Wir sind gar nicht so

Dietrich Kittner

Auf Tournee gleich im ersten Provinznest fing es an. Dort erzählte mir nach der Vorstellung einer, der sich nach eigener Bekundung engagiert für den Frieden einsetzt, die folgende lustige Geschichte:

Seinen letzten Urlaub habe er in Dalmatien verbracht und dort anläßlich eines feuchtfröhlichen Abends seinen Lieblingspullover in einer Kneipe nahe der Grenze zu Bosnien vergessen. Weil er den herben Verlust erst zwei Tage später, schon ein paar hundert Kilometer weiter, bemerkt habe, sei er auf den Gedanken verfallen, einen Kumpel, der »beim deutschen Kontingent der UNO-Truppen Friedenssicherung« betreibe, um den Freundesdienst zu bitten, das gute Stück mal eben schnell sicherzustellen. Leider habe der Freund aus politischen Rücksichten als Deutscher nicht in Uniform über die Grenze nach Kroatien gedurft. So sei er denn notgedrungen »nur in Zivil« bei den Wirtsleuten aufgetaucht, diese hätten ihn »infolgedessen« nicht ernstgenommen und die Herausgabe der bewußten Textilie an einen Unbekannten verweigert. Auch hätten sie Ausflüchte gemacht: Das corpus delicti sei gerade in der Wäsche. Schlußfolgerung: »Die wollten sich das Ding unter den Nagel reißen. Man kennt ja diese Balkanesen.«

Der Kumpel jedoch habe nicht aufgegeben und seine kanadischen UNO-Kameraden – die dürften uniformiert und sogar bewaffnet über die Grenze – um Amtshilfe gebeten. So sei man denn neun Mann hoch in drei Militärfahrzeugen mit aufmontierten Maschinengewehren vor dem Wirtshaus vorgefahren, habe die Waffen drohend auf den Eingang gerichtet und die sofortige Herausgabe des Deutschen Pullovers verlangt. Erfolgreich.

Unser Friedensfreund beschloß seine Geschichte mit der launigen Feststellung (wörtlich): »So habe ich der UNO tatsächlich meinen Pullover zu verdanken«. Und: »Man muß den Brüdern da unten nur deutlich genug kommen. Dann spuren die.«

Zu einem »Pulloverkrieg« auf dem Balkan ist der geschilderte Vorfall zum Glück noch nicht eskaliert. Deshalb will der rechtmäßige Pulloverbesitzer nach eigener Bekundung sich auch weiterhin kompromißlos für den Frieden einsetzen. Sogar überregional.

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Beim Gastspiel im nächsten Städtchen begrüßte mich am Bühneneingang des Theaters der Hausmeister – ein übrigens freundlicher und kooperativer Kollege – augenzwinkernd mit den Worten: »Na, heute ist ja ein besonderer Tag.«

Mir schwante Schlimmes: Es war der 20. April. »Erich Weinerts Todestag«, versuchte ich abzuwiegeln.

»Tu doch nicht so scheinheilig! Du weißt doch genau, was ich meine.« Und er kniff das rechte Auge noch mal aufmunternd zu.

»Wie alt bist Du eigentlich?« fragte ich nun wirklich interessiert.

»Vierundfünfzig.«

Der Brave konnte sich also nicht einmal darauf berufen, daß sich ihm das Datum so nachdrücklich eingeprägt habe, weil er als Kind immer froh gewesen war, daß es zu »Führers Geburtstag« schulfrei gab. Das muß wohl tiefer sitzen.

Nach Goethes Geburtstagsdatum habe ich den Gedächtniskünstler sicherheitshalber gar nicht erst gefragt.

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Tags darauf gestalten sich Bühnenaufbau, Ausleuchten und Soundcheck aufgrund architektonischer Eigenarten des Saales leicht stressig. Aber alle helfen mit, am tatkräftigsten die freundliche Garderobenfrau. Sie spricht mit unüberhörbar slawischem Akzent. Nach der Vorstellung ratschen wir vor der Tür ein wenig miteinander. Die Hilfsbereite ist, wie sich herausstellt, tatsächlich vor über zehn Jahren aus Polen gekommen, längst eingebürgert. »Ach früher war es scheener in Deutschland...«

Ich packe mein Thema: der Sozialabbau, die Kriege, der Überwachungsstaat... »Ja,« pflichtet sie mir bei, »das auch. Aberr das Schlimmste: jetzt viel zu viele Ausländerr. Wo man hinschaut, nur Ausländerr. Das ist kein Leben. Die soll man rausschmeißen, dorrt wo sie herrgekommen sein.«

Einer weiteren Diskussion habe ich mich durch die Flucht ins Auto entzogen und vor Schreck sogar vergessen, der netten Frau das branchenübliche Trinkgeld auszuhändigen.

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Drei wahre Geschichten des 19., 20. und 21. April 2004 in Deutschland. Ich habe daraus gelernt: Wir sind kein Tätervolk. Es sitzt eben nur leider alles noch ein wenig tief drin.

Eine empirische Felduntersuchung in Form willkürlicher Passanten-Interviews mit der harmlosen Frage: »Was verbinden Sie mit dem Datum 20. April« ­ habe ich mir – bisher – verkniffen. Das Ergebnis kennen wir alle ohnehin schon jetzt.

Erschienen in Ossietzky 14/2004