder haben Läuse. Sie stinken. Manche stehlen. Und lernen früh, auf den Strich zu gehen. Eine in Berlin bekannte alte Sozialdemokratin, die ich vor der Vesper ansprach, sagte: »Kinderarmut? Ist doch nur ein modisches Schlagwort. Überall sehe ich Kinder mit Handies.« Ja, jeder Mensch braucht ein Handy, mit Allgewalt prägt die Reklame das den Kindern ein, und wenn sie keins geschenkt bekommen, müssen sie es stibitzen – in der Schule, auf der Straße, in der »Arche«. Die Ärztin Renate Rzesnitzek berichtet über die Leiden armer Kinder: Die meisten sind nicht dünn, im Gegenteil, Armeleutekost macht übermäßig dick. Es fehlt an Zahnpflege. Es fehlt an Medikamenten, weil man sich die Zuzahlung nicht leisten kann. Es fehlt an Bewegung. Stunden über Stunden sitzen die Kinder vor dem Fernseher, der sie dumm macht. In der Schule haben sie wachsende Mühe, dem Unterricht zu folgen, denn da wird meist nicht mehr gefördert, nur gefordert – weil der Exportweltmeister Deutschland an Lehrern spart (erst recht an Schulkrankenschwestern, Schulpsychologen, Schulbibliotheken, all dem Luxus, den sich der PISA-Sieger Finnland leistet, der sein Bildungswesen dem der DDR nachgebildet hat). Die Lernmittelfreiheit wird abgeschafft. »Das Selbstwertgefühl geht verloren«, sagt Sabine Walther, die Geschäftsführerin des Deutschen Kinderschutzbundes in Berlin. Und: »Viele Menschen geben sich auf.« Gemeint sind sowohl Eltern, die oft gerade deswegen, weil sie Kinder haben, arbeitslos, perspektivlos, orientierungslos geworden sind, als auch die Kinder, die bei Klassenfahrten aus Geldmangel zu Hause bleiben müssen oder, weil sie kein Geschenk machen können, Einladungen zu Geburtstagsfeiern ablehnen. Noch einmal Renate Rzesnitzek, die Ärztin: »Die armen Kinder von heute sind die chronisch Kranken von morgen.« Ich frage mich, ob all das nicht bedeutet, daß die ganze Gesellschaft sich aufgibt. Ich spüre Wut in mir hochsteigen gegen Politiker (pardon, Frau Gesundheitsschmidt und Frau Familienschmidt: auch Politikerinnen), die für den Abbau der verfassungsrechtlich gebotenen Sozialstaatlichkeit »die Demographie« verantwortlich machen – als gäbe es zu viele Alte und als wäre dies die schwere Last, unter der die Jungen leiden. Eine Gesellschaft, die Gesundheit und geistige Fähigkeiten ihrer Jugend verkommen läßt, eine Gesellschaft, die zuläßt, daß zigtausende Schulabgänger keine Ausbildung erhalten, weil Kanzler Schröder und Superminister Clement die Unternehmer nicht zum Ausbilden zwingen wollen, eine Gesellschaft, die ihren vorsitzenden »Wirtschaftsweisen« ernsthaft propagieren läßt, die Alten müßten länger arbeiten, während Junge arbeitslos bleiben und sich Fachkräftemangel schon für die baldige Zukunft andeutet, eine Gesellschaft, in der jetzt Studiengebühren eingeführt werden sollen, damit höhere Bildung wieder zum Privileg der Reichen wird – eine solche Gesellschaft ruiniert sich selber. Wen kümmert's? Die Konzerne werden sich ihr Personal immer irgendwoher zu holen wissen. Und die Aktionäre denken nicht über die nächsten Jahre hinaus, sie verlangen kurzfristige Rendite. Und die Armen? Sie können sich, je schwächer sie werden, desto schlechter wehren – vor allem wenn die Gewerkschaften sie im Stich lassen (denen es wenig auszumachen scheint, daß ihre Mitgliederzahlen in zehn Jahren um ein Drittel gesunken sind, für die Vorstände reichen die Einnahmen noch lange). Keine Chance? Doch. Wir haben sie in Ossietzky schon wiederholt benannt: die dem Produktivitätsfortschritt entsprechende Senkung der Wochenarbeitszeit auf 28 Stunden an vier Tagen. Dann könnten alle Arbeitsfähigen arbeiten, mit ihren Konsum-Ausgaben Industrie und Handel in Schwung halten und auch die erforderlichen Beiträge in die Versorgungskassen einzahlen. Denn die Massenarbeitslosigkeit – so groß wie am Ende der Weimarer Republik – ist das Grundproblem aller Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik. Um es zu lösen, bräuchten wir freilich Gewerkschaften, die um Tarifverträge kämpfen, statt sie preiszugeben. Und damit wir solche Gewerkschaften bekommen, müßten viele einzelne Gewerkschafter lernen, unaufgefordert den Mund aufzumachen, nicht um sich mit Propagandabrei a la Rürup abfüttern zu lassen, sondern um die existenziellen Interessen der Armen und von Verarmung Bedrohten geltend zu machen – denen sich sonst die NPD als Wortführerin aufdrängt. Wenn die Gesellschaft, in der wir leben, in dieser Auseinandersetzung ein bißchen weniger kapitalistisch und ein kleines bißchen sozialistisch würde, wäre mir das nicht unrecht – auch auf die Gefahr hin, daß Deutschland dann für George W. Bush zum Schurkenstaat würde. Nähere Auskünfte: Deutscher Kinderschutzbund Berlin e.V., Malplaquetstraße 38, 13347 Berlin. Über Kinderarmut informiert auch das soeben erschienene Buch von Christoph Butterwegge: »Kinderarmut in Ost- und Westdeutschland«, Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden .
Erschienen in Ossietzky 3/2005 |
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