Folklore vertritt die PDS in der Mark glaubwürdiger als der rechte Rand.
Die Wahlen vom 19.9.2004 sind längst ausgezählt; Sieger sind die Nazis in Sachsen und die PDS in Brandenburg. Die Rassisten der NPD erhielten mit 9,2 % in Sachsen eines der besten Ergebnisse ihrer Geschichte. Die DVU zieht in Brandenburg mit 6,4% in den Landtag ein. In Brandenburg erreichen die als links geltenden Parteien SPD und die PDS die absolute Mehrheit; in Sachsen ist die CDU mit weitem Abstand stärkste Partei, und die Sozialdemokratie erreichte eines ihrer schlechtesten Ergebnisse überhaupt.
Der Erfolg der Nazis ist eine Todesdrohung, eine Überraschung kann er nur für Blinde sein. "Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden" rief die Opposition in Leipzig, als Protest gefährlich war. "Helmut, gib uns Arbeit und Lohn" und "wir sind ein Volk" tönte es, als die DDR sich als böhmisches Dorf offenbarte. Die Mitmacher trauten sich auf die Straße. Für DDR-Oppositionelle, die an der Idee einer sozialen und humanen Gesellschaft festhielten, wurde Protest erneut gefährlich. "Kein Kohl, kein Krenz, kein Vaterland" bedeutete schnell ein blaues Auge auf der Montagsdemo. Die Mordbrenner terrorisieren ihre "national befreiten Zonen" nicht erst seit gestern. Rechtsradikale organisieren in sächsischen Dörfern die "Ordnungsmacht", arbeiten als Security bei Veranstaltungen, fahren Patrouille, halten ganze Landkreise "ausländerfrei". Die NPD hat eine Infrastruktur aufgebaut, die über Randgruppen hinausgeht, Jugendclubs, Labels, Festivals, Subkulturen. Die Übriggebliebenen könnte man die NPD-Wähler nennen, diese Melange aus Baseball-Psychopathen und Schollenbesetzern, 600 000 Menschen verließen Sachsen seit 1990. Kritische Menschen mit sächsischem Dialekt trifft man an der Kölner Uni ebenso wie im Hamburger Call-Center, seltener im Elbsandsteingebirge.
Die NPD-Wähler als "Quasi-Linke" zu betrachten, die nur den falschen Feind bekämpfen, wäre fatal. Sachsen hat das größte Wirtschaftswachstum im Osten, Gemüt und Sozialprobleme treffen in der Schnittmenge des Neonazismus aufeinander. Obrigkeitshörigkeit trifft auf Ablehnung von "Besserwessis" und "denen aus Brüssel", mit Chauvinismus gegenüber Tschechen und Polen, mit Rassismus gegenüber Türken, mit Antisemitismus. Es sind nicht die Ärmsten der Armen, die zu den Nazis laufen. Der Vogtländer Kleinunternehmer und NPD-Wähler leitet nicht seinen Protest gegen die Herrschenden fehl, sondern hält Böhmen für eine deutsche Provinz. Arbeiter aus Polen und Tschechien sind ihm nicht Kollegen, sondern Untermenschen. Eine Neuigkeit sind die fast 10% Nazistimmen nicht: Die Bierstube im bayrischen Hinterland, der Gutshof in Pommern bot den historischen Nazis das Potential. Der Humanismus eines Alexander von Humboldt, die weltberühmte Berliner Wissenschaft, das internationale Parkett Weimarer und Jenaer Gelehrter war ihnen fremd. Der Skinhead aus der sächsischen Schweiz steht dem 68er Professor an der Universität Hamburg ebenso fremd gegenüber wie 1933 der ostfriesische Landarbeiter einem Berliner Dadakünstler.
In Brandenburg konzentrierten sich SED-Kader. Bindungen an die alten Strukturen sind vorhanden. Die PDS schafft es, als OST-SPD zu fungieren, als Partei des kleinen Mannes. Die PDS übernimmt die traditionelle Rolle der SPD in der Opposition, das Versprechen, denen die wenig haben, etwas von den Fleischtöpfen abzuzweigen. Der kleine Mann Brandenburgs ist kein Thälmann-Spartakist. Er liebt die Datscha wie der VW-Arbeiter seinen Schrebergarten. Karl-Liebknecht Folklore ist ihm Tradition wie die Bratwurst am DGB-Stand. Die PDS-Brandenburg verknüpft Ostalgie mit Pragmatismus, Populismus mit Realpolitik. Sie gibt das Versprechen, eine idealisierte DDR-Vergangenheit in die Härte der BRD-Realität zu retten. Manfred Stolpe war klug genug, der SPD-Brandenburg ein ähnliches Image zu verpassen. Projekte wie der Lausitzring, ein 123 Millionen Eurograb schafften keine Arbeit, vermittelten aber heimeligen Paternalismus: Das Gefühl blieb, von einem Vater Staat behütet zu werden. PDS und SED haben zusammen die absolute Mehrheit. Eine rot-rote Koalition wäre kluge Realpolitik. Die PDS säße mit in der Regierung, und die SPD könnte damit den Protest gegen Hartz IV ableiten.
Die 6,4% DVU-Wähler sind weniger lebensbedrohlich als die Nazis in Sachsen. Hier trifft das Bild der bürgerlichen Presse von Neonazis zu. Diffuser Protest gegen Lohndumping, Stammtischweisheit, individuelles Scheitern und politischer Analphabetismus mischen sich mit dem Bedürfnis, auf den Tisch zu hauen. Die Mordankündigung für den Dönerladenbesitzer bleibt akut, die flächendeckende Brisanz sollte man nicht überbewerten: Folklore vertritt die PDS in der Mark glaubwürdiger als der rechte Rand.