Zur normalen Fassung

Tour de la Lutte des Classes

Marxistische Theorien über Klassen und ihre Kämpfe

von Gerhard Hanloser

Karl Marx gilt als Theoretiker des Klassenkampfes, obwohl er in seinem Hauptwerk Das Kapital. Zur Kritik der politischen Ökonomie nichts Explizites über die Klasse geschrieben hat. Er starb, bevor er die geplanten entscheidenden Abschnitte zur Klasse und zur Lohnarbeit fertig stellen konnte. Doch auch aus der von ihm gewählten Darstellungsweise im Kapital ließe sich rekonstruieren, daß das Kapitalverhältnis und sein zentraler Vergesellschaftungsmodus, der Wert, ohne die Existenz einer ausgebeuteten Klasse nicht zu verstehen ist. Marx weist nach, daß Ware sich nicht ohne Geld erklären läßt, Geld jedoch im Kapitalismus in der Form des sich vermehrenden Geldes, als Kapital, existiert.

Kapital seinerseits ist ein soziales Verhältnis, das zwischen Klassen besteht, wie Marx im zweiten Band des Kapitals hervorhebt. Es ist nicht das Geld, sondern das "Klassenverhältnis", das die bloße Geldfunktion in eine Kapitalfunktion verwandelt. Daß Ausbeutung in den Formen von Freiheit, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit verläuft, läßt sich nur dadurch erklären, daß eine spezifische Klasse (die Arbeiter) aufgrund ihrer Mittel- und Subsistenzlosigkeit gezwungen ist, die Orte der Ausbeutung zum Zwecke des Gelderwerbs aufzusuchen, um am Reichtum der Gesellschaft teilhaben zu können.

Das Kapital ist nicht nur ein abstrakt-theoretisches Buch, sondern lebt auch von dem reichhaltigen historischen Material, in dem der Klassenkampf immer wieder aufblitzt. Marx beschreibt im ersten Band den Kampf um den Normalarbeitstag. Aufgrund des unstillbaren Hungers des Kapitals nach unbeschränkter Vernutzung lebendiger Arbeit warnten die Fabrikinspektoren seinerzeit, der "Klassenantagonismus sei zu einer unglaublichen Höhe gespannt". Um diesen nicht zum Explodieren zu bringen und um kein vollständiges Auspowern der lebendigen Arbeit zu bewirken, müßten Staat und Gesetz einschreiten und als scheinbar über den Klassen schwebender, austarierender "ideeller Gesamtkapitalist" wirken. Bissig bemerkte Marx, daß den Arbeitstag beschränkende Gesetze erlassen werden, "um dann diese Tatsache für den besten Ausdruck der proletarischen Herzenswünsche zu erklären". Tatsächlich transportierte der gewaltige Kampf um den Acht-Stunden-Tag Ende des 19. Jahrhunderts in den USA auch weitreichende Forderungen. Die anarchistischen und Handwerker-kommunistischen Teile der Arbeiterbewegung wollten das Lohnsystem allgemein abschaffen - durchaus im Sinne von Marx. Nach dem ungeklärten Haymarket-Massaker am 4. Mai 1886 wurde diese Klassenbewegung blutig unterdrückt. Noch heute wird in verschiedenen Ländern am 1. Mai an dieses Ereignis erinnert, auf das der "internationale Kampftag der Arbeiterklasse" zurückgeht.

Klasse subjektiv

Darauf, daß Klassenkampf nie nur eine bloß ökonomische Größe sein kann, haben besonders die englischen Sozialhistoriker wie Eric Hobsbawm und Edward P. Thompson hingewiesen. Dem Klassenbegriff der Marxorthodoxie, die stets die "Klasse an sich" mittels der Partei zur "Klasse für sich" erziehen wollte, hielt Thompson entgegen, daß "Klassenkampf sowohl der vorgängige als auch der universellere Begriff" sei. Klasse konstituiere sich demnach als Ereignis im Kampf selbst. Darüber hinaus ging es Thompson nicht um eine soziologische Untersuchung und Kategorisierung der Klasse in einzelne Schichten. In seiner bahnbrechenden Untersuchung The Making of the English Working Class von 1963 kommt zum Ausdruck, daß schon die Food Rioters des 18. Jahrhunderts als Teil der englischen Klassengeschichte zu begreifen sind.

Die subjektiven Beweggründe der englischen Unterklasse, zu kämpfen und sich als Klasse zu konstituieren, sah Thompson in einer moral economy vorliegen, einem Set von Gerechtigkeitsvorstellungen. Diese reflektieren auf Lebensbedingungen, die von der sich ausbreitenden Ökonomie des freien Marktes unterlaufen wurde. Thompson attackierte damit die Annahme gewerkschaftlicher oder orthodox-marxistischer Historiker und Theoretiker, wonach die Menschen vor ihrer gewerkschaftlichen Organisierung bloß 'instinktiv' reagierten. Dem setzte er die Untersuchung der sittlichen Wurzeln der Selbstkonstitution der Arbeiterklasse entgegen. Thompson ging es vor allem darum, Klasse als Ereignis darzustellen, und deshalb war sie für ihn immer mit Klassenkampf verbunden.

Die daran anknüpfende kulturhistorische Thompson-Schule der 1980er Jahre verschleierte diesen Klassenbegriff oftmals durch ihren Kulturalismus. Sie verharmloste den Klassenkampf zu einem sozialen Protest, dem es vorrangig um kulturelle oder symbolische Formen der Anerkennung ginge. Oft wurde die Konzeption der moral economy für die Beschreibung von Klassenkämpfen in ländlichen Gegenden, besonders in weiten Regionen der so genannten "Dritten Welt" wie Vietnam, Indien oder China herangezogen, obwohl Thompson selbst die Übertragung des Begriffs auf andere Zeiten und Regionen ausdrücklich ablehnte.

Arbeiter und Bauern

Im 18. Brumaire des Louis Bonaparte hatte Marx erklärt, daß in den verzweifelten, verarmten Bauern "die proletarische Revolution den Chor" erhalte, "ohne den ihr Sologesang in allen Bauernnationen zum Sterbelied wird". Mit dieser Warnung im Ohr versuchten sich die aktivistischen Marxisten in den halb oder ganz kolonialen Ländern an einem Bündnis von Arbeitern und Bauern und am gemeinsamen Klassenkampf. Weltweit waren die meisten Nationen zur Zeit der heftigsten Klassenkämpfe noch Bauernnationen. Im revolutionären Rußland war nur ein sehr kleines städtisches Segment der Bevölkerung Fabrikarbeiter, die meisten Bewohner waren Bauern oder halb-proletarisierte Bauern-Arbeiter, die zwischen Stadt und Land pendelten.

Doch durch die Ungleichzeitigkeit des Entwicklungsstandes war das Bündnis zwischen Arbeitern und Bauern zum Scheitern verurteilt. Die Lebenswelten, Interessen und Bedürfnisse der Gruppen standen sich zuweilen feindlich gegenüber. Klassenkampf hieß für die bolschewistischen Eliten Machtwechsel, Ein-Parteien-Herrschaft und eine Politik der forcierten Industrialisierung. Der mörderische stalinistische Klassenkampf gegen die "Kulaken", die angeblich reichen Bauern, wurde zum Zwecke der Zurichtung der gesamten Landwirtschaft auf nachholende Industrialisierung durchgeführt.

Die Bauern hatten sich entgegen der marxistisch-leninistischen Diktion im Rußland der Revolution aber keineswegs als lethargische, konservative Masse gezeigt. Für sie hieß Klassenkampf Desertieren vom Krieg und "schwarze Umverteilung" zu Hause: Enteignung der Großgrundbesitzer sowie Verteidigung der Subsistenzproduktion und der lokalen Märkte. Ursprünglich gehörte dieser russische Bauernkrieg noch zum Prozeß des revolutionären Umsturzes von 1917 dazu und konfrontierte sich erst in den 20er und 30er Jahren mit der stalinistischen Kommandowirtschaft, die auf Industrialisierung um jeden Preis aus war. Diese Politik einer nachholenden Modernisierung auf dem Rücken aller Produzierenden kollidierte auch mit den städtischen Arbeitern, denen es um die Erhöhung des Lebensstandards, höhere Löhne und mehr Mitbestimmung in den Räten und Gewerkschaften ging. Der stalinistische Terror gegen die Bevölkerung, ähnlich wie der Terror in anderen sich am Marxismus-Leninismus orientierenden postkolonialen Ländern, läßt sich unter anderem darauf zurückführen, dass propagierter Klassenkampf hier in erster Linie Durchsetzung des Industrialisierungsparadigmas bedeutete und die Interessen der arbeitenden Klasse dem geopfert wurden.

Die Eliten der sozialistischen Länder, die den Marxismus-Leninismus als Entwicklungstheorie rezipierten, konnten sich auf einen ontologisierten Klassenbegriff beziehen. Klasse war hier als produktive Einheit gedacht, verschmolzen mit der Arbeit selbst, ganz der Zukunft zugewandt. Diese positive Fassung von "Klasse" als schaffende, aufbauende Kraft findet sich seit Lenin bei allen dogmatischen und sowjet-fixierten Marxisten.

Der in den 1930er Jahren entstandene westliche Marxismus brach mit dem Marxismus-Leninismus als Legitimationswissenschaft der Sowjetunion. Die Gewerkschaften im Westen wurden als integrierende Institutionen kritisiert, die aus Klassenkampf Arbeiterbewegung machen, und die kommunistischen Parteien des Ostens wurden als Teil der autoritär verwalteten Welt erkannt. Dem wurde die basisdemokratische und kämpferische Organisation in "Räten" entgegengehalten. Einige Theoretiker wie Wilhelm Reich versuchten sich auch an einer Symbiose von Marxismus und Psychoanalyse, um zu erklären, was Marx undenkbar schien: daß Arbeiter sich gegen ihr unmittelbares Interesse in die ausbeuterischen Verhältnisse einfügen. Hinzu kam, daß der bürgerliche Staat einer Formveränderung unterlag, die zu untersuchen sich der westliche Marxismus zur Aufgabe machte. Der Staat erschien ihm nicht mehr als eine neutrale Macht, die man bloß übernehmen müsse.

Integriert vom Keynesianismus

Der Staat als Krisenregulator wurde in der fundamentalen Krise des Liberalismus, der Weltwirtschaftskrise 1929, geboren. Die klassische Vorstellung, wonach die unsichtbare Hand des Marktes alles regeln könne, hatte sich blamiert. Die keynesianisch gestimmten USA unter Präsident Roosevelt erkannten nach heftigen Streikbewegungen bis kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs auch schließlich die Arbeiter politisch und sozial als Arbeitskraft und Konsumenten an. Die politisch liberale keynesianische Krisenpolitik des New Deal beschnitt die Macht des big business und sorgte für eine Integration der Arbeiter in die Lohnarbeit bei angemessener Interessenvertretung durch Gewerkschaften und einer staatlichen Geldpolitik, die durchaus auch Verschuldung auf sich nimmt. Man könnte John Holloway folgend den Keynesianismus als Einzug der Klasse in das Geldverhältnis bezeichnen, als monetäre Anerkennung des Klassenkampfs durch den Staat. Damit verbunden war aber auch eine Entradikalisierung der Arbeiterklasse selbst.

Als Kritiker des frühen Keynesianismus sollten insbesondere die Kritischen Theoretiker der Frankfurter Schule gelesen werden. Sie lehnten die vom autoritären Staat bewerkstelligte Klassenintegration ab. Was manchen, wie beispielsweise dem Historiker Eric Hobsbawm, als Auftakt des "goldenen Zeitalters" nach dem Zweiten Weltkrieg erschien - mit starken Gewerkschaften, Jazz und einem relativen Verschwinden der elitären Hochkultur - war den Kritischen Theoretikern ein Greuel. Sie hatten die keynesianische Klassenintegration als barbarische Formierungsleistung in Deutschland kennen gelernt.

Im faschistischen Deutschland hatte sich nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 eine besondere Spielart des autoritären Kriegs-Keynesianismus durchgesetzt. Im Unterschied zu den USA kamen hier die Arbeiter nicht zu ihrem Recht, sondern der NS verhalf ihnen nur zu ihrem Ausdruck als produktiver Bestandteil der deutschen "Volksgemeinschaft". Die Nationalsozialisten übernahmen die klassenkämpferischen Symbole der Arbeiterbewegung als Spektakel, gleichzeitig wurden die traditionellen Institutionen der Arbeiterbewegung zerschlagen. Klassenbewußte Arbeiterführer und renitente Arbeiter wurden umgebracht oder interniert. Der NS brach die Arbeiter aus ihrem Milieu heraus, nahm ihnen die Klasse und gliederte sie in die rassistisch und nach Leistung hierarchisierte Volkgemeinschaft ein.

Solidarisch-politisch motivierte Streiks gegen den rassistischen und antisemitischen Terror der Nazis gegen alle "Nicht-Arier" blieben aus. Die Drohung mit den Konzentrationslagern, die ideologische (und spärliche materielle) Einbindung in die Volksgemeinschaft und die den Klassenkampf simulierende Deutsche Arbeitsfront (DAF) sorgten für eine relative Ruhe an der inneren Klassenfront des Dritten Reichs. Lediglich die ausländischen Zwangsarbeiter in Deutschland begehrten von 1939-45 immer wieder auf.

In der Nachkriegszeit konstituierte sich der Deutsche Gewerkschaftsbund als Einheitsgewerkschaft und trat damit in die Fußstapfen der DAF. Obwohl es in den 50er Jahren heftige Streiks gab, durfte vom Klassenkampf nicht mehr die Rede sein. Vor allem die Sozialwissenschaften waren bemüht, das harmonische Bild einer "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" zu zeichnen.

Neue Linke, neue Kämpfe

In den 1950er Jahren erfuhr der europäische Marxismus nach dem Schock über die Invasion der Roten Armee 1956 in Ungarn eine Erneuerung - auch in der Theorie des Klassenkampfs. Ausgerechnet in jenem Land, in dem sich Stalinismus, Euro-Kommunismus und Partisanen-Antifaschismus die Hand gaben - in Italien -, wurde der Marxismus radikalisiert und auf neue Füße gestellt. Der Operaismus als Spielart des westlichen Marxismus wollte den Klassenkampf als Motor der Geschichte entdecken, als vorrangige Erscheinung und nicht als bloß abgeleitete Größe des Kapitals.

Darüber hinaus wurde mit weiteren Marx-orthodoxen Gewißheiten über die Klasse und den Klassenkampf gebrochen. Der italienische Marxist Panzieri arbeitete die immanente Formbestimmtheit der kapitalistischen Maschinerie heraus, woraus die Aktivisten des italienischen Klassenkampfes die Forderung zur Sabotage der Fließbandarbeit ableiteten. Damit ideologisierten sie allerdings lediglich, was die bäuerlich sozialisierten Wanderarbeiter aus dem Süden in den großen Industrien der 1960er und 70er Jahre schon längst praktizierten: Absentismus, Bummelei und Sabotage waren selbstverständliche Methoden im Klassenkampf geworden. Der Bruch mit dem positiven Bezug auf die (Lohn-)Arbeit stand an und eröffnete auch Anschlüsse an den alten Meister: Marx selbst hatte entgegen dem ihm zugeschriebenen Produktivkraft-Fetischismus die Maschinerie im Kapital als "Kriegsmittel des Kapitals" bezeichnet. Und er hielt auch an der Abschaffung der Arbeit und der arbeitenden Klasse fest: Freiheit beginnt für ihn erst da, wo "das Arbeiten, das durch Not und äußere Zwänge bestimmt ist, aufhört".

Die kopernikanische Wende innerhalb des Marxismus stellt Mario Trontis Buch Arbeiter und Kapital dar, worin der Klassenkampf als Ausgangspunkt jeder Überlegung zum Kapitalismus gemacht wird. Er hebt hervor, daß "von den ersten Formen dieses Kampfes an die Arbeiter als Klasse sich innerhalb des Kapitals finden und es aus seinem Inneren heraus bekämpfen müssen. (...) Die Arbeiter betreten die Fabrik der Kapitalisten schon als Klasse: Nur so nämlich kann ihre gesellschaftliche Produktivkraft ausgebeutet werden. Gezwungen, nicht von juristischen, sondern von ökonomischen Gesetzen, Arbeitskraft zu verkaufen, also sich selbst als Ware auf dem Markt zu verkaufen, finden sie sich bereits individuell vereint gegen den Kapitalisten, noch bevor sie anfangen, Kapital zu produzieren".

Eine neuere Schule undogmatischer Marxisten knüpft seit einigen Jahren an die Überlegung der Vorrangigkeit des Klassenkampfes und der Klassenkonstitution an. John Holloway betont in seinem Buch Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen, daß die Entstehung des Kapitals einer doppelten Fluchtbewegung geschuldet sei: der Knecht wollte dem Abhängigkeitsverhältnis vom Großgrundbesitzer entfliehen, der Herr wollte sich der patriarchalen Verantwortung für den Leibeigenen entledigen. Das Kapital entstand demnach schon als Bewegung und als Klassenkampf. Darüber hinaus betonen diese kritischen Marxisten, daß Klasse inhärenter Bestandteil des Kapitals sei und nur als negative Kategorie Sinn mache, als eine Klasse, die in der Arbeit nicht zu sich selbst kommt, sondern in ihrer Leiblichkeit und in ihren Bedürfnissen durch die (Lohn-)Arbeit negiert wird.

Der in jüngster Zeit aufkommende Post-Operaismus von Antonio Negri (Empire) hat diese arbeitskritische Überlegung in einem affirmative turn aufgegeben. Bei ihm ist die "Multitude" zwar ein offener, weit gefaßter und demokratischer Begriff, der aber einem produktivistischen Rahmen verhaftet ist. Die Multitude ist selbstverwertend und geht im Paarlauf mit den neusten Technologien dem Paradies jenseits des herrschenden, finsteren Empires entgegen. Mit dieser Behauptung beleben die Post-Operaisten eine lange Tradition innerhalb der Linken wieder: Klassentheorie als optimistische Mobilisierungsideologie.

Letztere kam vor allem beim letzten großen Aufblitzen von Revolte und Klassenkampf auf. 1968 entdeckte man alle Ikonen des Klassenkampfs wieder und trug sie stolz vor sich her. 1968 war ein Aufstand gegen die lähmende Ruhe des Keynesianismus, dessen relative Prosperität als "goldene Ketten" empfunden wurde. Es tauchte ein Klassenkampf im neuen Gewand auf, der mit der Tradition der klassischen Arbeiterbewegung brach. Die Jugend begehrte gegen die lebenslange Perspektive eines sicheren Arbeitsplatzes und der dazugehörigen Kleinfamilie auf. Feministische Marxistinnen entdeckten die von der Marx-Orthodoxie als blinder Fleck behandelte Reproduktionsarbeit von Frauen und hielten der Vorstellung, daß nur der "produktive Arbeiter" richtig klassenkämpfen könne, entgegen, daß die ganze Gesellschaft, auch Familie und Küche, als Verweigerungs- und Kampfterrain der gesellschaftlichen Fabrik zu sehen sei. Sie forderten "Lohn für Hausarbeit".

Doch lediglich in Frankreich gingen nach langen, militanten Streiks Arbeiter und Studenten im Mai 1968 zusammen auf die Straße. Dort kam man dem am nächsten, was die Anarcho-Syndikalisten des 19. Jahrhunderts, der Kritische Theoretiker Walter Benjamin in Anlehnung an den italienischen Propagandisten der revolutionären Gewalt, Sorel, und die undogmatisch-marxistische Gruppe der Situationisten als Vorbereitung zur Revolution und zum Umsturz forderten: dem revolutionären Generalstreik. In Deutschland propagierte der SDS zwar "Klassenkampf statt Sozialpartnerschaft", doch das Bündnis zwischen Arbeiter und Studenten kam nicht zustande. Die Spaltung von (jugendlicher) Revolte und (institutionalisiertem) Klassenkampf sollte hierzulande von Dauer sein. Wer fortan noch den Klassenkampf hochhielt - wie die K-Gruppen der 70er und 80er Jahre - kam in den nicht unbegründeten Verdacht, reine Identitätspolitik zu betreiben.

Generell waren die 60er Jahre international jedoch Zeiten erhöhter Streikbilanz. Nicht zuletzt deshalb konnten die Menschen im Westen ihr Konsumniveau sukzessive erhöhen. Liberal gestimmte Soziologen klagten daher über eine "Revolution der Erwartungen" und ein explodierendes Anspruchsdenken der unteren Klassen.

Klassenkampf von oben

Die Regierung der USA trat als erstes an, um das Anspruchsniveau der Lohnabhängigen zurückzuschrauben und den Kapitalismus schockartig zu restaurieren. Das erste Laboratorium sollte im Süden sein: in dem US-unterstützten Putsch gegen den sozialdemokratisch-reformerischen Präsidenten Allende in Chile 1973 verband sich irrationaler Antikommunismus mit der "monetaristischen Konterrevolution" des Milton Friedman. Unter Pinochet machten sich Miltons Schüler von der Chicago School of Economics daran, die Lebensbedingungen der arbeitenden Klassen fiskal-, geld- und lohnpolitisch enorm zu verschlechtern und Chile auf die Interessen der großen Konzerne zuzurichten.

Der Neoliberalismus erklärte schließlich auch in den westlichen Zentren die Arbeiter zum Feind und jeden zum Individuum. Ronald Reagan ließ 1980 unmittelbar nach seinem Amtsantritt streikende Fluglotsen mit Handschellen abführen, die "Eiserne Lady" Margaret Thatcher brach den Gewerkschaften, vor allem den kämpferischen Bergarbeitern, in Großbritannien das Genick. Der realsozialistische Klassenkompromiß in den Ländern des Ostblocks - niedriges Konsumniveau der Arbeiterklasse und niedrige Produktivität der Fabriken - wurde Ende der 80er Jahre von den Arbeiter im Wunsch nach mehr Freiheit und mehr Waren aufgekündigt. Die neoliberale Deregulierungspolitik brachte allerdings nach dem Ende des Sozialismus gesteigerte Produktivitätsansprüche und der breiten Masse ein noch niedrigeres Konsumniveau. Vor allem die Politik der Privatisierung setzte massenhaft Arbeiterinnen und Arbeiter frei.

Auch die DDR lernte nach dem Anschluß die Politik der De-Industrialisierung und Massenentlassungen kennen. Das Ende des "rheinischen Kapitalismus" begann im Osten des wiedervereinigten Deutschlands. Heute sucht der "Standort Deutschland" seinen Anschluß an den neoliberalen Trend, indem durch Beschneidung der staatlichen und versicherungsgedeckten Einkommen der Arbeitsmarkt durcheinander gewirbelt und die Arbeitsbereitschaft bei schlechteren Löhnen erhöht werden soll. Flankiert wird das von einer Politik und Rhetorik der Unternehmen, die den Belegschaften mit Produktionsverlagerung in Billiglohnländer und mit Entlassungen drohen. Der Neoliberalismus ist bemüht, den Klassenbegriff auch auf der diskursiven Ebene auszumerzen. Geltung dürfen nurmehr Individuen für sich reklamieren.

Für den Klassenbegriff

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wird das wachsende Heer der Armen und Ausgespuckten entscheiden, wohin es die Welt zieht. Der produktivistisch klingende Begriff der Klasse scheint dieses Problem zu ignorieren, weil er nur die Lohnabhängigen in den Blick bekommt. Doch auch diejenigen, die über keine feste Arbeit verfügen, sind damit beschäftigt, ihre Energie auf ihren Lebensunterhalt zu richten. Auf diesen Umstand machen Negri und Hardt in ihrem jüngsten Buch Multitude vollkommen zu Recht aufmerksam. Deshalb macht der Klassenbegriff am besten deutlich, daß wir in einer Gesellschaft leben, die eine ganze Klasse vom direkten Zugang zum Reichtum ausschließt. Die meisten Angehörigen dieser Klasse müssen durch immer prekärere Formen der Mehrwertabpressung hindurchgehen, um am gesellschaftlichen Reichtum wenigstens marginal partizipieren zu können. Der Klassenbegriff hält an der Einsicht fest, daß die Gesellschaft eine antagonistische, bipolar gespaltene ist. Mit ihm werden nicht so sehr die vielerlei Spaltungslinien, Differenzen und Identitäten betont, die andere Theorien aus dem Umfeld der gender-, post-colonial- oder identity-Forschung in den Vordergrund stellen.

Der Klassenkampf von oben scheint bislang nur zwei bewusst handelnde Akteure zu haben: die Kapitalisten und eine Regierung, die das Geschäft eines parteiischen Klassenstaats erledigt. Die subjektivistisch-euphorische Bestimmung von Klasse durch die Situationisten, wonach das Proletariat die "Klasse des Bewußtseins" sei, ist zu Beginn des chaotischen 21. Jahrhunderts zumindest in hiesigen Gefilden vollständig verschwunden. Um so wichtiger ist es, der neoliberalen Spaltung und dem wechselseitigen Ausspielen von Arbeiter und Arbeitslosen einen universalistischen Begriff entgegen zuhalten. Der Klassenbegriff hat dabei eine doppelte Funktion: Als "Tigersprung in die Vergangenheit" (Walter Benjamin) erinnert er an die Klassenkämpfe der Vergangenheit, und als utopischer Begriff weist er auf etwas hin, was noch nicht ist, aber werden sollte: eine revolutionäre Klasse.

Gerhard Hanloser arbeitet derzeit zum Thema "Theorien des Antagonismus. Zum Verschwinden des Klassenbegriffs".
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift informationszentrum 3. welt (iz3w), Nr. 282.

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sopos 2/2005