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Krieg gegen die Armen

Die europäische Migrationspolitik wird immer rücksichtsloser

von Dirk Vogelskamp

Die Verflüchtigung des Asylrechts in der europäischen Politik offenbart das Dilemma des selektiven Engagements für die Schutzrechte politisch verfolgter Flüchtlinge.

Bundesinnenminister Schily nahm im vergangenen Juli die Affäre um das Flüchtlingsschiff Cap Anamur zum Anlaß, Auffanglager für Flüchtlinge in Nordafrika zu fordern. Die Besatzung der Cap Anamur hatte mit der medienwirksamen Rettung von 37 afrikanischen Bootsflüchtlingen vor der Küste Siziliens versucht, auf den tausendfachen Tod von Migranten auf dem Weg über das Mittelmeer nach Europa aufmerksam zu machen und das abwehrorientierte europäische Migrationsregime zu skandalisieren. Die Aktion scheiterte: Die Bootsflüchtlinge wurden nach tagelangem politischen Gezerre zwischen Italien und Deutschland kurzerhand in einem italienischen Abschiebelager interniert und einem aussichtslosen Asylschnellverfahren unterworfen. Alle bis auf einen der Flüchtlinge wurden umgehend gewaltsam deportiert.

Seitdem präsentieren Politiker aller Couleur diverse Modelle für Ab- und Auffanglager jenseits der EU-Grenzen. Im August gaben der italienische und deutsche Innenminister schließlich bekannt, ein Konzept für Flüchtlingslager in Nordafrika erarbeiten und als Initiative in den EU-Ministerrat einbringen zu wollen. Der Vorschlag, Flüchtlingslager außerhalb der EU-Grenzen zu errichten, ist nicht neu. Bereits im März 2003 legte die britische Regierung Konzeptionen für von der EU finanzierte und vom UNHCR verwaltete "Flüchtlingsreservate" in den Herkunftsregionen der Flucht- und Wanderungsbewegungen vor. Sie orientierte sich dabei am Modell jener Flüchtlingslager, wie sie in Mazedonien und Albanien während des NATO-Menschenrechtskrieges im Kosovo errichtet wurden. Gemäß der britischen Vorstellungen sollten in diesen Flüchtlingsschutzzonen nach einer Karenzzeit mögliche Asylanträge entgegengenommen und bearbeitet werden. Migranten, die europäischen Boden erreichten, sollten kurzfristig interniert und so bald wie möglich in die "Schutzzonen" zurückgeschafft werden.

Die deutsch-italienische Initiative ist ähnlich konstruiert. "Illegale, über das Mittelmeer eingewanderte Migranten" sollen demnach in die nordafrikanischen EU-Außenlager zurückgeführt werden, um dort ihren Schutzanspruch durch einen EU-Beamten überprüfen zu lassen. Diejenigen, die anerkannte Fluchtgründe vorbringen können, sollen in "heimatnahen", mit "akzeptablen Schutzstandards" versehenen Regionen untergebracht, die übrigen, nicht als schutzwürdig erachteten Migranten sollen in die Herkunftsländer zurückgeschoben werden. Der deutsch-italienische Vorstoß steht im Einklang mit den Plänen der EU-Kommission, möglichst viele Transitstaaten in "geeignete Erstasylstaaten" umzuwandeln. Diese Strategie firmiert unter dem menschenrechtlich unverdächtigen Label "den Flüchtlingsschutz auch außerhalb Europas zu stärken".

Das vorgesehene außereuropäische Lagersystem ist seit den EU-Gipfeltreffen von Sevilla (2002) und Thessaloniki (2003) Teil eines europäischen Programms, wie in Zusammenarbeit mit den Transit- und Herkunftsstaaten die irregulären Wanderungsbewegungen "eingedämmt" werden können. Die Bekämpfung der "illegalen Migration" nach Europa hat in den Aktionsplänen der EU inzwischen höchste Priorität erlangt. Dazu wurde ein repressiv ausgerichtetes, kurz- und langfristiges Maßnahmenbündel entwickelt, das darauf zielt, Migration weit im Vorfeld der militarisierten EU-Grenzen zu unterbinden und den Flüchtlingsschutz (oder besser: Schutz vor Flüchtlingen) in die Anrainerstaaten der EU auszulagern.

In der europäischen Sicherheitsdoktrin, in der die Sicherheitsdefinition auf eine offene militärische Interventionsskala zugeschnitten wurde, werden die Flucht- und Wanderungsbewegungen nach Europa und die "Bevölkerungsverschiebungen" als Bedrohungsfaktoren festgeschrieben. Diese inhärente europäische Feinderklärung schließt mit ein, daß Millionen irregulärer Einwanderer in Europa als Illegale kriminalisiert und von elementaren Rechten ausgeschlossen werden. Die beispielsweise durch das neue Zuwanderungsgesetz geregelte Zwangsintegration der erwünschten wird durch den konsequenten Ausschluß der unerwünschten Einwanderer, der Weltüberflüssigen ergänzt. Zu den weiteren Strategien der europäischen Migrationspolitik gehört, den Kampf gegen die unkontrollierte und irreguläre Migration mit dem gegen die "grenzübergreifende Kriminalität und den grenzenlosen Terrorismus" zu verbinden.

Dabei hebt das europäische Migrationsregime gezielt die Unterscheidung von Vertriebenen, Flüchtlingen und Migranten zugunsten konstruierter "bedrohlicher Migrationsströme" auf. Einzig die kleine Schar erwünschter Arbeitsmigranten kann noch auf legalem Wege nach Europa einreisen. Den meisten Flüchtlingen und Migranten wird damit der Zugang zu jenem Teil Europas versperrt, von dem sie sich Überleben, Schutz und Zukunftsperspektiven erhoffen. Das Recht auf Asyl, das Recht auf Mobilität und Leben verflüchtigen sich an den vorverlagerten, verfließenden, sich vervielfältigenden und gewaltstarrenden Grenzen Europas.

Hier setzt gewöhnlich die menschenrechtlich argumentierende, defensive Kritik der asyl- und flüchtlingspolitischen Organisationen an. Sie greift jedoch zu kurz, weil sie ausblendet, daß die europäische Migrationspolitik eine Facette zur Aufrechterhaltung der globalen Ungleichheitsordnung darstellt, aus der sich der Reichtum der Metropolen speist. Das internationale Migrationsregime dient dazu, das Eindringen aus den Zonen der Armut und Gewalt in die Zonen des Reichtums zu verhindern, in die die gewaltsame Globalisierung die Welt fragmentiert hat. Die Verflüchtigung des Asylrechts in der europäischen Politik offenbart somit auch das Dilemma des selektiven Engagements für die Schutzrechte politisch verfolgter Flüchtlinge.

Der Kampf für politische und soziale Rechte, der gewöhnlich mit dem Flüchtlings- oder Aufenthaltsstatus verbunden ist, ist demgegenüber auf alle Migranten unabhängig ihres Aufenthaltstatus auszudehnen. Die bisherige Differenzierung der Flüchtlinge durch manche asylpolitische Organisationen widerspricht der Realität der Migrationszwänge und der Gewalt der globalen Ungleichheitsordnung. Dieses Postulat gilt um so mehr, wenn sich der Trend durchsetzt, daß wertschöpfungsschwache Immigranten wie Arme oder Nichtqualifizierte in den Lagern an der EU-Außengrenze dem Elend preisgegeben werden.

Dirk Vogelskamp ist Mitarbeiter des Komitees für Grundrechte und Demokratie.
Der Beitrag erschein zuerst in der Zeitschrift informationszentrum 3. welt (iz3w), Nr. 280.

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https://sopos.org/aufsaetze/4192db8a4e0e9/1.phtml

sopos 11/2004