Seit Mitte Juli werden sie millionenfach verschickt, die "Anträge auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II)", 16-seitige eng bedruckte Formulare mit mehr als 200 Fragen für die künftigen Empfänger des Hartzschen Arbeitslosengeldes II (ALG II), nebst zweiseitigen "Hinweisen" und einem 41seitigen "Merkblatt" ungefähr so verständlich und unkompliziert wie eine Steuererklärung. Kaum ein "Kunde", wie Arbeitslose neuerdings heißen, wird fähig sein, die Formulare ohne Hilfe auszufüllen, denn kaum eine Frage scheint dort nicht gestellt zu werden.
Der Katalog reicht von Name, Familienstand, Bankverbindung, Sozialversicherung, Einkommen und Vermögen bis zu Details wie "Mehrbedarf einer kostenaufwändigen Ernährung", den "Kosten bei vorzeitiger Auflösung der Geldanlage" und der Angabe, ob die Brennstoffe zur Beheizung der Wohnräume selbst beschafft werden. Nichts wird ausgelassen: Girokonten, Sparbücher, Wertpapiere, Kapitallebens- und private Rentenversicherungen müssen ebenso offen gelegt werden wie die Quadratmeterzahl der Wohnung und wie viele Räume, Bäder und Küchen sie hat. Selbst das Auto - Fabrikat, Modell, Alter und geschätzter Wert - und der Besitz von Edelmetallen, Antiquitäten und Gemälden werden penibel abgefragt.
Genügten für die bisherige Arbeitslosenhilfe acht Seiten und die Angaben über den (ehelichen oder nichtehelichen) Partner, muss nunmehr auch das Einkommen und Vermögen anderer Angehöriger in der "Bedarfsgemeinschaft" (was darunter zu verstehen ist, wird in 21 Zeilen und etlichen Unterpunkten erläutert), zum Beispiel vom Sohn oder der Großmutter, offen gelegt werden.
Ab Oktober sollen, wenn alles klappt und die Software nicht versagt oder andere Pannen passieren, die ersten Bescheide verschickt werden. Worauf sich Arbeitslosen- und Sozialhilfeempfänger dann einstellen müssen, sei im folgenden kurz dargestellt:
Die Regelleistung für einen Alleinstehenden beträgt monatlich 345 € in West- und 331 € in Ostdeutschland zuzüglich angemessener Kosten für Unterkunft und Heizung sowie Zuschläge für in der Bedarfsgemeinschaft lebende Partner (90 % der Regelleistung) und Kinder (60 % bis 13, 80 % bis 17 Jahren) sowie Sozialgeld in Höhe von 80 % für nicht erwerbsfähige Angehörige.
Für ehemalige Arbeitslosengeldbezieher wird ein auf zwei Jahre befristeter Zuschlag ("Armutsgewöhnungszuschlag") gezahlt, der höchstens 160 € für Alleinstehende und 320 € für Paare sowie 60 € pro Kind beträgt und dessen Höhe nach einem Jahr halbiert wird.
Die Bedürftigkeitsprüfung orientiert sich hinsichtlich des Vermögens des ALG II - Beziehers am geltenden Recht der Arbeitslosenhilfe: 200 € je Lebensjahr, höchstens 13.000 € pro Partner - bei vor dem 1. Januar 1948 Geborenen 520 €, höchstens 33.800 €, zusätzlich Riester-Rente sowie andere der Altersvorsorge dienende Ansprüche mit ebenfalls 200 € je Lebensjahr bis höchstens 13.000 € pro Partner, eine angemessene selbst genutzte Immobilie, ein angemessenes Kfz und ein zusätzlicher Freibetrag von 750 € bleiben frei.
Der zusätzliche zweckgebundene Freibetrag für die Alterssicherung gilt dabei nur für diejenigen privaten Altersrücklagen, an die man erst mit Rentenbeginn herankommt; damit fallen alle herkömmlichen Kapitallebensversicherungen heraus, denn diese können jederzeit bei Bedarf aufgelöst und kapitalisiert werden.
Tipp: Arbeitslose sollten - noch vor Abgabe ihres Antrages auf ALG II - mit den Versicherungsunternehmen einen teilweisen Verwertungsausschluss bis zur Höhe von 200 € pro Lebensjahr vor dem Rentenbeginn vereinbaren!
Die "Angemessenheit" der Kosten der Unterkunft richtet sich nach Zahl und Alter der Angehörigen der "Bedarfsgemeinschaft", der Zahl der Räume und dem örtlichen Mietspiegel. Man kann - bis zum Erlass entsprechender Rechtsverordnungen - zunächst davon ausgehen, dass für einen Alleinstehenden in einer Großstadt 45 bis 50 qm und bis 318 € Miete als angemessen gelten. Liegen die tatsächlichen Mietkosten im Einzelfall darüber, kann ein Wohnungswechsel verlangt werden; die "überhöhten" Mietkosten werden dann längstens für sechs Monate übernommen.
Hinsichtlich des Einkommens orientiert sich die Bedürftigkeitsprüfung am geltenden Recht der Sozialhilfe. Unberücksichtigt bleiben zukünftig nur noch:
Die in den jeweiligen Stufen errechneten Freibeträge werden addiert und vom Gesamtnettoeinkommen abgezogen. Der dann noch verbleibende Restbetrag wird als Einkommen angerechnet.
Die Auswirkungen der neuen Regelungen werden beträchtlich sein:
Am härtesten wird es dabei zweifellos Familien mit Kindern treffen, weil bei Kindern das bisherige Sozialhilfeniveau am stärksten unterschritten wird, denn bei ihnen werden kaum noch Sonderbedarfe anerkannt, zum Beispiel wenn sie aus ihrer Kleidung herausgewachsen sind.
Im Durchschnitt werden Arbeitslosenhilfebezieher nach einschlägigen Modellrechnungen künftig rund 200 € weniger im Monat zur Verfügung haben als bisher.
Auch auf dem Rentenkonto wird sich für viele ALG II - Bezieher ein Minus ergeben, denn sie werden zwar alle durch die Bundesagentur für Arbeit gesetzlich rentenversichert, jedoch nur auf der Basis eines 400-€-Jobs, was zu einem Rentenanspruch von zur Zeit sage und schreibe 4,62 € monatlich führt und alle schlechter stellt, die bislang mehr als 400 € Arbeitslosenhilfe im Monat erhalten.
Wer also zukünftig (spätestens ab Februar 2006) arbeitslos wird, fällt nach längstens drei, ist er über 55 Jahre alt nach längstens dreiundeinhalb, Jahren auf Sozialhilfeniveau, ganz egal, was er gelernt und verdient hat, ganz gleich, wie lange er in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hat.
Die Arbeitslosen sitzen damit in der Verarmungsfalle: Mit durchschnittlich etwa 900 € für einen Alleinstehenden (alle direkten und indirekten Leistungen eingerechnet) sind sie selbst nach der offiziellen Definition "relativ arm", verfügen nämlich über weniger als die Hälfte des durchschnittlichen Monatseinkommens von 1.137 € (2002).
Aber selbst diesen Armen glauben unsere Politiker - im übrigen wurde Hartz IV ebenso wie Gesundheits- und Renten"reform" von einer Großen Koalition aus SPDB`90GrüneCDUCSUFDP beschlossen - noch ungestraft (?) in die Tasche greifen zu können:
Nachdem ihnen jemand gesteckt hat, dass Arbeitslosenhilfe bisher monatlich nachträglich, Arbeitslosengeld II jedoch im Voraus gezahlt wird, Arbeitslosenhilfebezieher demzufolge ihre Dezember - Alhi am 31.12.2004 und ihr Januar - ALG II am 2.1.2005 bekommen würden, haben sie flugs vorgeschlagen, die Januarzahlung einfach ganz ausfallen zu lassen und die erste ALG II- Zahlung erst Anfang Februar vorzunehmen, was alleine zu Einsparungen von 1,8 Milliarden € führen würde!
Arbeitslosengeld II - Beziehern ist zukünftig jede Arbeit zumutbar. Sie dürfen insbesondere eine Arbeit nicht deshalb ablehnen, weil
Es gibt keinen Berufsschutz und keine Untergrenze für erzielbaren Nettolohn (für Arbeitslosengeld I - Bezieher bleibt der Leistungssatz dagegen die Untergrenze), so dass ausdrücklich auch 400-€-Minijobs oder Arbeitslöhne unter dem ALG II-Niveau zumutbar sind.
Bei Ablehnung einer Erwerbstätigkeit oder Eingliederungsmaßnahme sowie bei fehlender Eigeninitiative werden empfindliche Sanktionen verhängt:
In einem ersten Schritt werden die Leistungen um 30 Prozent der Regelleistung für einen Haushaltsvorstand gekürzt; während dieser Zeit entfällt auch der gegebenenfalls zu gewährende Zuschlag für ehemalige Arbeitslosengeldbezieher. Bei wiederholten "Pflichtverletzungen" wird das Arbeitslosengeld II zusätzlich jeweils nochmals um weitere 30 Prozent gekürzt. Beträgt die Minderung darauf hin mehr als 30 Prozent, können Sachleistungen gewährt werden. Die Kürzung dauert jeweils immer drei Monate.
Jugendliche unter 25 Jahren erhalten in diesen Fällen sogar für die Dauer von drei Monaten keinerlei Geldleistung, sondern nur Sachkosten für Unterkunft und Verpflegung.
Vollkommen unterbelichtet bleibt bei dem Hartzschen Begriffspaar "Fordern und Fördern" das Letztere.
Weder wird es die vollmundig angekündigte bessere Beratung und Betreuung Arbeitsloser mit einem persönlichen Ansprechpartner für 75 Arbeitslose geben; ein Verhältnis von einem Vermittler für 600 Jobsuchende dürfte in der Agenturpraxis schon als optimal gelten.
Noch besteht in der Wirtschaft plötzlich Bedarf an Millionen von Arbeitslosen, selbst im Billiglohnbereich nicht; im Gegenteil ist insbesondere der Arbeitsmarkt für Langzeitarbeitslose jenseits der 50 nach wie leergefegt - da helfen auch alles Fordern und aller Druck nichts. Wenn es nicht genügend Stellen gibt, dann können sie eben auch nicht vermittelt oder besetzt werden.
Da auch die "aktivierenden Maßnahmen" sämtlich nur noch Ermessens- oder Kannleistungen darstellen (selbst diejenigen wie zum Beispiel Überbrückungsgeld oder "Ich-AG", die für ALG I - Bezieher Pflichtleistungen sind) und die für Qualifizierungen vorgesehenen gut sechs Milliarden Euro nur für bestenfalls ein Viertel der Arbeitslosen ausreichen werden, bleiben letztlich wieder nur "Beschäftigungsprojekte" und gemeinnützige Arbeiten, also: im Zweifel das Harken im Stadtpark. Neben dem Arbeitslosengeld II bekommt man dann noch zusätzlich eine "Aufwandsentschädigung" von einem oder zwei Euro pro Stunde. 600 000 solcher Billigjobs sollen im nächsten Jahr geschaffen werden, um eine "Aktivierungsquote" von 23 Prozent zu erreichen.
Die Masse der Arbeitslosen wird damit zum Sterben zu viel und zum Leben zu wenig haben und zu jedem Job gezwungen werden; aber damit wird auch der Druck auf die (noch) Erwerbstätigen steigen: über allen schwebt nämlich das Damoklesschwert aktueller Armut oder künftigen Absturzes. Die Gesellschaft wird zunehmend polarisiert mit der "Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol (...) und zugleich Akkumulation von Elend (...) auf dem Gegenpol" (MEW 23, 675).
Jürgen R. Karasch ist Politologe und Verwaltungswirt. Seit 1976 ist er in verschiedenen Funktionen für die Bundesanstalt für Arbeit tätig, zur Zeit Arbeitsvermittler und Arbeitsberater für Angehörige hochqualifizierter Berufe im Hochschulteam Köln.
https://sopos.org/aufsaetze/410d94b4ddd21/1.phtml
sopos 8/2004