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In der Türkei stellte daraufhin die bedeutende liberale Zeitung Radikal in einem Kommentar lapidar fest, Deutschland sei nicht reif für Europa. Wer im Glashaus sitze, solle nicht mit Steinen werfen. Die Rolle der Frau sei weltweit ein brisantes Thema und dürfe nicht gegen den EU-Beitritt der Türkei in Stellung gebracht werden. Wenn deutsche Journalisten den Fokus auf jede Beziehungskrise in Deutschland, in der getreten, geschlagen und zugestochen wird, und nicht permanent auf gescheiterte türkisch-deutsche Partnerschaften richteten, würden die gesellschaftlichen Verhältnisse in beiden Ländern fairer abgebildet, argumentierte das Blatt in Anspielung auf den Tod einer Deutschen, die in Istanbul von ihrem türkischen Mann erstochen wurde, weil sie ihn verlassen wollte. Radikal warnte jedoch eindringlich vor einer geplanten Unterschriftenaktion: Laizistische Kreise wollten – im Gegenzug zu entsprechenden Plänen von CDU/CSU-Politikern gegen den EU-Beitritt der Türkei – per Unterschrift den EU-Ausschluß Deutschlands fordern. Nach dem Rückzieher Angela Merkels ist die Gegenaktion vom Tisch. Doch das Thema ist damit nicht aus der Welt. Die herablassende und schulmeisterliche Art, wie in Deutschland im konservativ-christlichen Milieu ohne nähere Kenntnis der Lebensumstände in der Türkei über den EU-Beitragskandidaten hergezogen werde, provoziere geradezu Gegenreaktionen, erklärten die Initiatoren in Istanbul und Ankara. Es sei unwürdig und »unchristlich«, eine fremdenfeindliche Stimmung gegen den EU-Beitritt der Türkei zu schüren, um den Rechtsradikalen die Herrschaft über die Stammtische abzunehmen, beklagten die Initiatoren. Den Christdemokraten seien in ihrem politischen Entwurf Begriffe wie Menschenwürde und Ehrgefühl abhanden gekommen. Und das seien nicht speziell europäische, sondern universell erstrebenswerte Grundhaltungen. Die Argumentation für den EU-Ausschluß Deutschlands nimmt die Vorhaltungen gegen einen EU-Beitritt der Türkei Punkt für Punkt auf: Wer der türkischen Bevölkerung zum Beispiel Desinteresse an Europa unterstelle, solle sich zuallererst die desaströse Wahlbeteiligung in anderen Beitrittsländern vor Augen führen. Auch in Deutschland sei der Europa-Gedanke offenbar in erster Linie eine Sache der politischen Klasse, wenn dort nur gut die Hälfte der Wahlberechtigten ihre Stimme für Europa abgebe. Türkischen Menschenrechtlern sind die Jahresberichte des Kölner Komitees für Demokratie und Grundrechte und anderer deutscher Menschenrechtsgruppen vertraut, die in der Bundesrepublik erhebliche rechtsstaatliche Defizite feststellen. So wird moniert, daß es bei Großeinsätzen der Polizei in Deutschland »systematisch« zu Übergriffen gegen Demonstranten komme. Versuche von Betroffenen, sich auf dem Rechtsweg Geltung zu verschaffen, verliefen im Sande. Berichte über rassistische Übergriffe und »ausländerfreie Zonen« in den neuen Bundesländern zeigten, daß die Minderheiten- und Migrantenpolitik in der BRD noch in den Kinderschuhen stecke. Mit Befremden wird zudem das schlechte Abschneiden deutscher Schüler in länderübergreifenden Studien wie PISA wahrgenommen, und in dieses Befremden mischt sich besondere Besorgnis um die in Deutschland lebenden türkischen Kinder. In der Türkei – so die Initiatoren der Unterschriftenaktion – besuchen im neuen Schuljahr 14,5 Millionen Kinder und Jugendliche die Schulen, 25 Prozent der Bevölkerung. Der Schuletat habe einen Anteil von acht Prozent am Gesamtbudget und sei damit größer als der Militärhaushalt. Auch auf den Kopftuchstreit wird in der zurückgezogenen Unterschriftenaktion verwiesen. Kopftücher gebe es in türkischen Schulen nicht. Die Bundesrepublik Deutschland dagegen sei von einer strikten Trennung von Staat und Religion noch weit entfernt: Der Staat treibe die Kirchensteuern ein und dulde trotz höchstrichterlicher Urteile religiöse Symbole in öffentlichen Einrichtungen. Um jedes Mißverständnis auszuschließen, sei hinzugefügt: Die Zeitung Radikal gibt es wirklich, die Argumente auch. Nur eine geplante Unterschriftenaktion in der Türkei ist – bisher noch – Satire.
Erschienen in Ossietzky 22/2004 |
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