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November 1989 markiert eine Zeitenwende, die größte Zäsur in der Wirtschaftsgeschichte seit der Oktoberrevolution 1917. Aus fundamental ökonomischer Sicht – und damit auch aus weltpolitischer Sicht – handelte es sich gleichzeitig um den größten Sieg des Kapitalismus, seitdem sich dieser gegen den Feudalismus durchgesetzt hatte. Nach dem 9. November 1989 wurde ein riesiges Gebiet mit gewaltigen Rohstoffen und Bodenschätzen und vor allem mit rund 1,5 Milliarden ausbeutbaren Menschen, das lange Zeit der direkten Verfügungsgewalt des privaten Kapitals entzogen war, wieder in den Kapitalismus integriert. Sieht man einmal von einer liebenswerten und einer obskuren Insel (Kuba und Nordkorea) ab, so ist die Welt heute in das Meer des allein übrig gebliebenen, real existierenden Kapitalismus getaucht. Als bald nach dem Mauerfall, am 1. Juli 1990, der Staatsvertrag zwischen BRD und DDR geschlossen wurde, hieß es dort in Artikel 1, nunmehr gelte »die soziale Marktwirtschaft als gemeinsame Wirtschaftsordnung beider Vertragsparteien«, was definiert wurde mit »Privateigentum, freier Preisbildung und grundsätzlich voller Freizügigkeit von Arbeit, Kapital und Dienstleistungen«. In Artikel 2 wurde unmißverständlich klargestellt, daß alle »entgegenstehenden Vorschriften der Verfassung der DDR«, zumal solche »über die Grundlagen ihrer bisherigen sozialistischen Gesellschafts- und Staatsordnung«, ab sofort »ungültig« seien. 15 Jahre danach fällt die Bilanz in Ost- und Westdeutschland überwiegend kritisch aus. Positiv wird im allgemeinen vermerkt, daß die Wende der Bevölkerung individuelle Freiheitsrechte – Freizügigkeit, Organisationsfreiheit und einige neue kulturellen Möglichkeiten – brachte. Negativ wird festgestellt, daß die soziale Ungleichheit, der Abstand zwischen Arm und Reich so groß wie nie zuvor ist. Die Kluft zwischen Ost- und Westdeutschland wurde nur bis zum Jahr 1997/98 reduziert – seither bleibt sie gleich groß und vergrößert sich teilweise wieder. 2003 lag das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner in Ostdeutschland bei 18 580 Euro, 67 Prozent desjenigen in Westdeutschland (27 671 Euro). 1998 war die Kluft gleich groß gewesen; fünf Jahre lang hatte der Osten also nicht mehr aufholen können. Regional sind die Unterschiede noch krasser. Setzt man das Bruttoinlandsprodukt der EU (15 Mitgliedstaaten) gleich 100, dann lag es 2003 in Hamburg bei 182 pro Kopf, in Dessau bei 64. Vorhergesehen hat eine solche Entwicklung kaum jemand. Am 5. März 1990 behaupteten allerdings drei kleinere, linke politische Organisationen aus DDR und BRD (Vereinigte Linke, Die Nelken und Vereinigte Sozialistische Partei) in einer gemeinsamen Erklärung: »Wir gehen davon aus, daß der Anschluß der DDR an die ›soziale Marktwirtschaft‹ tausende DDR-Betriebe zur Aufgabe zwingen und ein zusätzliches Arbeitslosenheer von 1 bis 1,5 Millionen Menschen schaffen wird.« Das wurde damals als Schwarzmalerei denunziert. Tatsächlich gab es 2003 in Ostdeutschland im Jahresdurchschnitt nach offizieller Statistik 1,624 Millionen Erwerbslose und in Gesamtdeutschland 4,3 Millionen offiziell registrierte Arbeitslose. Seit dem Mauerfall stieg die Arbeitslosenzahl in Gesamtdeutschland um 1,5 Millionen an, seit 1993, dem letzten Jahr mit deutlich rückläufigem Bruttoinlandsprodukt, steigerte sich die Erwerbslosenzahl immer noch von 3,4 auf 4,4 Millionen oder um eine weitere Million. Die Arbeitslosenquoten differieren zwischen West und Ost um mehr als den Faktor 2. Die soziale und ökonomische Ost-West-Kluft wird inzwischen ideologisiert und als neue politische, angeblich natürlich bedingte Spaltung interpretiert. Der Westen subventioniere den Osten, was auf Dauer nicht machbar sei, so der Tenor. O-Ton Der Spiegel im September 2004: »Vier Prozent des deutschen Sozialprodukts fließen jährlich in die ehemalige DDR, um gleiche Lebensverhältnisse zu schaffen. Das ist mehr als die Zuwachsrate des Bruttoinlandprodukts. Die Republik zehrt von der Substanz. Und Deutschland kommt nicht voran... Die westdeutschen Politiker setzten das Versorgungsversprechen der DDR fort ... Der Staat hat sich übernommen. Die Agenda 2010 und Hartz IV sind die Folge davon.« Das heißt: Die Verantwortung für die gewaltigen neuen Programme zur Umverteilung von unten nach oben und zum Sozialabbau wird den Ossis in die Schuhe geschoben. Der neue Bundespräsident Horst Köhler, der zuvor bereits als IWF-Chef die Vertiefung der Armut im Süden und die fortgesetzte Konzentration des Reichtums im Norden orchestriert hatte, erklärte jüngst im Focus: »Wer die Unterschiede einebnen will, der zementiert den Subventionsstaat.« So gesehen gibt es am 9. November 2004 für den deutschen Durchschnittsmensch wenig Grund zum Feiern, wohl aber für die Reichen in Westdeutschland, die inzwischen auch in Ostdeutschland das Sagen haben. Für sie war die deutsche Einheit der größte Beutezug seit dem Zweiten Weltkrieg, ein fast generalstabsartig durchgeführtes Unternehmen, ein wirtschaftlicher Blitzkrieg, zu dem die Treuhandanstalt und der Geldumtausch im Verhältnis 1 : 1 entscheidend beitrugen. Der damalige Herausgeber der Wirtschaftswoche, Wolfram Engels, schrieb 1990: »Wir haben nicht die Zeit für ein ordentliches, stufenweises Vorgehen« und plädierte wie der größte Teil des westdeutschen Führungspersonals für die »Schocktherapie«. Der Erfolg für diese Kreise ist dreifach zu besichtigen: Als erstes wurde nach dem 9. November 1989 die freiheitlich-demokratische Grund- und Bodenordnung auf die ehemalige DDR übertragen. Es erinnerte an Kolonialpolitik. Walter Friedrich hat dazu in der jungen Welt beeindruckende Zahlen präsentiert. So befinden sich heute gut 70 Prozent der Immobilien in den erneuerten ostdeutschen Städten mit den schicken Kaufhäusern und Einkaufsmeilen, den teuren Hotels und den glitzernden Bank- und Versicherungsgebäuden im Besitz westlicher Investoren. Die Übertragung von Eigentumstiteln wurde durch Gesetze massiv begünstigt, die bei Investitionen in Ostdeutschland bis zu 50 Prozent Steuernachlaß ermöglichten. Die dafür geleisteten Subventionen werden für die vergangenen 15 Jahre auf 150 Milliarden Euro geschätzt. Gleichzeitig führte die Regel »Rückgabe vor Entschädigung« dazu, daß zwei Millionen Westdeutsche Anträge auf Rückübertragung von Grund- und Hauseigentum in den neuen Bundesländern und in Ostberlin stellten. Bisher wurden rund 400 000 derart begehrte Objekte an Wessis übertragen, die oder deren Vorfahren vor Ende des Zweiten Weltkriegs Eigentümer der Immobilien waren. Viele von ihnen waren allerdings in der BRD nach 1949 für den Verlust von Eigentum im Osten entschädigt worden, so daß sie nun doppelt profitierten. Der geschätzte Wert dieser Übertragungen liegt bei 50 Milliarden Euro. Eine Million Wessis profitierte davon. Heute kursiert in Ostdeutschland der Spruch: Die deutsche Einheit ist erst dann vollendet, wenn kein Ossi mehr im Grundbuch steht. Zweitens gelangte fast das gesamte Produktivvermögen der Ex-DDR in Westbesitz. Bis Ende 1989 gab es in der DDR 15 000 staatseigene Betriebe. Die meisten von ihnen gingen pleite. Von den überlebenden industriellen Unternehmen befinden sich gerade noch fünf Prozent im Eigentum von Ostdeutschen. 85 Prozent des industriellen Anlagevermögens sind Eigentum Westdeutscher. Zehn Prozent gehören Ausländern. Der Gesamtwert des Produktivvermögens aus der DDR war Anfang der neunziger Jahre von west- und östlichen Experten auf umgerechnet 200 Milliarden Euro geschätzt worden. Die Treuhand zahlte zudem rund 130 Milliarden Euro Kapitalhilfe an diejenigen Wessis und Ausländer, die Produktivvermögen der DDR übernahmen – eine zusätzliche Subventionierung. Günter Grass meinte mit Blick auf diesen Raubzug Ende der neunziger Jahre: »In der Bundesrepublik wird heute ein Kapitalismus praktiziert, wie er früher in der kommunistischen Propaganda als Karikatur dargestellt wurde. Das ist das schlimmste Ergebnis, das wir erreicht haben.« Detlev Rohwedder, der 1991 für einen Monat Chef der Treuhandanstalt war und dann ermordet wurde, sah das nicht anders. Er bilanzierte: »In der ehemaligen DDR wird, was die Verwirklichung kommerzieller Interessen angeht, nun wirklich jede Scham beiseite gelegt. Manche Leute nehmen sich Unverschämtheiten heraus, die in Westdeutschland schlechthin unmöglich wären.« Da sich die Ungleichheit der Lebensverhältnisse vergrößert, hält die Ost-West-Wanderung an. 1990 lebten auf dem Gebiet der DDR 14,8 Millionen Menschen. Heute sind es 13,5 Millionen, 1,3 Millionen weniger. Genau besehen dürften inzwischen mehr als zwei Millionen Ostdeutsche abgewandert sein, denn umgekehrt siedelte rund eine Million Wessis in den Osten über. Ibn die Rechnung gehören 15 Jahre nach dem Mauerfall auch noch 500 000 Menschen, die im Osten wohnen und – meist auf Wochenbasis – in den Westen zur Arbeit pendeln. Steffen Reiche, damals brandenburgischer Bildungsminister, äußerte 2003: »Wir verzeichnen die dramatischsten Bevölkerungseinschnitte seit dem 30jährigen Krieg.« Drittens drücken das niedrigere Einkommensniveau und die härteren Arbeitsbedingungen permanent auf das westdeutsche Einkommensniveau der Lohnabhängigen und auf deren Arbeitsbedingungen. Erstmals seit Ende des Zweiten Weltkriegs sinken hier die Reallöhne, verlängern sich die Arbeitszeiten und steigt die Arbeitsintensität, der Streß. Kurz: Die Verwertungs- und Ausbeutungsbedingungen des Kapitals haben sich enorm verbessert. Im Herbst 2004 liegen die ostdeutschen Löhne immer noch um 25 Prozent unter Westniveau. Im Osten arbeitete 2003 ein Vollzeitbeschäftigter 1450 Stunden; im Westen waren es 1340 Stunden. Im Sommer 2003 erlitt die Gewerkschaft IG Metall eine herbe Niederlage, als sie in Ostdeutschland die 35-Stunden-Woche durchsetzen wollte. Seither wurden hauptsächlich im Westen neue Tarifverträge mit Öffnungsklauseln für die Verlängerung der Arbeitszeit vereinbart und einzelne Belegschaften (wie diejenigen von Siemens und DaimlerChrysler) zu Gratis-Mehrarbeit erpreßt. Der Krankenstand lag im Frühjahr 2004 auf dem tiefsten bisher registrierten Niveau (3,35 Prozent). Bezahlung unter Tarif ist – vor allem in Ostdeutschland – nichts Besonderes mehr, und auch Tarifverträge sehen heute nach Lohndumping aus. Nach jüngsten Feststellungen der Bundesregierung gibt es in Gesamtdeutschland bereits 130 gültige Tarifverträge für 690 Tätigkeitsgruppen, nach denen weniger als sechs Euro brutto pro Stunde gezahlt werden. Der geringste tarifliche Stundenlohn beträgt 2,74 Euro brutto für kaufmännische Angestellte im Gartenbau in Sachsen. In der Konsequenz stiegen die Gewinne 15 Jahre lang kontinuierlich an. Die Unternehmens- und Vermögenseinkommen lagen 1991 bei 628 Milliarden Mark, 2000 erreichten sie 815 Milliarden DM oder 417 Milliarden Euro. Im ersten Halbjahr 2004 waren es bereits 252,2 Milliarden, was rund 500 Milliarden Euro im Gesamtjahr 2004 erwarten läßt. Der zurückbleibende Binnenmarkt – vor allem Folge der Rekordarbeitslosigkeit und des Angriffs auf die Realeinkommen – und die extrem verbesserten Verwertungsbedingungen lassen die deutschen Exporte anschnellen – von 586 Milliarden Euro 1999 auf 767 Milliarden Euro 2003. 2003 wurde die BRD erstmals seit Anfang der neunziger Jahre wieder »Exportweltmeister«. Ein besseres Prädikat kann man sich als Kapitalist für den »Standort Deutschland« eigentlich nicht wünschen. Dennoch heißt es, siehe oben: »Deutschland kommt nicht voran«. Der Grund: In den Kreisen der Profiteure gilt die Losung: »Genug ist nicht genug«. Offen wird heute argumentiert, daß es bis zum Mauerfall die Existenz der DDR war, die den Westen zu sozialen Zugeständnissen zwang. So schrieb der Spiegel: »Die Ostbürger müssen erkennen, daß sie mit ihrer Revolution nicht nur den eigenen Staat abgeschafft haben, sondern auch die alte Bundesrepublik. Denn die war nicht zuletzt ein Reflex auf die DDR, war ein Gebilde, das sich unter dem Druck der Systemkonkurrenz entwickelte… Der Druck ist weggefallen.« In der zitierten Erklärung von Vereinigter Linker, Nelken und VSP vom März 1990 hieß es: »Profitieren sollen bei dem Projekt Anschluß diejenigen, die im Westen immer das Sagen hatten, und in der DDR vielfach diejenigen, die auf betrieblicher Ebene die Entscheidungen trafen.« Edgar Most ist einer, der zur letztgenannten Kategorie zählt. Er war Vizepräsident der DDR-Staatsbank, Träger des DDR-Ordens »Banner der Arbeit«; Most wurde direkt nach der Wende Direktor der Deutschen Bank in Berlin. Er präsentiert sich heute als radikaler Neoliberaler, der den gesamten Osten am liebsten zum Sonderwirtschaftsgebiet, aber auch zur Musterzone Ost erklären würde. Vor einigen Wochen äußerte er: »Ich plane heute mehr als zu DDR-Zeiten. Die Symptome, die zum Niedergang der DDR führten, entdecke ich heute wieder in vielen Bereichen. Das, was in Ostdeutschland passiert, hat Modellcharakter für das gesamte Land. Im Osten kann der Westen besichtigen, was auf ihn zukommt: längere Arbeitszeiten, weniger Lohn, mehr Flexibilität.«
Erschienen in Ossietzky 23/2004 |
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