Brief aus New York

Renate Bridenthal

Der Wahlkampf um die Präsidentschaft ist schon im Gange. Obwohl sich die Kandidaten höchstens in einigen innenpolitischen Fragen voneinander unterscheiden, wird die Rhetorik immer schärfer. Bei allem Getöse sind sich die Wahlkämpfer jedoch darin einig, den amtierenden Präsidenten Bush nicht zu scharf anzugreifen. Die oppositionellen Demokraten fürchten, sie könnten sonst in den Verdacht der Terroristenfreundlichkeit geraten – nachdem es Bush gelungen ist, sich das Ansehen eines wackeren Mannes zu geben, dessen ganzes Sinnen und Handeln darauf gerichtet ist, den Terrorismus zu besiegen.

Anläßlich der Kongresse beider Parteien, auf denen sie ihre Kandidaten formell vorstellen werden, sind große Protestdemonstrationen geplant. Hier in New York, wo sich die Delegierten der Republikanischen Partei versammeln werden, streiten sich jetzt die in der Koalition »United for Peace and Justice« verbündeten Organisationen mit Bürgermeister Bloomberg darum, wo die Demonstration stattfinden darf. Normalerweise würde man dafür die große Wiese im Central Park benutzen, aber plötzlich heißt es, das Gras würde leiden. Um dieses Argument zu entkräften, haben wir uns zu Tausenden verpflichtet, Zeit und Geld zur Wiederherstellung der Wiese beizutragen. Aber das Verbot ist noch nicht aufgehoben.

Michael Moores Film »Fahrenheit 9/11«, der die Goldene Palme von Cannes gewonnen hat, läuft jetzt in vielen New Yorker Kinos, und der Regisseur wird häufig in Fernsehsendungen und Zeitschriften interviewt. Der Film zeigt unter anderem, wie Präsident George W. Bush am 11. September 2001, nachdem er die Nachricht von dem Passierflugzeug erhalten hat, das ins World Trade Center geflogen ist, in einer Schule in Florida sechsjährigen Kindern aus dem Buch »My Pet Goat« (Meine Lieblingsziege) vorliest. Moore schildert auch die engen Beziehungen zwischen Bush und der Familie Bin Laden in Saudi Arabien – Beziehungen, die seiner damaligen Ölfirma hohen Gewinn eintrugen. Wir hoffen, daß der Film die sogenannten Zaunsitzer überzeugen und zur Stimmabgabe gegen Bush bewegen wird.

Für Senator Kerry, den Kandidaten der Demokraten, regt sich wenig Enthusiasmus. Er tritt hölzern auf, spricht langweilig und richtet seine Reden an die politische Mitte und sogar an die »gemäßigte Rechte«. Zudem äußert er sich inkonsequent, widersprüchlich.

Viele meiner Freunde und Freundinnen fürchten, daß die Wahl im November wieder eine gestohlene Wahl sein wird. Denn die Listen der Wahlberechtigten sind immer noch nicht in Ordnung gebracht. Bei der Wahl vor vier Jahren waren in Florida, einem bevölkerungsreichen, für das Gesamtergebnis wichtigen Staat, Tausende Afro-Amerikaner um ihr Wahlrecht gebracht worden, weil ihre Namen fälschlich auf Listen ehemaliger Verbrecher standen. Große Sorgen machen uns auch die elektronischen Wahlmaschinen der Firma Diebold, die das Wahlergebnis nicht nachweisbar ausdrucken und deswegen zu Fälschungen verleiten können; übrigens hat diese Firma viel Geld für Bushs Wahlkampf gespendet.

Jetzt wird sogar offen darüber gesprochen, ob die Wahl nicht eventuell verschoben werden müßte, falls sich zum vorgesehenen Termin wieder ein Terroranschlag ereignet. Damit insinuiert man, eine Stimme gegen Bush sei eine Stimme für Terroristen, und den Wählern wird der Gedanke nahegebracht, daß es Bush erlaubt werden könnte, über seine gesetzliche Amtsperiode hinaus Präsident zu bleiben. Jay Leno, ein beliebter Fernseh-Komödiant, sagte dieser Tage, das wäre dann die längste Amtszeit eines ohnehin nicht gewählten Präsidenten (womit er sich auf die gestohlene Wahl vom November 2000 bezog).

Eine offene Frage ist es, wie sich die wirtschaftliche Lage auf die Wahl auswirken wird. Wenn man den Statistiken glaubt, verbessert sie sich. Aber soweit neue Arbeitsplätze entstehen, sind es vielfach nur befristete Teilzeitjobs; der Reallohn ist niedriger als vor zwanzig Jahren. Werden sich meine Mit-Amerikaner, denen die Propaganda vieles zumutet, auch beschwindeln lassen, wenn es um ihre unmittelbaren materiellen Interessen geht?

Erschienen in Ossietzky 15/2004