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Das Märchen ist zu Ende

Argentiniens Krise von 2001 beendete die Fußballisierung der Politik

von Pablo Alabarces

Als Argentinien Ende 2001 in eine politische und ökonomische Krise ungeahnten Ausmaßes geriet, beendete ich gerade mein Buch Fútbol y Patria. Das Buch zeichnete nach, wie Fußball während des 20. Jahrhunderts ein unverzichtbares Instrument zur Konstruktion einer nationalen Identität in Argentinien geworden war. Diese Entwicklung begann bereits in den 1960ern, wurde jedoch vor allem während der Militärdiktatur der 70er Jahre und anläßlich der von Argentinien ausgerichteten WM 1978 bedeutsam. Der Höhepunkt dieses Prozesses wurde Mitte der 80er mit dem gleichzeitigen Aufstieg der Fußballikone Diego Maradona und der neoliberalen Regierung von Carlos Menem erreicht. Schon kurz nachdem Menem an die Macht kam, zeigte er sich mit dem Trikot der Nationalmannschaft im Nationalstadion.

Während der 90er Jahre manifestierte sich ein einheitliches argentinisches Nationalbewußtsein ausschließlich über Fußball. Aufgrund des seinerzeitigen wirtschaftlichen Höhenfluges war dies ein chauvinistischer Diskurs, im Gegensatz zum eher plebejischen national-populistischen Narrativ der vorangegangenen Dekaden. Damals erlebten wir jedoch weniger die Politisierung des Fußballs als vielmehr die Fußballisierung der Politik, die alle Diskussionen über die Zukunft des Landes zu sportlichen Ereignissen degradierte.

Doch die Krise vom Dezember 2001 und die Weltmeisterschaft 2002 in Südkorea und Japan machen es notwendig, diese historische Analyse den veränderten Gegebenheiten anzupassen. Etwas hatte sich in Argentinien sehr verändert, und die Rolle des Fußballs blieb davon nicht ausgenommen. Im Ergebnis verlor Fußball seine Rolle als zentrales Element des politischen Lebens in Argentinien.

Rhythmisch gereckte Fäuste

Die Explosion kam am 19. Dezember 2001. Ich lauschte der Ansprache von Präsident Fernando de la Rúa, in der er den Notstand ausrief. Ich lebte damals in Buenos Aires, nur ein paar Häuserblocks entfernt vom Parlament. Plötzlich drang der kakophonische Lärm an mein Ohr, der entsteht, wenn man auf Töpfe und Pfannen schlägt. Ich dachte zunächst an eine Demonstration von ahorristas - wie die Angehörigen der Mittelklasse genannt wurden, deren Ersparnisse nun von den zahlungsunfähigen Banken einbehalten wurden. Kaum auf der Straße, war ich von Tausenden Protestierenden umringt, die auf ihre Küchengeräte eindroschen und regierungsfeindliche Parolen riefen, in denen der Rücktritt des Präsidenten und seines Wirtschaftsministers Domingo Cavallo gefordert wurde.

Der cacerolazo war in vollem Gage. Auf der breiten Treppe des Kongreß-Gebäudes wehten argentinische Fahnen, viele Demonstranten trugen das Trikot der Fußballnationalmannschaft. Die Szenerie glich den Stehplatzrängen eines argentinischen Fußballstadions: die Farben - ein Meer aus weiß und babyblau; die Körpersprache - zu Sprechchören rhythmisch gereckte Fäuste; und die Lieder - mit neuen Texten versehene Melodien, die aus den Stadien bekannt waren. Auf der Hauptstraße begannen Protestierende, die Schaufenster von Banken und anderen multinationalen Unternehmen einzuwerfen. Ich passierte eine große Gruppe von San Lorenzo-Anhängern. Deren Meisterschaftsspiel war wegen der Unruhen abgesagt worden. Sie sagten mir, daß sie an den Protesten teilnahmen, um ihren Frust hier auszulassen. Zurück am Kongreßgebäude, ertappte ich mich dabei, die Bewegungen der Demonstranten und der Polizei wie den Spielstand eines Fußballspiels zu betrachten.

Beflügelt durch den Rücktritt von Wirtschaftsminister Cavallo kehrten die Demonstranten am nächsten Tag zurück. Diesmal war die Plaza de Mayo jedoch von der Polizei abgeriegelt worden. Neben den organisierten Demozügen von Gewerkschaften und Parteien waren ganze Gruppen junger Leute dabei, den Zaun niederzureißen, um den Platz, das Objekt der Begierde, zu stürmen. Diese Jugendlichen waren klar erkennbar Veteranen des Straßenkampfes, gestählt durch die häufigen Konfrontationen mit der Polizei rund um die Fußballstadien und bei den Straßenblockaden der Arbeitslosen, den piqueteros. Die Polizei setzte erst Tränengas ein und später Schußwaffen; am Abend dieses Tages waren fünf Menschen tot. Als Präsident de la Rúa nachmittags zurücktrat und mit dem Hubschrauber aus seinem Amtssitz flüchtete, beruhigte sich das aufgeheizte Klima auf den Straßen etwas. Zurück blieben zahlreiche demolierte Läden und Einrichtungen multinationaler Konzerne, wie etwa eine in Brand gesetzte McDonald's-Filiale.

Wiederbelebung der nationalen Symbole

Das neoliberale Experiment in Argentinien hinterließ einen explosiven Anstieg der Armut. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung fiel nun unter die Armutsgrenze, und die reale Arbeitslosigkeit betrug rund 40 Prozent. Die Industrie blieb konkurrenzunfähig und zerschlagen zurück, die Wirtschaft lag mehrheitlich in ausländischen Händen, etwa die privatisierten öffentlichen Dienste. Und die von falschen Modernitätsvorstellungen verführte Ober- und Mittelklasse, die sich dank der Überbewertung des Peso den Verlockungen des Konsums hingegeben hatte, fiel nun auf den Boden der Realität zurück.

Fußball war zum Movens der nationalen Identität in Argentinien geworden, weil der Staat, der diese Rolle einst unangefochten inne hatte, sich davon zurück gezogen hatte. So blieb das Feld zwei unterschiedlich starken Akteuren überlassen: Zum einen den Massenmedien, deren Storys in der Absicht der Profitmaximierung geschrieben sind und die somit keine Bürger, sondern Konsumenten produzieren; und der Zivilgesellschaft, die durch die Militärdiktatur von 1976 bis 1983 ebenso geschwächt worden war wie durch die sich daran anschließende mangelnde juristische Verfolgung der Verantwortlichen. Diese Schwäche resultierte 1989 in der konservativ-neoliberalen Revolution von Menem.

Die Ereignisse vom Dezember 2001 belebten die nationalen Symbole wieder, allen voran die Nationalfahne und die Nationaltrikots. Noch bedeutsamer war, daß die in den Fußballstadien erlernten Praktiken - die spontane Erfindung von Sprechchören und die Widerstandstaktiken gegen polizeiliche Maßnahmen - im Rahmen der Massenmobilisierungen politisch wurden und in einem neuen Kontext neue Bedeutungen erfuhren. In dieser Aneignung lag die einzige Chance der geschwächten und peripheren Zivilgesellschaft, neue Narrative einer nationalen Identität zu konstruieren.

Natürlich ist Identität nicht nur ein Narrativ, sondern auch gelebte Erfahrung, die aus Kämpfen und Konflikten resultiert. Während der Krise wurden die ‚globalisierten' Bedingungen, unter den Argentiniens Gesellschaft agierte, als allein ökonomische bzw. materielle wahr genommen. Die Tatsache, daß die Angriffe der Demonstranten sich gezielt gegen Banken und jene privaten Firmen richtete, die einstmals öffentliche Dienste übernommen hatten, unterstreicht, daß die Globalisierung als Konzentration von Reichtum und als Verlust an politischer Autonomie interpretiert wurde. Die Werbeindustrie machte diese neue argentinische Wahrnehmung der Globalisierung im Vorfeld der Weltmeisterschaft 2002 zum Kern ihrer Marketingkampagnen. Die Werber nutzten die von ihnen als solche wahrgenommene nationalistische und patriotische Stimmung aus, sie reflektierten ironischerweise aber auch implizit die anti-neoliberalen Empfindlichkeiten in Argentinien.

Trotz des Konsumrückgangs in Argentinien waren die Investitionen der Konzerne enorm. Die Satellitenfernsehfirma Direct TV zahlte für die Übertragungsrechte 400 Mio. US-Dolllar. Coca-Cola investierte 2,5 Mio. Dollar für Marketing und Werbung, und auch McDonald's, Gillette und MasterCard gaben große Kampagnen in Auftrag. Zu den offiziellen Sponsoren der argentinischen Nationalmannschaft gehörten die französische Supermarktkette Carrefour, der Ölkonzern Repsol-YPF, die Bierbrauerei Quilmes sowie Coca-Cola, Visa und Adidas. Zwar sind all diese Sponsoren multinationale Konzerne, doch Quilmes und Repsol-YPF stechen aus ihnen hervor. Quilmes, traditionell eine argentinische Firma, war nur wenige Tage vor der WM an die brasilianische Brauerei Brahma verkauft worden. Dies nutzte der Hauptkonkurrent Isenbeck für eine aggressive Kampagne, in der die Legitimität von Quilmes als Unterstützer des argentinischen Fußballpatriotismus in Frage gestellt wurde.

"Wir sind Argentinier"

Der Fall Repsol-YPF ist noch aufschlußreicher. Seit den 1950er Jahren galt YPF als strahlender Stern unter den argentinischen Staatsunternehmen. Aufgrund seiner Funktion als staatliches Kontrollinstrument der Gaspreise galt es als Symbol der Selbstversorgung des Landes. Die Privatisierung unter Menem war mit allerlei Turbulenzen und Korruption verbunden. Die daraus resultierenden Entlassungen und der Anstieg des Gaspreises führten zur schwersten sozialen Krise während des Menemismo. Aus den damals entstandenen Arbeitslosengruppen entstanden die Piqueteros. Bis heute ist die Erinnerung an die Rolle der Staatsunternehmen bei der Schaffung von Beschäftigung stark, und sie bestimmt bis heute die Politik der von Arbeitslosigkeit Betroffenen.

Die privatisierte spanische Ölfirma Repsol erwarb YPF im Jahr 1999. Trotz des daraus resultierenden Status als Symbol für die Verdrängung staatlicher Industrien durch ausländisches Kapital trat Repsol-YPF während der Weltmeisterschaft eine große PR-Kampagne los: "Wenn das Nationalteam spielt, spielen wir alle. YPF ist offizieller Fan des argentinischen Teams und nicht nur Sponsor." Der Namensbestandteil "Repsol" war für diese Kampagne kurzerhand unterschlagen worden.

Die Firmen verwendeten in ihren fußballbezogenen Werbekampagnen schon immer eine triumphierende nationalistische Rhetorik. Doch in der Werbung für die WM 2002 war es nicht möglich, die Krise von 2001 zu übergehen. In einem Spot für Repsol-YPF flehte ein Schauspieler nach möglichst vielen Toren, damit "wir wenigstens etwas haben, über das wir froh sein können." Der Spot von Coca Cola schlug lächerlicherweise vor: "Damit wir uns alle wieder umarmen können". Eine andere Firma erklärte: "Manche sagen, daß alles schlecht ist und die Zukunft woanders stattfindet. Wir ziehen es vor, unsere Trikots anzuziehen. Wir sind Argentinier, und wir spielen nicht nur um die Trophäe, sondern für das Land." Besonders unerbittlich war der Slogan von Quilmes: "Laßt uns weiter anfeuern/ laßt uns weiter glauben/ fassen wir uns ein Herz/ am Ende werden wir gewinnen/ wir verteidigen unsere Fahne/ laßt uns der Welt zeigen, daß wir es zusammen schaffen".

All diese Werbungen spielten auf einen Bruch, auf eine konsumptive Flaute des peripheren Kapitalismus an. Etwas war im Land passiert, aber die Verfechter des Marktes kehrten zurück zu den magischen Beschwörungen, zur Möglichkeit, daß der alte lauwarme Diskurs - die alte heroische Geschichte von den Erfolgen des Landes auf dem Fußballfeld - ein Nationalbewußtsein zurückgeben könnte, das durch die Auflagen des Internationalen Währungsfonds IWF und der US-Regierung getrübt war. Die Werbung der Konzerne drückte den Wunsch aus, daß ein triumphierendes Fußballteam die politischen, sozialen und ökonomischen Verwerfungen der argentinischen Gesellschaft wieder kitten könne, selbstverständlich zugunsten ihres eigenen wirtschaftlichen Vorteils.

Hype um die WM

Aber die Argentinier wußten es besser. Bürgerschaft und Identität werden nicht durch Konsum erworben - eine Lektion, die sie durch ihre eigenen harten Erfahrungen von Exklusion und Verarmung gelernt hatten. Die Proteste von Januar 2002 richteten sich immer wieder auch gegen die Massenmedien, was anzeigte, daß sich der öffentliche vom journalistischen Diskurs distanzierte. Die Geschichten in den Medien wurden nun als eines von vielen Produkten und als bloße Märchen angesehen.

Deutlich wurde dies besonders bei der WM 2002. Die Wahrnehmung des argentinischen Nationalteams als Favorit stachelte einen mediengesteuerten Hype voller übersteigerter Erwartungen an. Vor dem Hintergrund der erhöhten Aufmerksamkeit für die scharfen sozialen Disparitäten entstanden dabei zwei divergierende Diskurse: Einerseits wurde Fußball als ein Weg aus den Problemen und als Chance für soziale Versöhnung gesehen. Andererseits wurde vorhergesagt, daß ein Versagen beim World Cup einen neuerlichen gesellschaftlichen Zusammenbruch hervorrufen würde.

Laut einem Artikel der Tageszeitung Página 12 glaubten 65% der Argentinier beim Auftakt des Turniers, daß Argentinien eine "gute Chance" auf den Titel hatte. Im selben Artikel erinnerte der Journalist daran, daß 80 Prozent der Argentinier glaubten, die politische, soziale und wirtschaftliche Situation verschlechtere sich. 70 Prozent qualifizierten darüber hinaus die Leistung des neuen Präsidenten Eduardo Duhalde als "schlecht" oder "sehr schlecht". Die überzogenen Erwartungen in Bezug auf den Fußball korrespondierten also mit apokalyptischen Wahrnehmungen von allem anderen. Der Artikel sagte daher eine soziale Explosion für den Fall voraus, daß Argentinien schlecht abschneiden sollte. Die Allmacht des Fußballs würde entrüstete ahorristas und wütende piqueteros zur sozialen Revolution führen und diese im Lynchen der politischen Klasse auf der Plaza de Mayo kulminieren.

Das absolute Versagen Argentiniens bei der WM - Ausscheiden in der ersten Runde nach einem Unentscheiden und einer Niederlage - strafte beide Vorhersagen Lügen. Doch warum gab es überhaupt so viele falsche und sinnlose Prophezeiungen? Hauptsächlich gehen sie auf die niemals bewiesene, aber meist akzeptierte Behauptung zurück, nach der Politik und Fußball in einer engen Relation stehen. Das klanglose Ende von Argentiniens WM-Hoffnungen beweist jedoch, daß es diesen Zusammenhang nicht gibt.

Nicht lange nach der WM ebbte die Empörung der Mittelklasse ab und sie zog sich langsam aber sicher von den öffentlichen Protesten zurück. Die Parole "Que se vayan todos" (sie sollen alle abhauen) - die programmatische Forderung der Proteste vom Dezember 2001, die gegen die gesamte politische Klasse gerichtet war - wurde stillschweigend zugunsten einer wahlpolitischen ‚Erneuerung' zurückgezogen, aus welcher der alte Peronismus erfolgreich hervorging, indem er sein traditionelles populistisches, sozialdemokratisches Banner hochhielt.

Die Dinge zurecht gerückt

Insgesamt sollten die Proteste von 2001 jedoch nicht nur pessimistisch interpretiert werden. Die Krise brachte eine Re-Politisierung der öffentlichen Sphäre hervor. Das Anwachsen progressiver Diskurse äußert sich beispielsweise in der Annullierung der Amnestiegesetze in Bezug auf die Militärdiktatur. Außerdem ist die Bevölkerung inzwischen wieder wesentlich optimistischer eingestellt. Heute ist es höchst unwahrscheinlich, daß das Nationalteam Trikots trägt, welche die staatliche Aerolíneas Argentinas und ihre Angestellte verteidigt, oder höhere Löhne für die Lehrer verlangt, wie es das 2001 bei den WM-Qualifikationsspielen tat.

Die Krise und ihre Konsequenzen rückten die Dinge zurecht: Politik ist wieder Politik und Fußball ausschließlich Fußball. Argentinien knüpft nun an den lang vergessenen Charakteristika einer modernen Gesellschaft an: gesellschaftliche Probleme werden im Parlament oder in öffentlichen Mobilisierungen diskutiert, nicht im Fußballstadion oder in der Sportpresse. Die argentinische Gesellschaft hat verstanden, daß Bürgerschaft und nationale Identität nicht von Fußballsiegen und durch Konsum bestimmt werden.

Pablo Alabarces ist Professor für Populärkultur an der Universität Buenos Aires und Autor mehrerer Bücher über Sport, Fußball und Gesellschaft. Die Originalfassung erschien in: NACLA Vol.37/ No. 5/ March/ April 2004, S. 33-37. Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch: Christian Stock<.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift informationszentrum 3. welt (iz3w), Nr. 281.

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sopos 12/2004