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In weltbürgerlicher Absicht

Zur Globalisierung der Geschichtsschreibung

von Jörg Später

Die so genannte Globalisierung hat das Bedürfnis nach einer Geschichtsschreibung verstärkt, welche die Geschichte des globalen Zusammenhangs aufspürt und national vermittelte Erzählungen durch eine globale Brille neu betrachtet. Es geht dabei aber nicht einfach darum, eine Geschichte der Globalisierung zu schreiben oder aus der Vogelperspektive die Geschichte der Welt von Adam und Eva bis Bush und Bin Laden aufzuzeichnen.

Bei der "Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" handelt es sich vielmehr um einen "Ansatz", um eine spezifische, meist theoriegeleitete Perspektive. Die Analyseeinheiten sind in dieser Perspektive meist große Wirtschaftsregionen, Landschaften und kulturelle Gemeinschaften, vor allem Handelszonen, wie zum Beispiel K.N. Chaudhuris Konzeption des Indischen Ozeans oder die Geschichte des atlantischen Raumes, die - ausgehend vom transatlantischen Dreieckshandel - eine den Atlantik überschreitende historische Interdependenz zwischen Europa, Afrika und Amerika mit Konsequenzen bis in die Gegenwart zu beschreiben versucht. Daneben werden per se grenzüberschreitende Phänomene wie Migration oder die Umwelt mit weltgeschichtlichen Perspektiven studiert. Globalgeschichte ist aber mehr Perspektive denn Gegenstand: So kann man beispielsweise die Revolte von "1968" als nationalgeschichtliches Ereignis deuten - etwa für Westdeutschland als Kulturrevolution, die mit den Lebensgewohnheiten der Elterngeneration brach, oder als zweite "intellektuelle Gründung" der Bundesrepublik - oder aber ihre globale Dimension hervorheben.

Natürlich zählen auch kulturübergreifende Austausch- und Interaktionsprozesse zum Projekt Globalgeschichte, die mittlerweile von postmoderner und postkolonialer Identitätspolitik geprägt sind. Stilbildend waren hier vor allem Edward W. Saids Buch Orientalism (1978), Tzvetan Todorovs Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen (1982) und Paul Gilroys The Black Atlantic (1993). Zu den alten, dem Modernisierungsparadigma zuzuordnenden Leitbegriffen wie Rationalisierung, Industrialisierung, Bürokratisierung, Demokratisierung, Individualisierung, Säkularisierung etc. gesellen sich neue "Isierungswörter" wie "Glokalisierung", "Hybridisierung" und "Entterritorialisierung" oder Konzepte wie "space-time compression" und "Netzwerkgesellschaft", die eine Interpretation der Geschichte der Globalisierung ermöglichen sollen.

Auch in der deutschen historischen Zunft hat sich der Einspruch gegen nationalhistorische Selbstbezogenheit und Eurozentrismus formiert, wie sie die deutsche Neuzeithistorie von den Historiographien vergleichbarer Wissenschaftsnationen lange unterschieden haben. (Inzwischen gehört das Wort "transnational" aber auch hierzulande zum festen Bestandteil der Drittmittellyrik.) Seit etwa zehn Jahren plädiert beispielsweise Jürgen Osterhammel (siehe Interview auf S.28) für eine "Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaates". Dabei wird keineswegs eine Rückkehr zu Formen der Weltgeschichte gepredigt, die ein sinnhaftes Apriori, eine Letztbegründung der menschlichen Geschichte suchen. Es geht in dieser Konzeption nicht um das einförmige und eintönige Große und Allgemeine, um einen besserwisserischen Metadiskurs, noch nicht einmal zwangsläufig um sehr lange Zeiträume. Im Gegenteil: Weltgeschichtsschreibung ist eher eine Einstellung, eine Perspektive, die "Fragen in einem universalen Horizont stellt".

Obwohl Geschichtsschreibung jenseits des Nationalstaates also auf nichts weniger zielt als die Geschichte des Weltsystems und der Globalisierung, übt sie sich in methodischer Bescheidenheit. Nicht universalhistorische Spekulation wird hier gefordert, sondern Detailkenntnis und bikulturelle Kompetenz, also ein spezifisches Vorwissen mit einer kosmopolitischen Aufmerksamkeitsstruktur.

Verborgener Plan der Natur

Das öffentliche Bedürfnis nach Weltgeschichte ist eine Begleiterscheinung der als Globalisierung wahrgenommenen gegenwärtigen Epoche. Weltgeschichtsschreibung selbst knüpft teils bewußt, teils unbewußt an die Geschichtsphilosophie des 18. Jahrhunderts an, bevor Geschichte Nationalgeschichte wurde. Was also war Weltgeschichte bis zur gegenwärtigen Renaissance, welche geschichtsphilosophischen Wurzeln lagen ihr zu Grunde? Als Immanuel Kant im Jahr 1784 seine Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht veröffentlichte, konnte er nicht ahnen, daß sein supranationales und kosmopolitisches Denken in den darauf folgenden zwei Jahrhunderten von der Geschichtsschreibung nicht aufgenommen werden würde. Voll aufklärerischem Optimismus sah er das Zeitalter des vernünftigen Weltbürgers, der künftigen weltbürgerlichen Gesellschaft und eines Weltstaates nahen, deren Entwicklung nun freizulegen und deren Vorgeschichte aufzuzeichnen wäre: "Man kann die Geschichte der Menschengattung im Großen als die Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur ansehen, um eine innerlich und zu diesem Zwecke auch äußerlich vollkommene Staatsverfassung zustande zu bringen, als den einzigen Zustand, in welchem sie alle ihre Anlagen in der Menschheit völlig entwickeln kann."

Der Lauf der realen, nicht nur gedachten Geschichte schien den Philosophen zunächst zu bestätigen: Die Französische Revolution bediente sich mit ihrer zentralen Botschaft "liberté, egalité, fraternité" einer universalistischen Rhetorik und verkündete im Geiste der Aufklärung die Menschenrechte als unabdingbar und unveräußerlich. Doch die Paradoxie, die von Anfang an in dem Begriff der Menschenrechte lag, war - wie Hannah Arendt Mitte des 20. Jahrhunderts rückblickend feststellte -, daß dieses Recht mit einem "Menschen überhaupt" rechnete, den es nirgends gab. Die Erfahrung "totaler Herrschaft" lehrte sie, daß "in dem Augenblick, in dem Menschen sich nicht mehr des Schutzes einer Regierung erfreuen, keine Staatsbürgerrechte mehr genießen", sie auch die vermeintlich unveräußerlichen Menschenrechte verlieren und aus der Menschheit ausgeschlossen werden. Menschenrechte waren also seit Beginn ihrer politischen Geschichte an Staatsbürgerrechte gebunden, so wie die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts in Europa und später der Welt die Geschichte des triumphierenden Nationalstaates war.

So blieb auch Kants Perspektive auf die Gattung Mensch als geschichtliches Subjekt folgenlos für die Geschichtsschreibung, zumal sich gerade Historiker traditionell als Legitimationswissenschaftler verstanden und sich bemühten, ihren entstehenden Nationalstaaten eine Geschichte zu erfinden. In Großbritannien etwa entwickelte sich die sich selbst gratulierende "Whig Interpretation of History" (Herbert Butterfield), nach der sich nicht nur die Freiheit in der britischen Geschichte unaufhaltsam ihren Weg geebnet habe, sondern die Geschichte der Zivilisation überhaupt mit der britischen Nationalgeschichte zusammenfalle. In Deutschland setzte sich dagegen der Historismus durch, der sich bewußt in Gegensatz zum Universalismus der Aufklärung setzte und die wunderbaren Eigenheiten der deutschen Nation und ihrer staatlichen Gestalt verherrlichte. Universalhistorische Betrachtungen und Geschichtsphilosophien jenseits von Nationen als Bedeutungsträgern wurden rar. Für das 19. Jahrhundert stechen Adam Smith, Auguste Comte, Herbert Spencer und vor allem Karl Marx hervor. Alle vier untersuchten "Strukturen" und Prozesse", "Faktoren" und "Stadien" der Menschheitsgeschichte. Die ersten drei waren lineare Fortschrittsoptimisten, während Marx sich auf einen "Fehler" konzentrierte: den Mangel an Bedürfnisbefriedigung.

Das sozialistische Poesiealbum

Der junge Marx zumindest war wie der Ökonom Smith, der Positivist Comte und der Evolutionist Spencer noch vom Kantschen Optimismus beflügelt. Sein historisch-dialektisches Verfahren erlaubte es ihm, im Proletariat den Befreier des Menschengeschlechts zu erkennen, als Vollender einer Geschichte, die er als Geschichte von Klassenkämpfen deutete. Im Kommunistischen Manifest (1848) heißt es: "Wenn das Proletariat im Kampfe gegen die Bourgeoisie sich notwendig zur Klasse vereint, durch eine Revolution sich zur herrschenden Klasse macht und als herrschende Klasse gewaltsam die alten Produktionsverhältnisse aufhebt, so hebt es mit diesen Produktionsverhältnissen die Existenzbedingungen des Klassengegensatzes, die Klassen überhaupt, und damit seine eigene Herrschaft als Klasse auf." Klassen, Staaten, Nationen waren nach dieser philosophischen Beweisführung, die schon alle Grundannahmen des historischen Materialismus mit sich führte, Erscheinungen der bürgerlichen Epoche der Menschheitsgeschichte und sollten sich in einer vom Kapitalismus geschaffenen, aber den Kapitalismus aufhebenden Weltgesellschaft auflösen, in einer "Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist" - kurz: im Kommunismus.

Die Faszination des Manifests ging von seiner ungeheuren prophetischen Kraft aus - die Bourgeoisie hatte Mitte des 19. Jahrhunderts gerade mal in Großbritannien begonnen, sich die Welt "nach ihrem eigenen Bilde zu schaffen". Die säkular-religiösen und utopischen Revolutionserwartungen wurden jedoch enttäuscht. Einen "kollektiven Arbeiter", eine "Klasse an sich", die durch ein vom wissenschaftlichen Sozialismus geschultes Bewußtsein zu einer "Klasse für sich" werde, gab es in Wirklichkeit nur begrenzt: In der ersten Phase von 1815 bis 1880, in der sich eine Klassenidentität herausbildete, stützte sich die Arbeiterklasse auf das Handwerk, in der zweiten Phase von 1880 bis 1914 auf gelernte und angelernte Metallarbeiter, Bergleute und Transportarbeiter in großen Städten.

Der Kapitalismus hatte nicht die Spaltungen der Arbeiterklasse aufgehoben, er hatte nicht die gesellschaftliche Geltung der Geschlechtsunterschiede nivelliert, er hatte nicht internationale Arbeitsteilungen anhand von "Zentren" und "Peripherien" beseitigt, und schon gar nicht hatte er verschiedene nationale politische Kulturen vereinheitlicht, noch nicht einmal zwischen den europäischen Arbeiterbewegungen. Alle sozialistischen Parteien pflegten einen nationalen Internationalismus und strebten ungeachtet aller revolutionär-internationalistischen Rhetorik ihre Inkorporation in ihre jeweiligen Staaten und Nationen an. Als dann im August 1914 der Erste Weltkrieg begann, kannten die Arbeiter sehr wohl ein "Vaterland", und die Arbeiterparteien bemühten sich, sich innerhalb ihrer Nationalstaaten gegen gewisse Gegenleistungen zu integrieren. Der Refrain der Internationale - "The Internationale will be the human race" - wurde ein Vers für das sozialistische Poesiealbum, der historische Materialismus blieb wie Kants bürgerliche Utopie eines vernünftigen Weltstaates unerfüllt.

Weltgeschichtliche Perspektiven wurden dann in der Zwischenkriegszeit gerade in Deutschland von Intellektuellen bemüht, die Aufklärung und Moderne insgesamt skeptisch bis feindlich gegenüberstanden. Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes (1922) interessierte sich nicht mehr für "Struktur", sondern für "Kultur". Seine Makrohistorie beschrieb kulturelle Lebenszyklen nach dem natürlichen Kreislauf von Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Immerhin brach sie mit einer europazentrierten Geschichtsschau. Spengler reihte sich aber in den Kampf der nationalistischen Weimarer Rechten gegen die ungeliebte westliche "Zivilisation", gegen das "irreligiöse und unmetaphysische Weltstädtetum" ein. Sein Fortschrittspessimismus wurde zwar durch den Gang der Weltgeschichte bestätigt, aber weil er selbst politisch mit dem diagnostizierten Untergang des Abendlandes gemeinsame Sache gemacht hatte und weil sein Geschichtsbild an den "Kampf der Rassen" in Houston Stewart Chamberlains Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts (1900) erinnerte, taugte er nach dem Krieg nicht zum Klassiker.

Nicht mehr in Jahrhunderten und in Kontinenten zu denken, gehörte in der Bonner Republik zum guten akademischen Ton. Die nationale Selbstbezogenheit der historischen Zunft war die schlechte Begleitmusik der aufgenötigten Bescheidenheit, zumal die Konzentration auf die deutsche Geschichte keineswegs zwangsläufig bedeutete, angesichts der Megaverbrechen Nazi-Deutschlands apologetische nationalgeschichtliche Deutungen hinter sich zu lassen. So man sich in der Bundesrepublik für außereuropäische Geschichte interessierte, waren Völkerkundler am Werk, die bis zu den sechziger Jahren vom "Zeitalter der Entdeckungen und Eroberungen" sprachen, wo im angelsächsischen Raum längst der Begriff der "Europäischen Expansion" üblich war.

Der neue Wert des Semi

Weltgeschichte wurde nach dem Zweiten Weltkrieg woanders geschrieben. Zwar hatten auch die Briten in Arnold J. Toynbee ihren Spengler: Indem Toynbee kulturelle Gemeinschaften ("Zivilisationen") als die angemessene Einheit für das Studium der Weltgeschichte hielt, war auch seine Konstruktion nicht frei von elitären und essentialistischen Annahmen. Zum einen aber war der Autor der zwölf Bände von A Study of History (1934-1961) politisch unverdächtig, zum anderen hatten sich in den westlichen Ländern längst universalgeschichtliche Konzepte entwickelt, die nicht von kulturellen oder gar rassischen Gemeinschaften als ewigen, unveränderlichen Wesen ausgingen.

Zwischen den fünfziger und siebziger Jahren erlebte die Weltgeschichtsschreibung eine französische Dominanz: Da sich die führenden Historiker Marc Bloch und Fernand Braudel an einer Soziologie orientierten, die soziale Ungleichheit thematisierte, erhielt Weltgeschichtsschreibung eine kapitalismuskritische Stoßrichtung. Braudels universalhistorische Trilogie Civilisation matérielle, économie et capitalisme war zum einen Höhepunkt der französischen Phase, zum anderen Ausgangspunkt der nordamerikanischen Konjunktur der Weltgeschichtsdiskussion. Diese wurde wesentlich von Immanuel Wallerstein angestoßen, der nicht nur seine individuelle Beziehung zu Braudel wie ein Markenzeichen betonte, sondern auch in seinem Versuch, die historischen Zusammenhänge der Welt über den Begriff des "Systems" zu erfassen, an Braudels dritten Band anknüpfen konnte.

Wallersteins historische Theorie eines "Weltsystems" konnte darüber hinaus von der Dependenztheorie profitieren. Die These von der Entwicklung der Unterentwicklung (André Gunder Frank) hatte den Blick auf die Beziehungsgeschichte zwischen der so genannten Ersten und Dritten Welt und auf die internationale Arbeitsteilung gelenkt. Wallersteins Einteilung der Welt in "Zentrum, Peripherie, Semiperipherie" schaffte es sogar, über die historische Soziologie hinaus Leitbegriffe für eine kritische Öffentlichkeit bereitzustellen, die infolge von "1968" Kolonialismus, Neokolonialismus und eine ungerechte Weltwirtschaftsordnung als Ursachen für Armut und Unterentwicklung kritisierte. Der Schwerpunkt der Global History als kritischer Perspektive liegt seitdem in den USA, institutionalisiert vor allem in der World History Association (www.thewha.org), deren Programme seit den neunziger Jahren nicht unwesentlich im Zeichen von Postkolonialismus und Poststrukturalismus stehen.

Von Brüdern und anderen

Wie ist nun das neue Projekt einer "Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" zu bewerten? Der Ansatz will weder ein beliebiges kulturgeschichtliches Bilderbuch aufblättern noch einer der "großen Erzählungen" der Moderne folgen. Aber kommt er auch ohne solche aus, ist Geschichtswissenschaft ohne Geschichtsphilosophie überhaupt denkbar? Kann es eine Konstruktion der Geschichte ohne latenten Idealismus, gleich ob unter positiven oder negativen Vorzeichen, geben? Was ist der Maßstab eines Zivilisationsvergleichs, etwa zwischen dem "Westen" und der islamischen Welt? Die Entwicklung der europäischen Moderne seit der Aufklärung, Kants Utopie einer "Weltbürgergesellschaft" oder die herrschaftsfreie Kommunikation zwischen den "Kulturen"? Der Verzicht darauf, Sinn oder Unsinn, Vernunft oder Unvernunft in der Geschichte zu suchen, ist kein wirklicher Verzicht, sondern nicht eingestandener Idealismus.

Zunächst einmal ist eine globale Reichweite, vor allem aber eine globale Perspektive für eine kritische Geschichtswissenschaft unentbehrlich. (Zwischenruf in einer internationalistischen Zeitschrift wie iz3w: Nicht vergessen darf man allerdings, daß man der 1968 entstandenen Solidaritäts- und Internationalismusbewegung eher klar machen mußte, daß Auschwitz weder in Amerika noch in Israel liegt und die deutsche Geschichte kein Lehrauftrag für Weltverbesserer ist.) Gleichzeitig muß ein solches Unterfangen ihre unausgesprochenen Voraussetzungen reflektieren und kenntlich machen. Erstens ist es wichtig, die "koloniale Matrix" der modernen Geschichtsschreibung zu bedenken. Jene ist europäisch-partikular in ihrer Genesis, doch universal in ihrer Geltung. Es ist sicherlich zu begrüßen, daß außereuropäische Geschichte nicht mehr mit dem ethnologischen Blick betrachtet wird. Auch in der außereuropäischen Welt sollten "Gesellschaften" Analyseeinheiten sein - nicht Stämme oder Ethnien - und natürlich deren Stellung in der Weltgesellschaft. Die emphatische Hinwendung zu den "Anderen" und ihrer angeblichen "Fremdheit" verwandelt die Geschichte Amerikas, Asiens und Afrikas lediglich "in das gehobene Äquivalent eines Hochglanzreisemagazins" (Osterhammel).

Die postkoloniale Theoretikerin Gayatri Spivak hat zudem in ihrem einflußreichen Aufsatz "Can the Subaltern speak?" zu Recht darauf hingewiesen, daß der Suche nach der authentischen Stimme der Marginalisierten eine romantische Annahme zugrunde liegt: "The assumption that there is a pure form of consciousness". Gleichwohl erscheinen Wissen und Wissenschaft in postkolonialer Perspektive nicht als Instrumente neutraler und "objektiver" Beschreibung, sondern sind von den Mechanismen der Macht nicht zu trennen. Modernes Wissen war darüber hinaus nicht nur Instrument und Waffe, sondern selbst Produkt eines Kontextes diskursiver Praktiken. Die Vorstellungen von Zeit und Raum, die Geschichte zugrunde liegen, sind von der neuzeitlichen Geschichte Europas (sie drücken sich sogar in den Begriffen "Neuzeit" und "Europa" selbst aus) ebenso wenig zu trennen wie von der europäischen Eroberung und Durchdringung der Welt.

Die Annahme, daß die allgemeine historische Entwicklung, die als charakteristisch für das westliche Europa und das nördliche Amerika betrachtet wird, ein Modell darstellt, an dem die Geschichten und sozialen Formationen aller Geschichten gemessen und bewertet werden können, ist eurozentrisch. Der Universalismus der Aufklärung ist mit Herrschaft untrennbar verbunden, den eurozentrischen Meistererzählungen können jedoch keine authentischen und "indigenen" kulturellen Deutungen entgegengesetzt werden - in diesem Widerspruch muß sich eine transnationale universale Geschichtsschreibung bewegen, die weder Legitimationswissenschaft für den Siegeszug des "Westens" noch mit kulturellem Essentialismus hinter die Aufklärung zurückfallen will. Gesucht ist eine Geschichtsschreibung jenseits der Gegenüberstellung von "universal brotherhood" und "universal otherhood".

Der Engel der Geschichte

Der bewußte Rekurs auf Kant in einer "Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" verweist auf die ihr innewohnende frühbürgerliche Utopie. Nicht zufällig fällt die Renaissance der Weltgeschichte mit der so genannten Globalisierung zusammen, mit einem Ordnungsbegriff also, der zur Beschreibung des Neuesten vom Neuen dient und mit dem das "Ende der Geschichte" (Fukuyama) verbunden wird. Geschichte wird hier als die positive und notwendige Fortentwicklung des Fortschritts gedacht. Sie ist geprägt von einer Rhetorik der Heilsversprechen und mit dem Wunsch verbunden, es möge sich an den kapitalistischen Verhältnissen nichts ändern, zumal die Gegenerzählung der sozialistischen Schwester, der historische Materialismus, verstummt ist. Zerstörung und Unheil sind in der neuen Ordnung, die den Menschen als Konsumenten das Heil auf Erden verspricht, nicht vorgesehen, genauso wenig wie in der Mastererzählung, wie es zu dieser Ordnung gekommen ist.

Geschichte in kritischer Perspektive kann dieser (neo)-liberalen Eschatologie nicht folgen (genauso wenig wie zuvor der sozialistischen Eschatologie im historischen Materialismus). Der Kantsche Idealismus einer vernunftgeleiteten Gesellschaft scheitert angesichts einer Geschichte, die im "Zeichen triumphalen Unheils" (Adorno / Horkheimer) strahlt. Dieses Unheil ist weder ein bloßer Kollatoralschaden noch ein Umweg zum Glück. Erinnert sei an Walter Benjamins Begriff der Geschichte (1940), den er in Paul Klees Bild "Angelus Novus" illustriert sah. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Benjamin schreibt: "Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette der Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. (...) Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm."

Gerade die jüdische Geschichte steht paradigmatisch sowohl für eine transnationale Geschichtsschreibung als auch für den pessimistischen Entwurf einer solchen. Aus einem vermeintlich engen Blickwinkel jüdischer Geschichte heraus erschließt sich eine umfassende, zumindest europäische Perspektive. Denn zum einen ist die Geschichte der Juden von Transterritorialität und Transnationalität, zum anderen von den Erfahrungen der Diaspora und der Katastrophe geprägt. Die Juden waren in der europäischen Geschichte die Fremden, die nicht dazu gehören. In den Augen der Antisemiten waren sie sogar die Schöpfer der verhaßten Moderne - die Juden verkörperten Geld und Geist, die verborgene Macht und die verdorbene Moral. Das "Nichtdazugehören" zu den im 19. Jahrhundert entstehenden Nationen machte sie zu den Kosmopoliten Europas, aber schließlich auch zu den wehrlosen Opfern der Nazis. Die Vernichtung der europäischen Juden war unter anderem der fanatische Versuch des ethnonationalen Deutschlands, die transnationalen jüdischen Kulturen und Gesellschaften im Herzen Europas auszumerzen. Der jüdischen Perspektive auf die europäische Geschichte der Moderne kommt somit gleichsam eine "seismographische Bedeutung" (Dan Diner) zu. Welchen universalen Gehalt die partikulare jüdische Erfahrung des "Zivilisationsbruches" hat, ist eine entscheidende Frage für eine kritische Geschichte in weltgeschichtlicher Perspektive.

Was also ist Weltgeschichte in kritischer Absicht? Sie muß erstens die Geschichte des globalen Zusammenhangs beschreiben und dabei ihre eigenen, an aufklärerische Vernunft und Herrschaft gebundenen Voraussetzungen reflektieren. Eine transnationale kritische Geschichtsschreibung muß zweitens der negativen Dialektik des Geschichtsprozesses, verdeutlicht in der jüdischen Geschichte und in der Geschichte des Antisemitismus, gewahr werden. Der Fortschritt in der Weltgeschichte ist gekoppelt an Barbarei. "Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" aber ist immerhin Ausdruck des idealistisch-bürgerlichen Leidens am realen Gang der Geschichte und der Verfaßtheit der Weltgesellschaft. Sie trägt die Erinnerung an ein uneingelöstes Versprechen mit sich. Ein Zurück vor Kants Idee einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht gibt es nicht.


Jörg Später ist Mitarbeiter im iz3w.
Der Beitrag erschein zuerst in der Zeitschrift informationszentrum 3. welt (iz3w), Nr. 278.

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sopos 10/2004