Zur normalen Fassung

Eine schwache One-Man-Show

Hintergründe der jüngsten innerpalästinensischen Auseinandersetzungen

von Alexander Flores

Die palästinensische Autonomiebehörde (PA) ist kein ganz normales arabisches Regime. Sie steht seit ihrer Etablierung im Spannungsfeld zwischen den Erwartungen der eigenen Bevölkerung und denen Israels und der westlichen Regierungen, die von ihr vor allem die Ruhigstellung eben dieser Bevölkerung verlangen. Die PA selbst weist zu ihrer Rechtfertigung auf die israelische Verantwortung für die mißliche Lage hin. In der Tat: Israel setzt die Rahmenbedingungen in den Gebieten, die es seit 37 Jahren besetzt hält und seit April 2002 auch territorial praktisch wieder ganz kontrolliert. Es unterwirft dabei nicht nur die dortige Bevölkerung sehr harschen Bedingungen, sondern engt auch die Möglichkeiten der PA stark ein. Die Infrastruktur ist weitgehend zerstört, Arafat ist in Ramallah eingeschlossen. Die Abriegelung der Gebiete und ihre innere Zerstückelung durch Straßensperren sowie die vertragswidrige Zurückhaltung von Steuern und Gebühren bedeuten enorme Verelendung. Und das Bestehen der israelischen Regierung auf die Kontrolle über weite Teile der Gebiete und ihre Weigerung, mit den Palästinensern zu verhandeln, machen jede sinnvolle politische Regelung des Konflikts unmöglich.

Doch auch die palästinensische Führung muß sich an zwei Aufgaben messen lassen: erstens die Beendigung der Besatzung, zweitens die Erfüllung der dringendsten materiellen Bedürfnisse der Bevölkerung. Beides ist aus den genannten Gründen zwar sehr schwer, jedoch sollte man wenigstens klare Perspektiven der Überwindung dieser Lage aufzeigen. Und da ist die Bilanz der PA dürftig. Sie war auf die in Oslo formulierten Kompromisse eingegangen, weil sie sich davon das Ende der Besatzung versprochen hatte, und hatte das auch der Bevölkerung so dargestellt. Dafür hatte sie die Funktion übernommen, für Ruhe und Ordnung zu sorgen und die auswärtigen Hilfsgelder zur Alimentierung der Bevölkerung zu verwalten. Im Lauf der 90er Jahre verschwamm die Aussicht auf das Ende der Besatzung, und selbst die relative Bewegungsfreiheit der Vor-Oslo-Zeit und viele Arbeitsplätze gingen durch die Abriegelung verloren. Der Spagat der PA - Verkörperung nationaler Hoffnungen und gleichzeitig Gendarm Israels zu sein - wurde zunehmend unmöglich. Auch nach dem Scheitern des Oslo-Prozesses im Juli 2000 kann sich die PA offenbar nicht entscheiden, ob sie einen konsequenten Widerstand gegen die israelische Besatzung anführen oder sich nach wie vor kraft der Verträge von Oslo im Bündnis mit Israel sehen und diesem nur seine Verstöße gegen die Verträge vorwerfen soll.

Teil der arabischen Misere

Die Kritik, Arafat habe den Wandel vom Revolutionär zum Staatsmann nicht geschafft, trifft das Dilemma seiner Führung nicht richtig. Arafats politische Sozialisation ist die eines Widerstandsführers, der im arabischen Exil - im zeitweiligen Bündnis mit arabischen Regimes und unter Ausnutzung von Widersprüchen zwischen ihnen - um sein Überleben und das der von ihm vertretenen Bewegung kämpfen mußte. Das ging mit Opportunismus und Anpassung einher. Diese Vorgehensweise ist ihm zur zweiten Natur geworden. Er setzt sie auch nach Oslo fort, nun aber unter anderen Bedingungen und mit Rücksicht auf andere Kräfte, die er nicht immer gut versteht. Das ist als Schwäche der palästinensischen Führung zu beklagen, gleichzeitig aber vor dem Hintergrund der Misere der gesamten arabischen Welt zu sehen, die zur Herausbildung dieses Verhaltens beigetragen hat.

Auch wegen ihrer Struktur und ihres Vorgehens im Inneren wird die PA scharf kritisiert, und zwar sowohl außer- wie innerhalb der palästinensischen Gesellschaft. Sie ist immer noch die autoritäre Ein-Mann-Show Arafats mit all den Anzeichen von Nepotismus, die auch andere arabische Systeme auszeichnen - aber ohne das Minimum an institutionellem Rahmen und entsprechenden Spielregeln, die es in den arabischen Staaten immerhin gibt. Die auf äußeren Druck geschaffene Position eines Ministerpräsidenten hat daran wenig geändert. Dieser ist für die Beziehungen zur westlichen Welt zuständig, aber nach innen hält Arafat an seiner Kontrolle über die Sicherheitsorgane und die Finanzen - und damit der eigentlichen Grundlage der Macht - mit Klauen und Zähnen fest. Persönliche Bereicherung, Korruption und die Begünstigung der alten Garde der "Tunesier", die mit Arafat aus dem Exil gekommen ist, auf Kosten der jüngeren einheimischen Kader werden immer wieder angeprangert. Manchmal wird dies auch durch offizielle Gremien untersucht, aber es hat sich bisher nichts geändert. Die Verfassung wird nicht durchgesetzt, die Rechenschaftspflicht der PA und anderer Behörden gegenüber dem Parlament nicht respektiert. Die Gerichte sind nicht wirklich unabhängig, Kriminalität wird nicht konsequent bekämpft. Diese Situation ruft nach Reformen, die denn auch seit langer Zeit gefordert werden.

Hintergrund und Auslöser der jüngsten innerpalästinensischen Krise ist Scharons Plan, sich aus dem Gaza-Streifen zurückzuziehen - und zwar einseitig, ohne Koordination oder gar Verhandlungen mit den Palästinensern. Das stellt diese vor die Aufgabe, in das entstehende Machtvakuum hineinzustoßen und womöglich etwas daraus zu machen, jedenfalls aber eine Verschlimmerung der Situation zu verhüten. Die traditionelle Führung nahm das als Anlaß zu einem Machtgerangel. Dabei stellten jüngere Fatah-Leute im Gazastreifen die Autorität Arafats über den Sicherheitsapparat in Frage. Nach einigem Hin und Her, in dessen Verlauf der Ministerpräsident Qureia seinen Rücktritt erklärte und später wieder zurücknahm, versprach Arafat erneut Reformen, konnte aber seine Position im Wesentlichen halten. Die Fäden der Revolte zog wohl Muhammad Dahlan, früherer Chef der "Preventive Security" in Gaza und Minister unter Mahmud Abbas, dem große Ambitionen nachgesagt werden und der innerhalb von Fatah eine gewisse Statur hat. Er reitet auf einer Welle des Ressentiments gegen die "alte Garde" und fordert - selbstverständlich! - Reformen. Er unterscheidet sich aber weder durch das Ausmaß persönlicher Bereicherung noch durch ein markantes politisches Programm von Arafat, sondern allein durch einen gewissen Pragmatismus und größere Konzessionsbereitschaft gegenüber Israel. Er hat die Unterstützung der USA, Großbritanniens und Israels und ist offenbar dessen Kandidat für die Rolle des "starken Mannes" in Gaza nach dem israelischen Rückzug.

Protest trotz Einschüchterung

Im Umfeld dieser Krise zeigte sich ein ungewöhnliches Ausmaß der allgemeinen Unzufriedenheit mit der Führung. Geäußert wurde sie von einem relativ starken und vielfältigen zivilgesellschaftlichen Milieu. Dies geht schon auf die Zeit vor Oslo zurück, als in Abwesenheit wichtiger Dienstleistungen für die Bevölkerung Grassroot-Organisationen wie Frauenkomitees, Gewerkschaften, Studentenvertretungen, medizinische Hilfskomitees und andere NGOs entstanden. Seit Oslo wurde auch die westliche Unterstützung dieser NGOs enorm verstärkt. Die PA versuchte all das - vor allem finanziell - zu kontrollieren, was ihr aber nicht gelang. Menschenrechtsorganisationen, welche die Arbeit der PA kritisch überwachen (etwa hinsichtlich der Rechte von Frauen), setzen sich ständig mit den Behörden auseinander und bleiben trotz allen Einschüchterungsversuchen nicht immer erfolglos. Ebenso wird auch im Parlament wiederholt Kritik laut, gerade von Fatah-Abgeordneten, die sich das aufgrund ihres Einflusses eher leisten können als Unabhängige. Und es gibt international bekannte Persönlichkeiten wie Hanan Aschrawi, die sich bei aller Nähe zur PA oft kritisch über sie äußern.

Deutlichste Sprecherin dieses Milieus ist wohl die "Nationale Initiative", die im Juni 2002 auf Initiative von Haidar Abdul Shafi, Mustafa Barghouthi und Ibrahim Dakkak entstand. In Abwesenheit einer breiten organisierten Basis stützt sie sich nicht zuletzt auf die weltweite Solidarität. In der jetzigen Situation verurteilt die Initiative zwar die internen Kämpfe der Palästinenser, wo doch die reale Macht in den Händen Israels sei. Doch sie fordert demokratische Wahlen, die Durchsetzung von Gesetzlichkeit und die Errichtung einer palästinensischen Einheitsregierung, die am ehesten einen aussichtsreichen Kampf für das Ende der Besatzung führen könne.

Die linken Oppositionsparteien sind klein und überdies sind viele ihrer wichtigen Personen von der PA kooptiert. Damit bleiben als stärkste Opposition die Islamisten, vor allem Hamas. Sie pflegen eine Ideologie, die sie als fundamentale Gegner jedes Kompromisses mit Israel ausweist, und kultivieren dieses Image ganz bewußt. Das hindert sie aber nicht daran, pragmatisch und machtorientiert zu agieren, wenn ihnen das passend erscheint. Sie führen einen bewaffneten Kampf unter Einschluß von Selbstmordattentaten und verbinden das mit intensiver Sozialarbeit, was bei den Palästinensern um so besser ankommt, als es im Kontrast zur PA kaum mit Korruption einhergeht. In den letzten Jahren der blutigen, ausweglos erscheinenden Konfrontation ist die Zustimmung zu Hamas gewachsen. Das Programm von Hamas bietet zwar keine Lösung des Konflikts an, ihre Aktionen haben ihn vielmehr verschärft und damit auch den Palästinensern geschadet. Aber ähnlich wie in anderen arabischen Ländern dürften hier Dialog und Einbindung bessere Methoden der Entschärfung sein als frontale Bekämpfung.

Konsens gegen Selbstmordanschläge?

Ein Beispiel dafür ist die Reaktion auf die Selbstmordanschläge gegen israelische Zivilisten im Rahmen der Al-Aqsa-Intifada, die seit Anfang 2001 von Hamas, seit Februar 2002 auch von den mit der Fatah verbundenen Al-Aqsa-Brigaden durchgeführt werden. Viele Palästinenser lehnten sie aus menschlichen und politischen Gründen ab; die PA verurteilte sie stets. Gleichzeitig stimmten ihnen wegen der harten israelischen Unterdrückungspolitik viele andere Palästinenser zu. Der Anreiz, sich durch sie als besonders scharfer Gegner Israels zu profilieren, blieb bestehen, und so war es schwer, sie zu stoppen. Seit etwa einem Jahr vermehren sich in der palästinensischen Presse jedoch die Stimmen gegen solche Anschläge, und es bildet sich ein Konsens heraus, sie als schädlich für die palästinensische Sache zu betrachten und auf gewaltlose Methoden des Widerstands zu setzen. Das hat offenbar seit einiger Zeit zu einer Verringerung der Zahl der Attentate beigetragen.

Die jüngste Krise hat, so intensiv die Kritik an Arafat auch war, vorläufig mit der Konsolidierung seiner Position geendet. Solange die regionalen Umstände - insbesondere die provokative israelische Politik seiner Isolierung - sich nicht ändern, ist nicht zu erwarten, daß er marginalisiert und etwa auf den Posten eines machtlosen Präsidenten abgeschoben werden kann.

Alexander Flores lehrt Wirtschaftsarabistik an der Hochschule Bremen.
Der Beitrag erschein zuerst in der Zeitschrift informationszentrum 3. welt (iz3w), Nr. 280.

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sopos 11/2004