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Bücher, die ich nachts wegschließen muß, damit sie mich nicht anfallen! »6000 geballte Seiten« steht auf dem geplatzten Pappschuber und: »Wer die 60er und 70er verstehen will, muß März kennen.« Ich will verstehen – und ich konnte 49,95 Euro für die Reprintkassette des area-Verlages zusammenkratzen. Meine Reise beginnt. »Das Programm des März-Verlages wird bestimmt durch Publikationen, deren Tendenz die Erweiterung bestehender literarischer und politischer Bewußtseinsformen meint«, lautet der Eröffnungssatz des »März-Readers«. Hier finde ich Texte von Bazon Brock, Peter O. Chotjewitz, William S. Burroughs, Thorwald Proll, Pierre Vallières. Texte wie Ohrfeigen, Sätze scharf wie Rasiermesser. Ein Gedicht von Rolf Dieter Brinkmann explodiert auf 35 Seiten; es heißt »Vanille« und wird in einer Unterzeile ausdrücklich als »Gedicht« klassifiziert. Sprengte es 1969 – typographisch abwechslungsreich, von Bildern durchzogen – den Rahmen dessen, was in der BRD ein Gedicht sein durfte? Zum Serviceteil des Bandes gehört eine Doppelseite, die mir erklärt, wie ich einen U.S. Panzer M-103 erkenne und ihn dann – mit Molotow-Cocktails, Panzerfaust oder Minen – zerstören kann. Eine offene Aufforderung zum militärischen Kampf, zum Töten. Für mich als Nachgeborenen bedrückend. Zeigt sich hier die Denkweise, die zur Roten Armee Fraktion führte und tendenziell alles Linke in Westdeutschland diskreditierte? Ich nehme mir den Band »1984 Comics« vor, erstmals erschienen im Jahr 1983. Der Inhalt, Comicgeschichten von Joe Brainard und einer Horde Co-Autoren, hat nichts mit dem Orwellschen Schicksalsjahr zu tun, aber viel mit bewußtseinsverändernden Drogen. Erzählkonventionen sind aufgelöst, es gibt keine Handlung, Charaktere, Orte oder Zeiten. Der arme Harry Rowohlt, eigentlich ein genialer Übersetzer, liefert Sätze wie: »Die Fangquote des Argons fiel auf Null und brachte so die Protonen-Kette in Gefahr.« Das Kauderwelsch kontrastiert mit Skizzen eines gesichtslosen Paares beim Sex. Dieser dünne Band von gerade 120 Seiten ist ein schwerer Brocken, mein Bewußtsein ist dafür noch nicht offen genug. In »Siegfried« erzählt mir Jörg Schröder von sich und seiner Unfähigkeit zu schreiben. Zuerst versäuft und verhurt er frustriert sein Geld, dann gründet er den März-Verlag und Olympia Press. Schließlich wird er Porno-König von Deutschland und geht wieder pleite. Der Erzähler schont hier nichts und niemanden, am wenigsten sich selbst. Kiepenheuer & Witsch, Melzer, Böll – alle kriegen ihr Fett weg. Einer der ganz wenigen, die gut wegkommen, ist Gerhard Zwerenz. Leider sind einige Namen im Text immer noch per Gerichtsurteil unkenntlich gemacht. Dennoch: Ein sehr lebendig erzähltes Buch, das zu Recht zu den Bestsellern des Verlages zählte. Und wo kriege ich jetzt Schröders »Cosmic« her, das der area-Verlag leider nicht nachdruckt (vom unerschwinglichen »Schröder erzählt« gar nicht zu reden)? »Als die Kinder streikten« stammt von einem Schweden namens Doktor Gormander. Der schreibt ähnlich wie Astrid Lindgren, besetzt aber radikal andere Themen. Die Kinder von Grubendorf helfen, Streikbrecher vom Bergwerk fernzuhalten, und dürfen zur Belohnung mitstreiken. Sie führen den Demonstrationszug an und tragen ein Banner umher: »Sieg für das Volk in Grubendorf«. Alsdann wird es feierlich: »Auf dem Heimweg fing jemand leise an zu singen. Immer mehr Leute im Zug sangen mit. Die Fackeln leuchteten, und das Lied stieg in den Abendhimmel. – Was ist das für ein schönes Lied, flüsterte Anna. Wie heißt es? – Die Internationale, flüsterte Lasse zurück«. Die ahnungslose Anna ist natürlich die Tochter des ausbeuterischen Grubenchefs. Sie hat die Pläne des miesen Papi an die edlen Streikkinder verraten. Es gibt also nicht nur rechte, sondern auch linke Holzhammerpädagogik. Dann lieber Astrid Lindgren. Und doch: Diese Bände umweht derselbe Geist wie das klassische Grips-Theater (dessen Aufführungen ich nur sehen durfte, weil meine Eltern keinen Schimmer hatten, worum es da überhaupt ging). Kommen wir zu Günter Amendts Klassiker »Sexfront«. Texte, Fotogeschichten, Comics, Zeitungsausschnitte, Dialoge. Dazu Zitate von Lenin, Adorno, Brecht. Ein Zentimetermaß zur Bestimmung meiner Penislänge. Keine biologischen Fakten, keine Beschreibung von Geschlechtskrankheiten – nichts soll die jugendliche Leserschaft vom Sex abhalten. Behauptet der Autor, und dann schreibt er endlos lange über die Klassengesellschaft. »Das Sexualleben wird sich erst dann verändern, wenn die Macht des Kapitals gebrochen ist.« Schöne Aussichten! Das Telefon klingelt, ich bin wieder im Jahr 2004: Falsch verbunden. Ich schaue hinab auf die gelb-roten Bücher: meine Zeitmaschinen in die 70er Jahre. Schon empfinde ich Nostalgie. Denn damals brach vieles auf, was heute längst wieder zugewachsen, überwuchert und vergessen ist. Man betrachte nur das Gesicht des Bundeskanzlers: ein Friedhof aus Fleisch. In den März-Bänden aber steckt Leben! Ich rate: Wer zwei Fernsehgeräte besitzt, der verkaufe das eine und hole sich vom Erlös diese Buchkassette! Wer die Originalbände besitzt, soll sie entstauben und erneut lesen. Denn, so unglaublich es klingt: Da war wirklich mal eine Zeit, als kluge, wilde, gefährliche Bücher hierzulande ein Massenpublikum fanden. Ist das heute nicht schon ein Grund zur Hoffnung?
Erschienen in Ossietzky 19/2004 |
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