Frechheiten

Werner René Schwab

»Frechheit siegt«, sagt der Volksmund. Zumindest schadet sie, sofern jemand weit genug oben sitzt, weder seiner Position noch seiner Karriere. Das beweist die Ossietzky-Jahresbilanz 2004 der groben Unverschämtheiten und dreisten Falschaussagen. Auf den Spitzenplätzen finden sich:

Horst Köhler, Bundespräsident – weil er unisono mit den Unternehmern fordert: »Die Deutschen müssen mehr arbeiten«, als suchten nicht Millionen Frauen und Männer verzweifelt einen Arbeitsplatz.

Gerhard Schröder (SPD), Bundeskanzler – weil er von »Mitnehmermentalität« bei den Deutschen spricht und damit die Geringverdienenden, Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger meint, nicht aber zum Beispiel gescheiterte Manager, die hohe Abfindungen kassieren, oder Bankdirektoren, die sich selbst Gehaltserhöhungen um zweistellige Prozentsätze genehmigen.

Wolfgang Clement (SPD), Bundeswirtschaftsminister – weil er im Fernsehen versprochen hat, jeder, der keinen Ausbildungsplatz finde, könne ihn anrufen, er kümmere sich dann darum. Als 70 Berliner Schüler stundenlang versuchten, ihn telefonisch zu erreichen, ließ er sie von seinen Sekretärinnen mit der gleichlautenden Erklärung abwimmeln: »Herr Clement kann jetzt nicht, er hat keine Zeit.«

Angela Merkel (CDU), Parteivorsitzende – weil sie die von ihr verlangte »Gesundheitsprämie«, die für Daimler-Chef Schrempp genau so hoch sein soll wie für Hilfsarbeiter Krause, mit den Worten zu rechtfertigen versucht, dadurch solle »ein Mindestmaß an Gerechtigkeit herbeigeführt werden«.

Edmund Stoiber (CSU), bayerischer Ministerpräsident – weil er nicht nur die allgemeine Rückkehr zur 40-Stunden-Woche (ohne Lohnausgleich) fordert, sondern im gleichen Atemzug verlangt: »Die Deutschen müssen den Titel des Urlaubsweltmeisters abgeben.«

Roland Koch (CDU), hessischer Ministerpräsident – weil er die 42-Stunden-Woche ohne Lohnausgleich für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst einführen will, und zwar aus »Gerechtigkeitsgründen«; damit sich die Ostdeutschen nicht mehr benachteiligt fühlen. – Daß Wolfgang Thierse (SPD), Bundestagspräsident, dies bald darauf für alle westdeutschen Beschäftigten fordert, kann dann kaum noch verwundern.

Walter Döring (FDP), Ex-Minister – weil der später wegen einer dubiosen Geld- und Spendenaffäre als Wirtschaftsminister von Baden-Württemberg zurückgetretene Landesvorsitzende der Freidemokraten noch zu Amtszeiten verlangte: »Der 1. Mai ist der Tag der Arbeit. Also soll dann auch gearbeitet werden.« Inzwischen hat Döring einen gut dotierten Posten in der Privatwirtschaft.

Michael Rogowski, Industrie-Funktionär – weil der bisherige Präsident des Bundesverbandes der deutschen Industrie die Mitbestimmung als einen »Irrtum der Geschichte« diffamiert.

Oswald Metzger (Grüne), Kuratoriumsmitglied der Bertelsmann-Stiftung – weil er angesichts der allgemeinen Unterstützung der Konzern- und Monopolmedien für die Raubzüge von Kapital und Kabinett losjubelt: »Der mentale Sinneswandel ist eingetreten.«

Friedrich Wetter, Kardinal, Erzbischof von München – weil er über ein »Berufsverbot für Katholiken« zetert, nachdem das Europaparlament den Italiener Rocco Buttiglione wegen dessen Verdammung von unehelichen Müttern und ­Homosexuellen nicht als EU-Justizkommissar akzeptiert hat.

Erschienen in Ossietzky 25/2004