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Anläßlich der jüngsten Parlamentswahl, die mit einem Referendum über die Möglichkeit einer Verlängerung der Amtszeit des Präsidenten verbunden war, wurde Belarus in fast allen Medien geschmäht. Und US-Präsident Bush drohte wegen Unregelmäßigkeiten bei der Wahl mit Sanktionen – ausgerechnet der berüchtigte Wahlsieger Bush. Andeutungen in deutschen Medien über Menschenrechtsverletzungen in Belarus blieben im Vagen. Wer bei amnesty international einen aktuellen Bericht über die Menschenrechtslage dort anfordert, erfährt wenig beunruhigendes Neues; die konkretesten Vorwürfe reichen mehrere Jahre zurück. Ich war – als Vertreter der Gesellschaft für Bürgerrecht und Menschenwürde – einer von 658 Wahlbeobachtern aus 56 Ländern. Die Mehrheit der Beobachter kam zu der Überzeugung: Die Wahlen sind offen, frei, demokratisch und legal verlaufen; Fälschungen wurden nicht festgestellt. Ein paar hundert oppositionelle Belarussen, deren Vereinigte Bürgerpartei eine schwere Wahlschlappe erlitt, sprachen zwar von Fälschungen, blieben aber Beweise schuldig. Dennoch machten sie das mediale Rennen, nicht die 79,42 Prozent der Wähler, deren Ja beim Referendum als Vertrauensbeweis für Präsident Lukaschenko gewertet werden kann. Von Wahlfälschungen sprach auch die Delegation der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die schon bei der letzten Präsidentenwahl mit einem vorgefertigten Bericht überrascht hatte, vorbereitet von dem früheren Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes, Wieck. Das Verhalten der OSZE, die offen und geheim die Opposition im Lande unterstützte, bewirkte in Belarus große Verbitterung. Immer wieder hörte ich Stimmen wie diese: »Warum mischt sich die OSZE in unsere inneren Angelegenheiten ein? Warum bringt sie uns in Verruf? Bei uns kann jeder wählen und gewählt werden. Warum kümmert sich die OSZE nicht beispielsweise um die Wahlen in Lettland, wo 200 000 Russen als Minderheit von Wahlen gänzlich ausgeschlossen sind?« Es ist eben gefährlich, von USA und NATO als eine Ecke im strategischen Dreieck mit Rußland und der Ukraine betrachtet zu werden, die sowohl ihre Ostausdehnung und weitere Kolonialisierungsstrategie stört als auch objektiv eine bedeutende Rolle im europäischen Wirtschaftsraum spielt, besonders als Transitland für das russische Erdöl (50 Prozent) und Erdgas (25 Prozent). Belarus hat als – wenn auch kleines, so doch bedeutendes – Industrieland mit einem Vorjahrswachstum des Bruttoinlandprodukts von 10, 2 Prozent und der Industrie von 14,2 Prozent, einer ausgeglichenen Exportstruktur von je 40 Prozent nach Rußland und Westeuropa sowie einem Handelsüberschuß gegenüber der EU von einer Milliarde US-Dollar durchaus Gewicht. Jeder vierte Kipplader der Welt kommt aus diesem kleinen Land mit neun Millionen Einwohnern. Nach UNO-Statistiken hat es den höchsten Lebensstandard der Nachfolgestaaten der Sowjetunion und ein wachsendes Pro-Kopf-Einkommen – seit 1994 ist es von 21 auf 195 Dollar im Monat gestiegen, im nächsten Jahr soll es sich schon auf 250 erhöhen, in den nächsten fünf Jahren auf 500 Dollar. Ein Fremdkörper im neoliberalen Umfeld des Sozialabbaus. Sogar von einem Modell Belarus für Osteuropa sprach man in einer Fernsehdebatte von Wahlbeobachtern. Unerhört! Und das nachdem Belarus ebenso wie die Ukraine vorerst EU- und NATO-Beitritt aus den Zielen der eigenen Wirtschafts- und Außenpolitik gestrichen hat. Belarus ist kein Land für Nostalgiker der Sowjetunion, kein Modell Sozialismus, eher ein staatskapitalistisches Land. Aber nannte Lenin den Staatskapitalismus nicht einen Weg zum Sozialismus? Werden hier nur notwendige Akkumulationsprozesse nachgeholt? Jedenfalls nicht unter Führung der Partei. »Tja, was heißt schon Sozialismus?« sagte der Leiter einer Agrarkooperative, der uns gerade stolz deutsche Technik zeigte: Landmaschinen aus dem Westen und eine Futtermischanlage aus der DDR. »Seit dem Sozialismus hat sich unsere Produktion um 50 Prozent erhöht.« Ich hörte sehr Unterschiedliches. »Wir leben doch alle noch in einer asiatischen Produktionsweise«, sagte einer. Doch viele stimmten darin überein, daß Markt, Management und Schutz vor Ausplünderung durch innere und äußere Spekulanten das Erfolgsrezept seien. Die Betriebe sind im wesentlichen Aktiengesellschaften, in denen der Staat eine Majorität hat. Die Agrarkooperativen beruhen großteils auf genossenschaftlichem Eigentum. Eine übermäßige Überfrachtung der Wahlen durch »große Politik« scheint man in Belarus eher zu meiden, muß man doch viel Widersprüchliches unter einen Hut bringen. Lukaschenko ehrte kürzlich ebenso Felix Dsershinski, den Gründer des sowjetischen Geheimdienstes, dem in seinem Geburtsort ein Denkmal gesetzt wurde, wie ein Jahr zuvor anläßlich des Todes von Wassil Bykau diesen großen Schriftsteller und Kritiker der Sowjetunion. Daß man ein atomwaffenfreies Land ist und sich in keinen Krieg verwickeln will, gilt als Selbstverständlichkeit. Ich hörte viel über die Erfolge und gewann den Eindruck, den Menschen sei das Definitorische nicht so wichtig. Ob Sozialismus oder Kapitalismus, Hauptsache erfolgreich. Sie sagen es oft, sie möchten in Ruhe arbeiten, gutes Geld verdienen und sich um ihre Familie kümmern. Valentin, unser Fahrer, hatte immer einen ganzen Sack voller Sprüche parat. »Was wollen wir mehr. Die Kugeln fliegen uns nicht um die Ohren, die Kneipen explodieren nicht, die Häuser fallen nicht zusammen. Wir haben die Armut überstanden. Nun werden wir das gute Leben auch durchstehen.« Belarus ist bis in die letzten Zipfel des Alltagsdenkens europasüchtig. Wenn man die Wohnung neu tapeziert oder Häuserfassaden renoviert, alles heißt »Evro-Remont«, Europaputz, Euroverschönerung. Wie soll ich das übersetzen? Gelegentlich wird erwähnt, daß Belarus die geografische Mitte Europas bilde. Die alten Institutionen genießen unübersehbar kein Ansehen mehr. Parteien will man kaum noch. Und so ist auch den 17 Parteien des Landes, von denen elf zu den Wahlen angetreten waren, mißlungen, was Max Weber ihnen vor allem zudachte: »primär Organisationen für die Werbung von Wahlstimmen« zu sein. Nur zwölf von 110 Abgeordneten werden vier Parteien im neuen Parlament vertreten, darunter die Kommunisten. Die Zauberformel für den erfolgreichen Wahlkampf der Kandidaten heißt »parteilos«. Sie werden den Wählern auf Aushängen vorgestellt, sie müssen nicht nur ihre Profession, ihr Alter und ihren Familienstand, sondern auch ihr Monatseinkommen und ihr Vermögen, Auto, Datsche angeben. Wer schwindelt, wird gestrichen. »No cheating« (keine Betrügerei) heißt es allenthalben in den USA. Hier wird es praktiziert. Die meisten Kandidaten kommen aus gesellschaftlichen Organisationen und Arbeitskollektiven, andere haben sich durch Unterschriftensammlungen selbst beworben. Man spricht von einer Bürgergesellschaft. Einer autoritären, ergänzen wir. Bitte schön. Das nimmt uns keiner übel. Lukaschenko gilt einer großen Mehrheit der Belarussen als Garant einer eigenständigen Entwicklung des Landes. Wie lange der Präsident seine heutigen Vollmachten behält, wann und wie sie eingeschränkt werden, welchen Weg das Land dann nimmt – das sind Fragen an ein Experiment, das ich mit Spannung und Sympathie verfolge. In Saslavl empfängt uns der Bürgermeister. Er will uns wohl eine Freude damit machen, daß er ein Loblied auf Erhards soziale Marktwirtschaft singt und auf Schröder, der – obwohl es ihm sicher schwer falle – dennoch das Richtige tue. Mein fragender Einwand, wie sich denn die Bewunderung für den Erfinder der sozialen Marktwirtschaft mit der Achtung für deren Zerstörer verbinden lasse, die beide wenig gemein hätten außer ihrem Dienst am gleichen Götzen Kapital, entlockt ihm dann den versöhnlichen Abschluß unseres Gesprächs: »Für Sie ist es vielleicht nicht so schlimm, Ihren Schröder zu verlieren, aber für uns wäre es sehr schlimm, unseren Lukaschenko nicht mehr zu haben.«
Erschienen in Ossietzky 22/2004 |
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