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Niemand wisse, wo es hingehen soll, vor allem aber: »Man ist Teil einer Generation, die fast alles richtig gemacht hat. Man hat ein Studium beendet, sich an die Regeln gehalten und steht trotzdem vor einer Wüste.« Wer wissen will, was uns erwartet, wenn die Kanzleragenda 2010 abgearbeitet ist, braucht, statt Christiansen einzuschalten, in der Regel nur einfach mal reinzuhören in eine Clique Jugendlicher. Der nüchternen Hoffnungslosigkeit, die in dem zitierten Artikel zum Ausdruck kommt, bin ich jedenfalls bei Gesprächen im Freundeskreis meiner drei Kinder schon häufig begegnet. Prognosen sind bekanntlich schwierig, vor allem wenn sie die Zukunft betreffen. Aber wenigstens seit 1945 konnte in (West-)Deutschland derjenige einigermaßen sicher Zehn-Jahres-Prognosen abgeben, der sich im siegreichen angelsächsischen Raum umsah. Viele dort entfaltete Trends kamen etwas später auch hier an. Fast gleichzeitig mit Tim Meyers Kommentar ist im etablierten Londoner Economist zu lesen, daß schlechtes Benehmen von Schulkindern in den USA und England immer mehr zunehme. Dagegen müsse etwas getan werden. Der Economist hat auch eine durchgerechnete Empfehlung: Ritalin, ein Beruhigungsmittel. »Verschreibungen dieser Art von Medikamenten für Kinder stiegen von 400 000 im Jahre 2000 auf über 700 000 im Jahre 2002.« Das sei aber erst der Anfang, denn damit stünden in Großbritannien nur 0,3 Prozent der sonst schwer zu disziplinierenden Schulkinder unter Drogen, »verglichen mit sechs bis sieben Prozent in Amerika«. Kapitalismus ist in seinem Kern die Gesellschaftsform, die alle menschlichen Beziehungen in die Warenform zwingt, alles Menschliche damit in dem kalten Kalkül ersäuft, ob es sich rechnet. Er ist gleichzeitig die Gesellschaftsform, die wie keine andere vor ihr ungeheure Berge von gegenständlichen Waren anhäuft, weil sich die Profitmacherei, die sie in ihrem Innersten antreibt, nur in der Herstellung und dem Verkauf dieser Waren realisieren läßt. In seiner Expansionsphase saugte dieser Motor Kapital und Arbeit in wachsendem Umfang in sich hinein, um am Ende Profit und Waren auszuspucken. Mit rasant steigender Produktivität benötigt er heute anders als noch vor wenigen Jahrzehnten für die Herstellung dieser ungeheuren Warenberge (s. Marx im »Kapital«) immer weniger Menschen. Der Rest wird in die Wüste geschickt. Die Jugendlichen von heute reflektieren dieses Gefühl des Überflüssigseins. Es ist nicht eingebildet, es hat eine reale Grundlage: Kapitalismus. Tim Meyer kann es artikulieren. Tausende von Hauptschülern, die ihren genervten Lehrern völlig zu Recht nicht mehr glauben, wenn die ihnen weiszumachen versuchen, daß sie eine vernünftige Lebensperspektive haben, werden nach angloamerikanischen Vorbild früher oder später mit Ritalin ruhiggestellt werden. Wo sich Wüsten ausbreiten, gibt es auch Oasen, und gelegentlich erscheint eine Fata Morgana. Wie Sümpfe Orchideen gedeihen lassen, so bringen auch niedergehende Gesellschaften, wie Jürgen Kuczynski in seinem vielleicht weitsichtigsten Buch »Gesellschaften im Untergang« einmal beschrieben hat, schillernde Blüten hervor: Handys, die filmen können, demnächst vielleicht auch das erste geklonte Baby gegen den demographischen Abstieg des Westens. Die Medien, die von den schrumpfenden Kernen der kapitalistischen Verwertungslogik am Leben gelassen werden, bieten uns jede Fata Morgana als vermeintlichen Beweis gegen den Zukunftspessimismus an. Große bunte Zeppeline. Wer 2010 diesen Trugbildern nachläuft, wird 2015 noch tiefer in der Wüste stecken und 2020 verdurstet sein. Bleiben die Oasen. So wie die untergehende Sklavenhaltergesellschaft Zonen ohne Privatbesitz an anderen Menschen hervorbrachte, die sich später zu der Formation vernetzten, welche die Sklaverei nach einer langen Trockenheit ablöste, so wie sich im 15. Jahrhundert im Meer des feudalen Dumpfsinns Inseln bildeten, die die Herrschaft des Lehensbesitzes abwarfen und auf freies bürgerliches Eigentum setzten, so werden in unserer Zeit, in der sich die Fortschrittskraft des privaten Eigentums an Produktionsmitteln und Grund und Boden vor unseren Augen erschöpft, Oasen ergrünen, in denen das Buch einer Gesellschaft mit gesellschaftlichem Eigentum aufgeschlagen wird. Im Jahre 2010 werden diese Oasen nur Flecken in der sich bis dahin weiter ausbreitenden Wüste sein – so sind die Zeiten. Aber sie zeichnen sich jetzt schon ab im Denken und Handeln nicht ganz weniger vor allem junger Leute. Das Schöne für die etwas älteren LeserInnen ist: Die Oasen bieten auch denen Platz, die realistisch berichten können vom nach der Pariser Kommune zweiten großen Anlauf zum Sozialismus, der in Europa ja immerhin 70 Jahre gehalten hat. Die Menschheit wird frei erst, wenn sie das Privateigentum an Grund und Boden und Produktionsmitteln aufgehoben hat. Das bedarf vermutlich etlicher Anläufe. Lilienthal hat auch erst einmal mehr Flugzeuge gebaut, die abstürzten, als solche, die oben blieben. Aber fliegen können wir jetzt. Der Wüste zu entkommen, wird schwieriger. Aber geschafft werden wird’s. Früher oder eben etwas später.
Erschienen in Ossietzky 1/2005 |
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