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StreikbrecherWer je während eines längeren Arbeitskampfes auf Streikposten stand, kennt diese Zeitgenossen, die sich in drei Kategorien einteilen lassen: Da sind jene, die mit gesenktem Kopf in den Betrieb gehen, weil sie sich schämen; nur die Angst um ihren Arbeitsplatz oder die Furcht, das vermeintliche Wohlwollen der Vorgesetzten zu verlieren, ist stärker als die Scham. Da sind andere, die scheinbar unbeteiligt in die Luft schauen; auch ihnen ist Unbehagen anzumerken. Und da sind die vielen, die grinsend an den Streikposten vorbei-gehen und einige Wochen später ebenso grinsend die Lohn- und Gehaltserhöhungen einstreichen, von verbesserten Arbeitsbedingungen oder geretteten Arbeitsplätzen profitieren. Hauptsächlich diese Sorte hat vor 100 Jahren der große Jack London gemeint, als er schrieb, daß sich die anständigen Menschen abwenden, wenn ein Streikbrecher durch die Straße geht, daß die Frauen die Vorhänge an den Fenstern zuziehen, daß die Engel ihr Haupt verhüllen und sogar der Teufel vor ihm seine Pforten verschließt. Gefährlich aber sind sie alle. Noch gefährlicher ist jedoch eine weitere Gruppe. Nämlich jene Klugscheißer, die behaupten, sich »objektiv« mit dem Arbeitskampf zu befassen. Besonders zahlreich findet man sie in den Medien. Bei jedem Streik sprechen und schreiben sie so sicher wie das Amen in der Kirche vom entstehenden volkswirtschaftlichen Schaden für die Allgemeinheit und raten den Streikenden zur »Vernunft«, das heißt zur Aufgabe. Denn Arbeitskampf ist grundsätzlich »die falsche Strategie«, wie es zum Beispiel kürzlich die Beschäftigten des Bochumer Opel-Werkes hören und lesen mußten. Deren Spontanstreik diffamierten tonangebende Politiker und Publizisten sogleich unisono als »wilden Streik«. Solche Propaganda bleibt nicht ganz ohne Einfluß auf einen Teil der Öffentlichkeit, manchmal sogar auf Familienmitglieder der Streikenden. Bei einzelnen kann sie den Kampfeswillen schwächen, was ja auch der Zweck ist. Am gefährlichsten sind einige, die Verständnis für das Anliegen der Strei-kenden heucheln und sich als deren Helfer aufspielen. Sie nehmen für sich in Anspruch, die Vertreter der einfachen Leute zu sein. Die sollen ihnen also vertrauen und an den Arbeitsplatz zurückkehren, um die Verhandlungen nicht zu erschweren, für die ihnen diese Vertreter ihre ganze Unterstützung versprechen (soweit das Allgemeinwohl es erlaube). Mit dieser modernen Form des Streikbruches tut sich seit einiger Zeit besonders die SPD hervor, namentlich ihr Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit, Wolfgang Clement. Ein Musterbeispiel haben wir gerade in Bochum erlebt. Als die von Massenentlassungen bedrohten Opel-Beschäftigten spontan auf die Straße gingen, tönte Clement sofort, unterstützt von Parteifreund Steinbrück, dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten: »Geht an die Arbeit zurück und vertraut auf Verhandlungen.« Und während sogar das Erzbi-stum Essen die Geistlichen aufforderte, die Anliegen der Arbeitnehmer zum Thema ihrer Sonntagspredigten zu machen, während beim Bundesligaspiel des VfL Bochum die Zuschauer mit Sprechchören und Transparenten für die Streikenden eintraten, während eine breite Solidaritätswelle durch die ganze Stadt und weit darüber hinaus ging, wiederholte Clement am gleichen Sonntag in der Fernseh-Talkrunde der Sabine Christiansen: »Ich habe Verständnis für sie, aber das ändert nichts daran, daß ich das für falsch halte.« Dabei haben erst dieser spontane, von der ganzen Belegschaft getragene Streik und die vielen Solidaritätsaktionen konkrete Verhandlungen ermöglicht. Kaum kamen die in Gang, erklärte Clement sie dreist zur »Chefsache«. Wer sich von früheren Fällen her daran erinnert, was herauskommt, wenn Kanzler Schröder und sein »Superminister« sich in Verhandlungen einschalten und von »Chefsache« reden, ist gewarnt. Gegenüber diesen modernen Streikbrechern ist allemal Vorsicht geboten. Werner R. Schwab
Ein neuer Heiliger erobert ItalienEr offenbart sich in Supermärkten und Nobelrestaurants, erscheint den Gläubigen in öffentlichen Verkehrsmitteln und leerstehenden Mietshäusern. Er prophe-zeit die Speisung der Armen, kostenlose Personenbeförderung und billigen Wohnraum für alle: San Precario erobert die Herzen der Italiener. Der Hl. Preka-rius (von it. precario = vorläufig, ohne Garantie), Märtyrer der Flexibilität, ist zum Schutzpatron aller Menschen ohne soziale Sicherheiten erhoben worden. Arbeitslose verehren ihn ebenso wie befristet Eingestellte, Billigentlohnte, werdende Mütter, Wohnungssuchende und Asylbewerber. Am 6. November hat die erste landesweite Wallfahrt stattgefunden, zu der sich mehrere tausend Pilger in Rom zu-sammenfanden. Dabei ereignete sich das erste Prekarius-Wunder: Keiner der aus allen Landesteilen per Bahn angereisten Frommen brauchte einen Fahrausweis – zähneknirschend hat TrenItalia ihre Bußgelddrohung gegen die organisierten Freifahrer zurückgezogen. In Rom kam es auf Geheiß des Heiligen zu »Gratiseinkäufen«, die nun allerdings strafrechtlich verfolgt werden. Gegen prominente Vertreter der beteiligten New-Globals und der Arbeitslosenbewegung ist Anzeige erstattet worden. Doch der Staatsschutz schreckt die Precario-Gemeinde nicht. In Berlusco-nien gewinnt der Kult täglich neue An-hänger, speziell aus der verarmenden Mittelklasse. Denn für einen Großteil der italienischen Familien ist der Alltag zu einem Existenzkampf geworden. In einem Land mit traditionell niedrigem Lohnniveau (etwa 50 bis 70 Prozent des deutschen Durchschnitts, Manager- und Politikergehälter ausgenommen) hat die mit der Einführung des Euro begonnene Angleichung der europäischen Verbrau-cherpreise schreckliche Folgen, die sich durch die Liberalisierung des Woh-nungsmarktes noch verschlimmern. In Durchschnittshaushalten geht mittler-weile über die Hälfte der Einkünfte für die Kaltmiete drauf. Bei Genußmitteln, Reisen, Bekleidung und selbst bei Grundnahrungsmitteln ist der Konsum stark rückläufig. Armut wird vor allem für die vielen alten Menschen, die mit 600 Euro Rente im Monat auskommen müssen, zum Normalzustand. Im ganzen Land verzeichnen die Armenküchen re-gen Zulauf. Die jungen Leute haben an-gesichts systematischer Aufweichung von Arbeitnehmerrechten und Tarifab-kommen kaum noch Mut zu Zukunfts-plänen. Wer hier nicht zum oberen Viertel gehört, hat nur noch eine Hoffnung: Er betet zu Sankt Prekarius, das soll gegen Liberalismus helfen. Der inoffizielle Heiligenkalender ver-merkt ihn übrigens am 29. Februar. Matthias Zucchi
Hohe Miete und vergiftete LuftDie Inselstadt Venedig, bevorzugtes Ziel von Hochzeitsreisenden, zählt jährlich 13 Millionen Touristen, die meist nur für einen Tag kommen und sich gegenüber der Geschichte und den Kulturschätzen wenig interessiert zeigen; ein paar Erinnerungsfotos mit der Rialtobrücke, mit Gondeln und mit Tauben auf dem Markusplatz genügen ihnen. Dieser Massentourismus deformiert die Stadt. Ihr Eigenleben verödet – auch wegen der horrenden Miet- und Kaufpreise auf dem Immobilienmarkt. Reiche Ausländer vertreiben die Einheimischen aus der teuersten Stadt Italiens aufs Festland. Innerhalb von 50 Jahren ist die Einwohnerzahl von 175 000 auf 60 000 gesunken. Am jenseitigen Ufer aber entwickelte sich äußerst dynamisch modernste Industrie, die großen privaten Reichtum und schreckliche Umweltschäden hervorbrachte. Wie die Abgase der Chemiewerke Kunstwerke von unschätzbarem Wert zurichten, schilderte der Schriftsteller Dino Buzzati schon vor 30 Jahren: »Der Stein wird krank, wird weiß, wird zu Gips, zu Mehl. Von einem Tag auf den anderen findet man des Morgens zu Füßen der Madonnen, der Christusfiguren, der Heiligen diesen kleinen tödlichen Schnee... So stehen auf den Giebeln, auf den Kuppeln, auf den Türmen, auf den Gesimsen, auf den Altären, in den Nischen Venedigs aussätzige Engel, aussätzige Madonnen, aussätzige Christusfiguren, aussätzige Heilige...« Was den Marmor zersetzt, verschont den Menschen nicht. Die Rate der Krebserkrankungen ist in der Region Venedig außerordentlich hoch. Wo jährlich Zigtausende Tonnen Chemieabfall in die Luft, ins Wasser, in den Boden »entsorgt« werden, ist es kein Wunder, daß mehr Kinder als an irgendeinem anderen Ort Italiens an Asthma leiden. »Wahre Kriminalgeschichten aus der Lagunenstadt« – so der Untertitel – erzählt Regine Igel in ihrem Buch »Das andere Venedig«, sprachlich weniger elegant als Donna Leon, aber sehr informativ und, wenn man die ersten vierzig Seiten hinter sich gebracht hat, auch immer unterhaltsam und spannend. Sie berichtet auch von Sondergesetzen für den Umweltschutz in Venedig. Die Politiker in Rom haben dafür viele Milliarden Euro bewilligt. »Der einzige Nutzeffekt dieser Gelder«, zitiert sie Greenpeace, »war, daß einige Leute durch sie sehr reich geworden sind. Aber kein Gramm Gift wurde entfernt.« Immerhin gelang es einzelnen mutigen Staatsanwälten wie Gabriele Bortolozzo und Felice Casson, schwere Ver-brechen des Kapitals aufzuklären, die Finanzpolizei als kriminelle Bande zu enttarnen und ins dichte Gestrüpp von Geheimdienst, NATO und Terrorismus hineinzuleuchten. Ob gleiche Ermittlungserfolge in Deutschland möglich wären, wo die Staatsanwälte weisungsgebunden sind, ist fraglich. (Allerdings: Weil deutsche Staatsanwälte weisungsgebunden sind, fehlte es bisher offenbar an Gründen, sie zu erschießen wie viele ihrer italienischen Kollegen.) E. S. Regine Igel: »Das andere Venedig – Wahre Kriminalgeschichten aus der Lagunenstadt«, Lamuv Verlag, 264 Seiten, 16.80 €
Blick auf VerdrängtesDer Naschmarkt »... lag eingekeilt zwischen Rechter und Linker Wienzeile auf einem seit mehr als hundert Jahren unterirdischen Stück des Flusses, der Wien« – mit diesen Worten charakterisiert Doron Rabinovici einen der zentralen Schauplätze seines neuen Romans. Eine fast symbolhafte Szenerie: Unterspült von der verdrängten Wien findet hier multikulturelles Treiben statt, eingeengt von den Zwängen der Gesellschaft und dem Ballast ihrer – ebenfalls verdrängten – Geschichte. Denn um die Neigung zum Verdrängen geht es in diesem Buch. Der einleitende Satz »Einmal muß Schluß sein!« zieht sich wie ein Leitmotiv durch die Handlung. In immer neuen Varianten wird der Neurologe Stefan Sandtner mit dieser Problematik konfrontiert: Er will nach einer gescheiterten Beziehung seine ehemalige Freundin vergessen, behandelt einen früheren SS-Mann, der seine Taten erfolgreich verdrängt hat und sich nun, auch angesichts seiner Kinder, im Alter als Demenzpatient doch wieder mit seiner Vergangenheit konfrontiert sieht. Aufmerksam gemacht auf diesen Patienten hat ihn Paul Guttmann, der als rumänischer Jude den Holocaust überlebte und nun wieder wachsendem Antisemitismus begegnet. Stefan Sandtner versucht, sich der verdrängten Vergangenheit zu stellen und das Erwachen der neuen Rechten zu verfolgen. Und er scheitert im ganz privaten Bereich, als er die serbische Videokünstlerin Flora Dema kennen- und liebenlernt, sich aber als unfähig erweist, ihr und ihrem Kameramann in ihrer prekären Lage zu helfen; beide arbeiten als vermeintliche Flüchtlinge in Wien und wollen die soziale Gesinnung der Wiener filmisch dokumentieren. Statt ihre Nöte und Traumata aufgrund des Kriegs in Jugoslawien auch nur ansatzweise zu verstehen und ihnen zu helfen, verdrängt Stefan Sandtner alles, was seine aufkeimende Liebe stören könnte, und untergräbt so die Basis einer gemeinsamen Perspektive. Auch wenn das Thema ausgereizt scheint: Doron Rabinovici ist hier mit seinem Blick auf verdrängte Probleme in Wien ein spannend erzähltes, psychologisch genau gezeichnetes Gesellschaftspanorama gelungen, das Klischees vermeidet und immer wieder dazu anregt, sich selber zu fragen, wie weit man bereit ist, sich der Leichen im eigenen Keller zu erinnern, statt sich bequem um Probleme herumzumogeln. Andreas Rumler Doron Rabinovici: »Ohnehin«, Roman, Suhrkamp Verlag, 256 Seiten, 18.90 €
Worüber die Mutter wenig sprachDer Titel »Ein Kapitel aus meinem Leben« ist zweideutig. Zum einen meint er die Zeit im Leben von Lizzy/Lisa Kohlmann/ Friedmann/ Philby/ Honigmann, der Mutter der Autorin, als sie mit dem berühmten Meisterspion Kim Philby zusammen war, worüber sie nicht viel sprach. Zum anderen ist wohl auch die Erinnerung der Tochter (geboren 1949) an die Mutter gemeint: ihre gemeinsame Zeit in der DDR und der Wechsel im Verhältnis der beiden, als aus dem Kind eine junge Frau, Mutter und Schriftstellerin wurde, die im Leben der Mutter Stoff für einen Roman gefunden hat. Wer Kundschaftermaterial oder neue historische Fakten erwartet, wird enttäuscht. Wer sich aber dem lakonisch heiteren Stil der Erinnerung an eine sehr eigene, wunderbare Frau, die manches Geheimnis ihres Lebens mit ins Grab nahm, einfach hingibt, hat großen Gewinn und Genuß. Da wird ein Leben – Trennung von der jüdischen bürgerlichen Familie, Eigenständigkeit und Zuwendung zur sozialistischen Bewegung, Emigration, Parteidisziplin, wechselnde Partnerschaften, Auf und Ab in Wohlstand und Not, scheinbare Ankunft und Heimat in der DDR, bei der es nicht bleiben sollte – auf eine Art beschrieben, die Lizzy so vorstellbar macht, daß man glaubt, sie gehöre schon lange zu den eigenen Bekannten. Und genau da habe ich mein besonderes Leseerlebnis, denn ich kannte und kenne einige Frauen und Männer mit ähnlichen Lebensläufen und möglicherweise ähnlichen oder ganz anderen Charakteren. Ich weiß, wie sie stets versuchten, die kleine DDR welthaltiger, klüger, individueller und heiterer zu machen. Voll eigener Widersprüche, pendelnd zwischen Einsicht und Protest, Glauben und Erkennen, Wirken und Resignieren lebten sie zwischen uns, und ich bewunderte ihren Witz und ihre Weisheit, ihre Geduld. Es ist hohe Zeit, darüber nachzudenken, was sie eingebracht und bewirkt haben. Barbara Honigmann hat mit ihrem Buch einen Mosaikstein gelegt. Christel Berger Barbara Honigmann: »Ein Kapitel aus meinem Leben«, Carl Hanser Verlag, 142 Seiten, 15,90 €
Triumph der ToleranzTränen sprechen vom Scheiden, vom Sterben, vom Schluß. Besser als jedes Wort. Jakob Hein erlebt es, als er sich an das Bett seiner todkranken Mutter setzt und weint und damit sagt, was nicht gesagt wird. Hein schildert diesen Moment in fünf schlichten Zeilen seines Buches »Vielleicht ist es sogar schön«. Das Buch ist ein erzählerischer Bericht über die besondere Beziehung zwischen Mutter und Sohn. Das Besondere konzentriert sich in einzelnen Geschichten. Der Autor hat das Talent, in Einzelheiten das Ganze erkennbar zu machen. Zum Ganzen gehört die Herkunft der Mutter. Nie hat sie ihren jüdischen Vater zu Gesicht bekommen. Immer ist sie eine Fremde geblieben in der jüdischen Gemeinde Ostberlins. Die gewünschte Grabstelle auf einem jüdischen Friedhof wurde der Verstorbenen verwehrt. Jakob Hein erzählt vom Triumph der Toleranz in Zeiten der Intoleranz. Das Buch ist voller Beispiele praktizierter Toleranz der starken, beispielgebenden Christiane Hein. Bernd Heimberger Jakob Hein: »Vielleicht ist es sogar schön«, Piper Verlag, München 2004, 165 Seiten, geb., 16,90 €
Walter Kaufmanns LektüreHier wird heute ausnahmsweise keine Neuerscheinung angezeigt. Bei der Kurzlebigkeit vieler guter, oft auch sehr guter Bücher, ihrem schnellen Verschwinden von den Bestsellerlisten, darf man froh sein, daß sich Regina Scheers »AHAWAH Das vergessene Haus« seit den frühen neunziger Jahren bis heute gehalten hat, als Taschenbuch in vierter Auflage vorliegt und im Aufbau Verlag so etwas wie ein Klassiker geworden ist. Die beharrlichen Nachforschungen der Autorin sind belohnt worden. Bewundernswert gibt sie aus einem kleinen Fenster eine weite Sicht frei: Am Beispiel der Geschichte eines einzigen Hauses in der Berliner Auguststraße macht sie das Schicksal jüdischer Menschen in ganz Nazideutschland nacherlebbar – und parallel dazu das Verhalten deutscher Nachbarn zu ihren bedrohten Mitmenschen: Mut, Feigheit, Gleichgültigkeit, Hilfsbereitschaft, Verrat, Habgier. Regina Scheer deckt auf, was ihr aufzudecken möglich war. Den Leser bezieht sie in ihre Spurensuche ein, nimmt ihn mit in die Auguststraße, die Mulackstraße, die Große Hamburger, hält ihn an ihrer Seite, wenn sie an Türen klopft, um Zeitzeugen aufzuspüren und zu befragen, und versichert sich seiner Anteilnahme. Mit Erschütterung wird er erfahren, wie ein jüdisches Kinderheim zu einer Sammelstelle für den Abtransport jüdischer Menschen in die Vernichtungslager werden konnte. Und bereichern werden ihn die intimen Einblicke in jüdisches Leben, das untergegangen ist und so in deutschen Landen nie wieder sein wird. Regina Scheers Buch ist ein Buch zum Aufbewahren. W.K. Regina Scheer: »AHAWAH Das vergessene Haus«, Aufbau Taschenbuchverlag, 320 Seiten, 8.95 €
Deutscher, am deutschestenDie 48 Portraits »Deutscher Gestalten«, die der emeritierte Pädagogikprofessor Hartmut von Hentig und der Schriftsteller Sten Nadolny teils bei 25 Freunden und Kollegen erbaten, teils selbst verfaßten, können in zwei Rubriken eingeteilt werden: die größere Gruppe der historischen Persönlichkeiten (vom Frankenkönig Karl bis Adenauer und Brandt) und die der deutschen Typen oder typischen Deutschen, zu denen hier etwa Pflichtmensch, Oberlehrer und Antisemit zählen. Wie jede Anthologie ist auch diese subjektiv. Es ist daher müßig zu fragen, warum dieser enthalten ist und jene nicht. Nicht nur inhaltlich, auch stilistisch changiert der Band: zwischen essayistisch aufbereiteter Geschichte und stark literarisierten Geschichten. Der Band soll ins Russische und in andere osteuropäische Sprachen übersetzt werden. Die beteiligten Autoren unterstützen das Unterfangen, indem sie auf Honorar verzichteten. Verständnisschwierigkeiten scheinen jedoch vorprogrammiert – in den Beiträgen etwa, wo die künstlerische Freiheit auf Kosten der für ausländische Leser gebotenen Faktenvermittlung geht. Herbert Rosendorfers Artikel über Karl den Großen zum Beispiel ist zwar erzählerisch meisterhaft, da mit dem für den Schriftsteller typischen Humor gewürzt, aber verstiegen. Deshalb ist zu befürchten, daß dem russischen Publikum, sofern nicht in westeuropäischer Historie bewandert, Rolle und Bedeutung dieses legendären Herrschers verschlossen bleiben. Im Gegensatz dazu informiert Ursula Krechels Portrait über Rosa Luxemburg auf relativ engem Raum ebenso umfassend wie tiefgründig. Gleiches kann auch für die Ausführungen Hartmut von Hentigs über Marion Gräfin Dönhoff gelten und für die Lebensbeschreibung der preußischen Königin Luise, die F. C. Delius beisteuert. Jens Sparschuh überrascht in seinem Artikel über Immanuel Kant mit dem kühnen Hinweis, der Königsberger Denker sei der »deutscheste aller Philosophen«. Wie dieser Superlativ zu deuten ist, darüber darf über die Lektüre dieses ambivalenten Bandes hinaus gegrübelt werden. Kai Agthe Hartmut von Hentig / Sten Nadolny: »Deutsche Gestalten«, Deutscher Taschenbuch Verlag, 237 Seiten, 9 €
Kreuzberger NotizenDieser Artikel ist aus urheberrechtlichen Gründen nicht verfügbar.
MenschenleerHaben Sie schon die »Flick-Collection« gesehen? Ich war einige Stunden dort. Sah zum Beispiel von Dan Flavin »Ohne Titel 1996«: 40 gleiche Neonröhren, paarweise angeordnet. Sah einen Teil des zweistündigen Films »102nd Street« von Rachel Khedoori: Häuser, parkende Autos. Sah die Installation »Wintergarten« von Marcel Broodthaers: einen Saal mit einigen Klappstühlen und Palmen sowie einem Feuerlöscher und einem Videogerät, das gerade nicht funktionierte. Und »Wartesäle« von Jean-Frédéric Schnyder: 93 Gemälde von Aufenthaltsräumen, in denen sich niemand aufhält. Auf Thomas Ruffs Fotos sah ich leere Zimmerecken, auf Thomas Struths Fotos Hochhäuser ohne Lebenszeichen. Von Menschen bekam ich kaum anderes als Genitalien zu sehen. Eine Ausnahme: Wolfgang Tillmanns zeigt aus Zeitungen ausgeschnittene Foto-Aufnahmen fröhlicher US-Soldaten. Ich sah mich mit viel Langeweile und Brutalität konfrontiert. Ist das die Kunst der Gegenwart? Oder ist es eben einfach nur die, die Milliardäre heutzutage durch Kauf fördern und mit der sie – als die Herren des Kunstmarkts – erfolgreich spekulieren? Eckart Spoo
Press-KohlIn der Arbeitslosen-Zeitung die stütze war eine Betrachtung zum Thema »Arbeitsplätze anbieten wird das Hauptproblem« abgedruckt. Der Autor, vorgestellt als kultur- und medienpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, betonte: »Wir sollten auch in den neuen Bundesländern nicht so tun, als stielten wir uns aus der Verantwortung.« Freund Benno Jochenwitz bemerkte: »Fast jedesmal, wenn ich etwas aus der Feder von Günter Nooke lese, bewundere ich den Stiel des Mannes.« * Wie spielt Jos van Immerseel auf alten Erard-Flügeln Klavierwerke von Debussy und Brahms? Das hat uns Jan Brachmann (»Spaziergang durch die Klavierwelt vor 1914«, Berliner Zeitung) ganz schön plausibel verklausuliert, und zwar so: »Der Klang eines solchen Instruments mit seinem deutlichen Unterschied von Anschlag und Ausschwingen der Saiten ist sehr belebt; er kommt manchmal dem Vibrato der menschlichen Stimme nahe. Diese ausdruckshafte, quasi subjektive Innigkeit steht Brahms gewiß näher als Debussy. Andererseits besitzt dieser Ton auch einen rein sinnlichen Eigenwert jenseits des Ausdruckshaften. Mit einer geradezu tastbaren Fähigkeit erinnert er auch an Gobelins und macht Debussys Liebe für das Frankreich des 18. Jahrhunderts, die Musik Rameaus, die Bilder Watteaus, verblüffend plausibel. So brachte Immerseels Vortrag genußvoll die Kategorien ins Flackern, mit denen wir die Musik stillzustellen gewohnt sind.« Was er gesagt hat, weiß man nicht genau, aber wie er’s gesagt hat, besitzt auch im Ton einen rein sinnlichen Eigenwert jenseits des Ausdruckshaften und erinnert schon wegen der geradezu tastbaren Fähigkeit auch an Gobelins und vielleicht noch etwas an Popeline. Aber ehe wir nun die Kategorien genußvoll ins Flackern bringen, wollen wir uns erst die Hände säubern. Marcel Gäding hat (ebenfalls in der Berliner Zeitung) folgende Methode empfohlen: »Man wusch sich mit Kernseife und sonst nichts.« Also ein bißchen Wasser sollte man zusätzlich verwenden. Felix Mantel
Erschienen in Ossietzky 23/2004 |
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