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Vor kurzem noch flatterte das deutsche Banner über dem Reichstag, nun wird es über dem Bordell »X-Carree« der Frau Christine Schmittroth wehen, die, aus Nürnberg gekommen, in der Saalestadt zehn Arbeitsplätze geschaffen und kürzlich das heilige Tuch der Nation mit Echtheitszertifikat für 3350 Euro auf der Internet-Auktionsplattform des Zolls ersteigert hat. Die bescheidene Werksfahne schmückt den Betrieb des Waggonherstellers Bombardier in Halle-Ammendorf. Zum Jahresende 2005 soll sie eingeholt werden – eine Zeremonie, die vom Ende des letzten großen produzierenden Betriebes der Stadt und ihres Umfeldes künden wird. Der Beschluß zur Werks-schließung war im Juni vom Bombardier-Aufsichtsrat gefaßt worden, der im Berliner Nobel-Hotel Hilton tagte, während draußen auf dem Gendarmenmarkt etwa 600 Betriebsangehörige bei strömendem Regen geduldig ausharrten. Wer die Klassenwidersprüche leugnet, der konnte sie hier im Herzen Berlins besichtigen. Als der Aufsichtsratsvorsitzende Peter Witt die beschlossene Stillegung verkündete, die man »so angenehm wie möglich« gestalten wolle, war die Geduld der um ihren Arbeitsplatz Bangenden zu Ende. »Verräter« und »Lügner« schrien sie ihm entgegen, und Antonius Engberding von der IG Metall, der für die Beschäftigten im Aufsichtsrat sitzt, bestätigte das, als er feststellte: »Es hat die einen Scheiß interessiert, was aus Euch wird.« Die Waggonbauer seien »nach Strich und Faden verarscht worden«. Gemeint war das Ablenkungsmanöver des Aufsichtsrates, der Ende März den geplanten Beschluß vertagt hatte, um nach Alternativen zu suchen, von denen dann im Hilton-Hotel keine Rede mehr war. Die Schließung des Waggonwerks in Halle ist nur ein weiterer von vielen Schlägen zur Zerschlagung der ostdeutschen Großindustrie. »Nach Strich und Faden verarscht« – bleiben wir bei den Worten des Gewerkschafters – wurden nicht nur die Ammendorfer Waggonbauer, sondern Millionen von Ostdeutschen, die man zu DDR-Zeiten als »Werktätige« bezeichnete und in der Bundesrepublik widersinnigerweise »Arbeitnehmer« nennt. Wer erinnert sich nicht an Helmut Kohls Versprechung von den »blühenden Landschaften«? Dabei war der Altkanzler nicht der einzige, der den Ostdeutschen vor der Aufnahme in die Bundesrepublik das Blaue vom Himmel herunter versprach. In der Wendezeit prophezeite Helmut Hausmann, Bundesminister für Wirtschaft, ein »deutsch-deutsches Wirtschaftswunder«, Theo Waigel, Finanzminister, »einen enormen Wachstumsschub in der DDR« und Hans-Dietrich Genscher, damals Außenminister und heute Ehrenbürger von Halle, ein »deutsches Aufbauwunder«. Als die DDR längst untergegangen und ihre Industrie zerstört war, blieben die Volksverarscher bei ihren Wundermärchen, die an die »Wunderwaffen« erinnern, mit denen Großdeutschland einst den Krieg gewinnen wollte. Noch Ende der 90er Jahre nannten Ex-CDU-Parteivorsitzender Wolfgang Schäuble und sein Generalsekretär Peter Hintze den »Aufbau Ost«, wortwörtlich übereinstimmend, die »beeindruckendste Erfolgsgeschichte in diesem Jahrhundert«. Und auch Bernhard Vogel, Thüringens damaliger Ministerpräsident, scheute sich nicht, die Versprechungen für die Wirklichkeit auszugeben. »Warum«, so fragte er am Beginn des Bundestagswahlkampfes 1998, »ducken wir uns vor dem Wort der blühenden Landschaften weg?« Da er sie in Teilen schon blühen sah, forderte er seine Parteifreunde auf, es ihm gleichzutun, denn – und hier berief sich der fröhliche Windmacher auf Martin Luther –: »Aus einem verzagten Arsch kommt nie ein fröhlicher Furz.« Er hätte auch Ernst Moritz Arndts Gedicht »Teutscher Trost« zitieren können: »Teutsches Herz, verzage nicht«, aber die Tatsachen sind nicht so einfach wegzulügen – damals nicht und heute schon gar nicht. Einst, in den 80er Jahren, war Ostdeutschland ein entwickeltes Industrieland gewesen – in der DDR-Propaganda unter die ersten zehn führenden Industriestaaten der Welt eingestuft, in westlichen Wirtschaftsanalysen auf Platz 15 oder 16. Zuletzt (1988) erreichte das DDR-Bruttosozialprodukt ein Volumen von über 300 Milliarden DM, 65 Prozent davon wurden von der Industrie produziert. In den Industriebetrieben der DDR waren 1989 laut dem Statistischen Bundesamt in Wiesbaden 3 211 000 Arbeiter und Angestellte tätig, allein im Maschinenbau 962 000. Der Außenhandelsumsatz betrug 1989 nach Angaben des gleichen Amtes rund 84 Milliarden DM, 48 Prozent des Exportes entfielen auf Maschinen, Ausrüstungen und Transportmittel. Auch der Ammendorfer Großbetrieb, der bis zu 4700 Menschen beschäftigte – inzwischen sind es noch 677 – leistete dazu seinen Beitrag. Allein in die sozialistischen Länder lieferte er bis 1989 über 35 000 Waggons für Fernzüge. Nunmehr, bald anderthalb Jahrzehnte nach der Einverleibung in die Bundesrepublik, ist Ostdeutschland als Folge der »beeindruckendsten Erfolgsgeschichte« des 20. Jahrhunderts weitgehend deindustrialisiert. Der Anteil der Industrie an der Bruttowertschöpfung der ostdeutschen Wirtschaft erreicht gerade einmal 16 Prozent. Die Zahl der Erwerbstätigen in der Industrie, einschließlich aller Klein- und Kleinstbetriebe, lag im September 2001 bei 673 062, war also um vier Fünftel gesunken und ist inzwischen noch weiter zurückgegangen. Die Verwandlung Ostdeutschlands aus einem entwickelten Industrieland in ein industrielles Notstandsgebiet, das Jahr für Jahr mit Milliardensummen alimentiert werden muß, ist ein Vorgang, den die Weltwirtschaft bis dahin nicht gekannt hat. Das ifo-Institut für Wirtschaftsforschung hat dazu festgestellt: »Das Leistungsbilanzdefizit der neuen Länder liegt bei etwa 45 Prozent der eigenen Erzeugung. Niemals zuvor hat es in der Geschichte der Menschheit eine Region gegeben, die in solch großem Umfang von einem Ressourcenzustrom aus anderen Regionen abhängig war. Selbst Israel, Portugal und der italienische Mezzo-giorno, drei weitere klassische Transferökonomien, liegen mit Werten von 12 bis 13 Prozent weit, weit darunter.« Mit der Schließung des Werkes in Halle-Ammendorf soll der industrielle Kahlschlag fortgesetzt werden. Doch die Betriebsangehörigen wollen sich zur Wehr setzen. »Wir werden das niemals so hinnehmen, sondern mit allen Mitteln, die wir haben, für unsere Rechte kämpfen«, kündigte der Betriebsratsvorsitzende Reiner Knothe an, und der Vertreter der IG Metall, Bernd Kruppa, erklärte: »Ob Verkauf, Buy-out, neue Produkte oder sonstiges – alles muß denkbar sein, um die Beschäftigung in der Region zu sichern.« Buy-out? Ja, warum eigentlich nicht? Warum sollten die Werksangehörigen ihren dem kanadischen Bahn- und Luftfahrtkonzern Bombardier in den Rachen geworfenen Betrieb nicht zurückkaufen? Natürlich für einen handelsüblichen Preis, etwa für die symbolische Mark, also heute 51 Eurocent, die zum Beispiel der frühere niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht nach der Wende für das Eisenhüttenwerk Thale zu zahlen hatte. Immerhin hat man auch in Ammendorf in früheren Jahren schon bewiesen, daß es sich ohne Kapitalisten erfolgreich wirtschaften läßt. Nach dem Rückkauf, den es ohne Kampf nicht geben wird, könnte über dem Werk auch eine neue Betriebsfahne gehißt werden, eine bunte, in der ein wenig Rot nicht schaden könnte. Die schwarzrotgoldene über dem Etablissement der Frau Schmittroth könnte ruhig am Mast bleiben. Nicht etwa als Zeichen, daß Deutschland ein Freudenhaus wäre, aber als Symbol dafür, daß in diesem Land nahezu alles käuflich ist: die Liebe, die Frauen, die Reichstagsflagge und – warum nicht? – der Waggonbau in Halle-Ammendorf.
Erschienen in Ossietzky 14/2004 |
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