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In letzter Zeit kommt anderes, Böseres hinzu. Denn bei den Endlos-Soaps handelte es sich immerhin noch um ein Stück (bescheidenst künstlerisch) gestalteter Wirklichkeit. Das Fiktive war als fiktiv zu erkennen und forderte vom Zuschauer Gedankenarbeit: Die (mehr oder minder erfundene) Geschichte konterkarierte seine eigene Lebenserfahrung und erheischte Vergleich, Meinungsbildung, Entscheidung. Nun aber tun die Fernsehsender so, als lieferten sie uns Wirklichkeit ins Haus. Sie überschwemmen uns mit den idiotischsten »Reality«-Shows. Schmuddel-Talks, Gerichtsverhandlungen und Psycho-Kram, Liebeswahl und Kampf ums Dasein in der Chefetage, Dschungel aller Art, Wohnungs- und Körper-Neueinrichtungen wechseln einander ab. Öffentlich rechtliche Sender unterscheiden sich bestenfalls in zarten Geschmacksnuancen von den kommerziellen. In all diesen Sendungen, vierundzwanzig Stunden am Tag, bewegen sich Leute, die vorgeben, wie du oder ich zu sein, in einer Welt, die vorgibt, deine oder meine zu sein. Wenn’s nur um das Fernsehen ginge, wäre es schon schlimm genug. Aber es ist schlimmer. In einem vielgefragten Computerspiel kann sich der Spieler (s)ein Leben zusammenbasteln: Wohnungen, Häuser, Familie, Beruf, Partner, Entscheidung über Leben und Sterben. Die Tamagotschis, virtuelle Haustiere, die bei mangelhafter Pflege wimmernd verreckten, waren vor Jahren vorausgegangen. Und die Bilder der angeblich »sauberen Kriege« ohne »Kollateralschäden« gleichen den entsprechenden Bildern auf dem Game-Boy... Meinungsmanipulation hat es gegeben, seit es Klassengesellschaften gibt; die herrschende Kultur ist die Kultur der herrschenden Klasse. Die sorgt sich schon um den Erhalt des Ihrigen, und zwar mit allen Mitteln. Das zwanzigste Jahrhundert ist noch nah: Ohne Meinungsmanipulation größten Umfangs kein gegenseitiges Abschlachten der nicht vereinigten Proletarier aller Länder von 1914 bis 1918, kein deutsches 1933, kein Auschwitz, auch kein dumpfer Antikommunismus in der Alt-BRD und nicht mal diverse Montagslosungen in der späten DDR. Gedanken, Empfindungen, Verhaltensmuster wurden mit künstlerischen und publizistischen Mitteln in die Leute hineingedrückt (und die ließen sich’s reindrücken). Jetzt aber hat die Meinungsmanipulation offensichtlich eine neue Qualität. Zu Beginn begrüßte man das neue Medium Fernsehen, weil es durch seine Authentizität einem besonderen Informationsauftrag gerecht werden konnte; mit ähnlicher Begeisterung wurde Jahre später das Internet als Medium der »Informationsgesellschaft« hochgejubelt. Diese – selbst gesetzten – Ansprüche, die eh schon früh in der Flut der unsortierten bunten Bilder davonschwammen, sind nun endgültig und aufs äußerste pervertiert. Denn jetzt wird uns eine virtuelle Simulation als Wirklichkeit dargeboten, die überdies vorspiegelt, individuelle Mitwirkung, Entscheidung, Eingriffe wären zugelassen. Das Bewußtsein der Zuschauer von der wirklichen Wirklichkeit – mitsamt den in ihr enthaltenen Chancen zum Mitwirken, Entscheiden, Eingreifen – wird verdrängt, zerstört. Den Leuten wird die Realität geklaut, indem eine Schein-Realität davorgeschoben wird. Das betrifft vor allem, aber nicht allein soziales – oder gar politisches – Verhalten, sondern auch Alltägliches, Lebensgefühl: Einen »Abenteuer-Winter« verspricht das Riesenposter des ZDF. Und wo findet er statt? Na, wo wohl: in der Glotze natürlich. Kein Eis, Schnee, Matsch, Nebel, Schnupfen, keine nassen Füße, keine Bratäpfel. Und Sonnenuntergänge sind im Reisekatalog zu betrachten. In einem der selten gewordenen klugen politischen Magazine des öffentlich-rechtlichen Fernsehens warnt ein junger Mann vor den Gefahren von Computer-Sucht – die Mutter hatte einst dem Zwölfjährigen, damit er »Medienkompetenz« erwürbe, einen Rechner geschenkt. Er spielte daran und spielte – und wachte erschrocken auf, als ein Gleichaltriger in einer Erfurter Schule ein Massaker verübte: »Der hat dieselben Kampfspiele auf dem Computer gespielt wie ich und Spiel und Wirklichkeit nicht mehr auseinandergehalten.« In der Sendung nehmen auch Erziehungswissenschaftler Stellung: Die scheinbar medienkompetente junge Generation sei aufgrund der Bindung an diverse Mattscheiben die dümmste junge Generation seit Lehrergedenken. Dabei geht es um viel mehr als um Intelligenzdefekte. Die mediale Verblödung, die mittels Virtualisierung die Wirklichkeit verdrängt, führt – nicht erst langfristig – zur Veränderung der menschlichen Persönlichkeit: Passives Glotzen wird eingeübt, wo Handlungsfähigkeit, Entscheidung, Fantasie, Kreativität gefordert sind; reale Zusammenhänge verlieren sich ins Unerkennbare; der Mensch vorm jeweiligen Bildschirm lernt schnell, sich in der Vereinzelung zu erleben und nicht in Kommunikation und Auseinandersetzung. Realitätsverlust ist eine schwere soziale Krankheit. Sie verläuft tödlich für soziale Zusammenhänge; das Tempo ihres Verlaufs und ihrer Ausbreitung nimmt zu. Und sie ist gewollt: Teil der Zurichtung des komplexen, differenzierten Menschenwesens zum leicht zu steuernden, marktkompatiblen Konsumenten. Nicht zufällig darf einer seinen Fernseher als einzigen Wertgegenstand bei einer Pfändung behalten, seine Bücher nicht. Bradburys Held lernt am Schluß des Buches Bücher auswendig, um sie zu bewahren, und ist vom Bücherverbrenner wieder zum Menschen geworden. Kunst kann helfen, selbst da, wo politische Argumente längst nicht mehr gehört oder nicht mehr verstanden werden. Kunst kann wirken, wie sie es immer tat: mit dem Entwurf von Gegenwelten, damit die eigene besser zu begreifen ist. Kunst kann helfen im Kampf um die Erhaltung des Menschen als »zoon politikon«, wie ihn die Antike einst definierte. Ist der Mensch kein gesellschaftliches Wesen mehr, ist er nicht mehr.
Erschienen in Ossietzky 1/2005 |
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