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Erst nach dem SchlaganfallÜber die zehn Euro, die beim Eintritt in die Arztpraxis bezahlt werden müssen, ist schon viel geschrieben worden. Doch wer dann auf dem Rückweg vom Arzt in der Apotheke die notwendigen Medikamente holt, muß meist noch viel tiefer in die Tasche greifen Ein Arzneimittel wird seit Inkrafttreten der »Gesundheitsreform« von den gesetzlichen Krankenkassen nur dann bezahlt, wenn es verschreibungspflichtig ist. Aber ob ein Medikament verschreibungspflichtig, also nur bei Vorlage eines ärztlichen Rezeptes erhältlich, oder lediglich apothekenpflichtig, also auch ohne ärztliche Erlaubnis zu erwerben ist, hat nichts mit seiner medizinischen Notwendigkeit oder Wirksamkeit zu tun. Verschreibungspflichtig ist ein Medikament dann, wenn bekannte Nebenwirkungen, fehlende Erfahrungen mit der Substanz oder gefährliche Wechselwirkungen mit gleichzeitig eingenommenen anderen Präparaten eine ärztliche Überwachung der Therapie erforderlich erscheinen lassen. Gerade gut verträgliche, nebenwirkungsarme Medikamente, die sich seit Jahren bewährt haben, müssen vom Patienten selbst bezahlt werden. Zum 1. April trat dann eine Ausnahmeliste in Kraft, nach der ihm für einzelne dieser Medikamente die Kosten nun doch erstattet werden. Das Datum scheint Programm gewesen zu sein. Die gesetzliche Ausnahmeregelung gilt nur für Medikamente zur Behandlung bereits aufgetretener Erkrankungen, nicht jedoch zu deren Vorbeugung. Der Gemeinsame Bundessausschuß, ein neu geschaffenes Gremium aus Ärzte- und Kassenvertretern, der mit der Ausgestaltung der Liste beauftragt war, konnte demnach beispielsweise den Wirkstoff ASS (bekannt unter anderem durch Aspirin) nur für die Nachsorge von Herzinfarkt und Schlaganfall, nicht jedoch zu deren Vorsorge aufnehmen. Der Kassenpatient muß folglich erst einen Schlaganfall erleiden, um ein Medikament zu erhalten, das ihn vor dem zweiten schützt. Gleich den ersten und damit möglicherweise jahrelanges Siechtum zu verhindern, ist sein Privatvergnügen. Oder sollten wir besser sagen: seine staatsbürgerliche Pflicht? Gut verträgliche Mittel gegen allergische Erkrankungen sind ebenfalls ausgenommen. Heuschnupfen wird künftig ertragen, schließlich dauert der Pollenflug nur von Februar bis Oktober, und Taschentücher sind bei Aldi im Großpack günstig zu haben. Bei lebensbedrohlicher Insektengiftallergie darf der Arzt ein Notfallmittel verordnen – nicht aber bei lebensgefährlicher Nahrungsmittelallergie. Wer sich nicht mit Reis und Kartoffeln zufriedengibt, sondern sich Erdnüsse oder Fisch leistet, kann gefälligst auch die Arznei bezahlen, die ihn vor allergischen Reaktionen schützt! Pilzerkrankungen der Haut und Nägel werden gleichfalls zum Randproblem, von dem schließlich nur etwa jeder dritte Mensch in Deutschland betroffen ist. Und wenn man Geld für die Eintrittskarte ins Schwimmbad hat, kann man auch locker die gut 30 Euro bezahlen, die ein wirksames Medikament zur Behandlung von Nagelpilz kostet. Wer wenig Geld hat, sollte sich also nur eine Krankheit zulegen, die ausschließlich mit starken, nebenwirkungsreichen Medikamenten behandelt werden kann. Sollte man ein Problem haben, das sich mit gut verträglicher, altbewährter Arznei beheben läßt, kann man vor Freude darüber gern das Dankesopfer bringen. Silke Reinecke Die Autorin ist Hautärztin und Allergologin
Ein PhantomvolkDie Grünen, so ist seit dem 13. Juni überall in den deutschen Massenmedien zu hören oder zu lesen, seien auf dem sicheren Wege zu einer Volkspartei. Die Resultate der Wahl zum Europäischen Parlament hätten es bewiesen: Die Sozialdemokratie sei abgestraft, die Grüne Partei hingegen – obwohl doch in Berlin mitregierend – habe sich als die Siegerin präsentiert. Und warum? Nicht so sehr, weil die Grünen so schön europäisch auftreten, sondern aus innenpolitischen Gründen: Unerschrocken und offensiv setze sich die grüne Prominenz für den Übergang vom Sozialstaat zum Wettbewerbsstaat ein, während die SPD diesen Umbruch nur halben Herzens betreibe. »Von den Grünen lernen« – diese Konsequenz legen die Meinungsmacher den verdatterten Sozialdemokraten nahe. In der Tat haben die Grünen bei der Europawahl der SPD in vielen Städten im Norden, Westen und Süden den Rang abgelaufen, und am grünen Neoliberalismus – wenn man ungezähmten Kapitalismus so nennen will – kann kein Zweifel sein, auch nicht daran, daß die Fischer-Partei bereit ist, bei passender Gelegenheit ein Regierungsbündnis mit der Union zu schließen. Bildet sich also eine neue Volkspartei heraus, legitimiert durch Massenzustimmung und dazu fähig, sozialstaatliche Hinterlassenschaften freudiger als die Sozialdemokraten und lockerer als die Christdemokraten wegzuräumen? Es empfiehlt sich, politischen Einschätzungen eine empirische Grundlage zu geben. Wer nur auf die Prozentverschiebungen bei den abgegebenen Stimmen starrt, bekommt die Realität des Wahlverhaltens nicht in den Blick. Lediglich knapp über fünf Prozent der Wahlberechtigten haben bei der Euro-pawahl in der Bundesrepublik für die Grünen gestimmt, von einer »neuen Volkspartei« kann insofern keine Rede sein. Übergroß wurde die Majorität der NichtwählerInnen. Das hat Gründe, unter denen der Mangel an EU-Publicity der geringste ist. Weitaus mehr wiegt das Nein zu einer Gesellschaftspolitik, die keine Rücksicht mehr nimmt auf sozialen Ausgleich. Das typische WählerInnen-Potential der Grünen ist von der Sozialdemontage (noch!) nicht so sehr betroffen, es kann sich den »Postmaterialismus«, den die Wahlforscher hervorheben, leisten. Für die Mehrheit der Bevölkerung bieten die Grünen keine Perspektive. Wohl aber sind sie eine willkommene Reserve für Angela Merkels Politunternehmen, ideologisch schon jetzt hilfreich und demnächst auch koalitionsstrategisch. Daß sie einst in Turnschuhen das Parkett betreten haben, wird man immer gern in Erinnerung rufen. Es verweist auf schwarze Großzügigkeit und auf grüne Lernfähigkeit. Arno Klönne
SPD-HelferDie deutsche Sozialdemokratie ist auf der Verliererstraße. Da könnte sich ein CDU-Fan wie der Chefredakteur der immer schon engagiert christdemokrati-schen Tageszeitung Rheinische Post freuen. Tut er aber nicht, im Gegenteil, der Mann macht sich Sorgen um die SPD: »Wer nicht von sich selbst über-zeugt ist, kann andere nicht begeistern. Die SPD läßt Aufbruchwillen vermissen, sie läuft Gefahr, in eine Art Lust am Untergang abzugleiten.« Und weshalb dünkt das »Abschmieren« der SPD, wie er es nennt, ihn so gefährlich? Weil es »die AntiGlobalisierer, Sozialstaatler, Umverteiler und Klassenkämpfer stärkt«. Deshalb sein Rat an den SPD-Vorsitzenden: »Müntefering muß Gewerkschaftsfunktionären, die nach höheren Steuern für Reiche rufen, oder Ökonomen, die zur Steigerung der Binnennachfrage nach höheren Schulden gieren, ein hartes Nein entgegensetzen.« Sorgen um die SPD und vor allem um den sozialdemokratischen Kanzler machte sich bei seiner Jahrestagung auch der Bundesverband der Deutschen Industrie. Dessen Präsident rief dem Gast Gerhard Schröder zu: »Durchhalten, wir bauen auf Sie!« Der Kanzler solle sich »durch miese Wahlergebnisse und schlechte Stimmung an der eigenen Basis nicht ins Wanken bringen lassen«, der »Reformkurs« müsse fortgesetzt werden – mit einer »Zugabe« im Tempo. Wer hätte derlei Sympathie für die SPD und einen von
ihr gestellten Kanzler von CDU/CSU-Propagandisten erwartet? In der Not, sagt
ein Sprichwort, zeigt sich wahre Freundschaft. Marja Winken Thomas Müntzers WerkeWenn eine krisenhafte Umbruchszeit oder eine Phase der realisierten Utopien in der Geschichte eines Volkes oder einer Gesellschaft ihr Ende gefunden haben, und zwar meistens schmerzhaft beendet worden sind, so folgt hernach eine Zeit der Abrechnungen und der Schuldzuweisungen, der Restaurationen und der Rückbesinnung auf traditionelle Werte. Es ist eine Phase der Trauerarbeit, der Ernüchterung, des materiellen Wiederaufbaus und der geistigen Aufarbeitung. Im Kampf der historischen Deutungen und Ideologien geben dann meistens auch die Archive und Sammlungen ihre Aufzeichnungen zur Einsicht frei, und Museen zeigen die entsprechenden Exponate. Die bildenden Künstler, aber auch die Stückeschreiber, Dichter, Erzähler und Romanciers nehmen ihre künstlerische Chance wahr und erarbeiten den historischen Interpretations- und Bezugsrahmen. Wenn das alles zur Geltung gekommen ist, erscheinen – in einem zeitlichen Abstand vom Geschehen – wissenschaftliche Gesamtdarstellungen und präzise, ausführliche Biographien der handelnden Persönlichkeiten. Aus dieser Sachlage heraus entsteht schließlich das Bedürfnis nach einer wissenschaftlichen, als historisch-kritisch bezeichneten Textausgabe. In diesem Sinne soll hier auf die unlängst erschienene Thomas-Müntzer-Ausgabe, Krit. Gesamtausgabe Bd. 3: Quellen zu Thomas Müntzer hingewiesen werden. Es gab vorher auch schon umfangreiche Müntzer-Editionen (1931 und 1968): sie enthielten aber die Sekundärquellen nicht. Die jetzige Ausgabe wird im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften von dem Kirchenhistoriker Helmar Junghans her-ausgegeben und vom Bund und vom Freistaat Sachsen finanziell gefördert. Damit führt man ein seit 1984 in der DDR unter Beteiligung westlicher Fachleute geplantes Projekt in sinnvoller Weise zum Abschluß. Bei dem dritten Band, der nun zeitlich zuerst erschienen ist, handelt es sich wohlgemerkt nicht um Texte von Müntzer, sondern um zeitgenössische Texte über ihn. Daraus wird z.B. deutlich, daß Martin Luther Thomas Müntzer bis 1519 zunächst brieflich empfohlen, aber dann wegen dessen Radikalisierung abgelehnt und vor ihm gewarnt hat. Da Thomas Müntzer nach einer Zeit in Zwickau auch in Saaz und Prag gewirkt hat, sind manche Textstücke in tschechisch gehalten. Eine Eigenheit solcher Editionen sei angemerkt: Die frühneuhochdeutschen Texte werden nicht in das heutige Deutsch übertragen. So kommt es, daß man die fremdsprachlichen Texte (lateinisch, tschechisch) hier auch in moderner Übersetzung lesen kann, sich aber die zeitgenössischen Texte mit Hilfe kleiner Anmerkungen mühsam erarbeiten muß. Müntzer hat einmal ausgeführt – ich zitiere aus der Rowohlt-Monographie von Gerhard Wehr: »Die Herren machen das selber, daß ihnen der arme Mann feind wird. Die Ursache des Aufruhrs wollen sie nicht wegtun, wie kann das auf die Dauer gut werden? ...« Am 18. Mai 1525, nach der Schlacht von Frankenhausen, berichtete Landgraf Philipp (»der Großmütige«) an die Kanzlei des Schwäbischen Bundes, »daß wir Thomas Müntzer, der das Volk dieser Landschaft dermaßen verleitet und zum Aufruhr bewegt hat, gegriffen und zu Heldrungen in Haft haben...« (S. 250 dieser neuen Ausgabe, von mir ins heutige Deutsch übertragen). Thomas Müntzer, dessen Werke nun im Zusammenhang mit zeitgenössischen Stimmen über ihn sorgfältig ediert werden, würde heute wahrscheinlich als »Haßprediger« bezeichnet werden. Friedrich Winterhager Th.-Müntzer-Ausgabe, Kritische Gesamtausgabe Bd. 3: Quellen zu Thomas Müntzer. Bearbeitet von Wieland Held (+) und Siegfried Hoyer. Verlag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, in Kommission bei der Ev. Verlagsanstalt Leipzig, 294 Seiten, ca. 44 €
Begegnung mit der GeschichteSechzig Jahre ist es her, daß die Blockade Leningrads gesprengt wurde. Zur Eröffnung einer Ausstellung im Deutsch-Russischen Museum Karlshorst, die durch eindrucksvoll Neues überrascht, erschien aus St. Petersburg Daniil Granin. Er gehörte zu Leningrads Verteidigern und kam dann mit einem Panzerverband bis nach Deutschland. Vor ihm sprach Ingeborg Franke, Tochter eines vor Leningrad gefallenen Offiziers der Deutschen Wehrmacht, dessen Feldpostbriefe sie seit ihrer Kindheit beschäftigt haben. Im Geist der Nazi-Pro-paganda waren sie vom erbarmungslosen Wunsch geprägt, die Stadt mit ihren verhungernden, unter Bomben- und Granatenhagel lebenden Einwohnern vernichtet zu sehen. Ingeborg Franke bewies Mut, dieses Erbe vorzuführen – nach dem Tod der Mutter aus der Sütterlinschrift mühsam entzifferte Zeugnisse ihres Vaters, den sie gern geliebt hätte, wären da nicht seine schrecklichen Briefe. Wie Granin, der heute Fünfundachtzigjährige, sehr persönlich auf den seelischen Konflikt seiner Vorrednerin einging, ließ mich an seine Erzählung »Auf der anderen Seite« denken (Ossietzky 7/03), wo er den einstigen Leutnant Schagin in einem Hamburger Streitgespräch sagen läßt, daß ein Krieg auf jeder Seite »entartet«. Der Saal versetzte die Zuhörer geradezu atmosphärisch an den Schlußpunkt des Krieges: an der Stirnseite der Tisch, an dem der sowjetische Oberkommandierende Marschall Shukow nebst den militärischen Repräsentanten Englands, der USA und Frankreichs saß, davor die Tische für Generalfeldmarschall Keitel mit zwei weiteren Repräsentanten der Deutschen Wehrmacht, als diese hier in der Nacht zum 9. Mai 1945 die bedingungslose Kapitulation unterschrieben. In Granins Werken und ihrer deutschen Rezeption spiegelt sich die bewegte Geschichte seit dem Sieg der UdSSR und der Befreiung Deutschlands vom Faschismus. Da waren nicht nur die »Bahnbrecher« (dt. 1954), die in der DDR – wie auch die folgenden Bücher – emotional in die Zustimmung zum Aufbau des Sozialismus eingingen. Freunde schuf ihm hier sein analytisches Eindringen in Widersprüche, sowohl in der Auseinandersetzung mit seinem »Doppelgänger«, der noch den deutschen Feind sah (»Die schöne Uta«, dt. in »Garten der Steine« 1973), als auch in den gesellschaftlichen Prozessen zu Hause. Ausdruck der Hochachtung für ihn war der von der DDR verliehene Heinrich-Heine-Preis, der schon vom Namensgeber her auch Reibungswiderstände einschloß. Als Zeugnisse verlegerischer Konflikte zitiere ich folgende zwei Widmungen. »Für Leo Kossuth. Dank für dieses Buch – wir beide wissen, was mit ihm verbunden ist. In Liebe, D. Granin. 71« steht in »Unser Bataillonskommandeur«, wo er Kriegserfahrung kritisch aufgearbeitet hatte – mit der Folge, daß der Roman in der UdSSR nach seiner Erstveröffentlichung in der Provinz-Zeitschrift Ural lange nicht wieder erschien und dann lange nicht und daß der Autor nur unter Schwierigkeiten vom ZK der KPdSU die Reise-Erlaubnis zu Veranstaltungen mit der DDR-Ausgabe aus dem Verlag Volk und Welt erhielt. »Meinen lieben Freunden Leo und Charlotte – Endlich kann ich Euch mein Buch deutsch eher überreichen als Ihr mir! (Aber Euer ›Ur‹ ist mir teurer, weil Ihr um ihn gekämpft habt). IV.89, D. Granin« schrieb er aufs Vorblatt der unter dem Titel »Der Genetiker« erschienenen westdeutschen Lizenzausgabe des Romans »Sie nannten ihn Ur«, als sich in der DDR die Auslieferung der Volk-und-Welt-Ausgabe wegen politischer Auseinandersetzungen um die als Verräter verdächtigte Zentral-gestalt Timofejew-Ressowski verzögerte. Als ihm besonders teuer nannte Granin bei der Ausstellungs-Eröffnung sein und Adamowitschs »Blockadebuch«. Zunehmend entwickelten sich engere Beziehungen Granins auch mit Einrichtungen und Lesern in der Bundesrepublik, was nach der Wende in ersten gesellschaftspolitischen Skizzen gipfelte (»Das hat man uns nicht gelehrt«, 1992 im letzten Volk-und-Welt-Almanach). Schwierig gestaltet sich derweil unser freundschaftlicher Disput, wie denn seine früheren Werke einzuschätzen seien, wenn mit der Sowjet-Zeit auch der Sozialismus in Frage zu stellen sei. Mochten sie, wie er jetzt meint, keine Propaganda für den Sozialismus enthalten – Granins Kritik war damals gesellschaftlich produktiv. Leonhard Kossuth Die Ausstellung »Blockade Leningrads« ist bis zum 5. September 2004 geöffnet (10318 Berlin, Zwieseler Straße 4)
Kreuzberger NotizenDieser Artikel ist aus urheberrechtlichen Gründen nicht verfügbar.
Ein Leben in der zweiten ReiheDaß Politiker der ersten Reihe, bevor sie noch aus ihren Ämtern geschieden sind, Lebenserinnerungen schreiben oder anfertigen lassen, gehört zu den Alltagserscheinungen des heutigen Büchermarktes. Es handelt sich meist um Reklameschriften. Trotz aller Werbung erklimmen diese auf Bestsellerlisten selten obere Plätze. Restbestände der Massenauflagen sind bald billig zu haben. Naturgemäß sinkt mit dem intellektuellen Niveau dieser Kastenangehörigen und ihrer Charakterstatur auch der Wert dessen, was sie da präsentieren. Zwischen Lügen in der Politik und diesem Buchtyp existiert eine direkt proportionale Beziehung. Und wer will sich in gleicher Sache zweimal nasführen lassen. Weniger mediale Aufmerksamkeit erheischen Erinnerungen von Autoren, die einmal in den so viel längeren zweiten und dritten Reihen der Politik agierten. Zu Unrecht. Sind auch sie von Rechtfertigungsbedürfnissen nicht frei, so doch in den meisten Fällen davon ungleich weniger geprägt. Aus dieser Gruppe gelangen, zumeist in Ostdeutschland und gewöhnlich nur von Spezialisten für die Zeitgeschichte gelesen, jüngst zahlreiche Druckwerke an die Öffentlichkeit. Frühere Protagonisten der sozialistischen Bewegung und Mitarbeiter im Staatsapparat der DDR berichten aus ihrem Leben. In die Kategorie der Rara gehören hingegen Publikationen, mit denen sich Forscher der Biographie von Personen dieser Politiker- und Funktionärsstufe zuwenden. Geschieht das, ergeben sich häufig Nahaufnahmen und Geschichtsbilder von einer Tiefenschärfe, die, wenn die Scheinwerfer der Klio weiter oben aufgestellt werden, nicht zu erzielen sind. Bewiesen hat das eindrucksvoll Ka-tharina Riege mit einem Lebensbild des Hans Mahle, dessen Name nur in der Gründergeneration der DDR und noch in jener Kleingruppe Erinnerungen wachruft, die sich in der Frontstadtatmosphäre Westberlins zum Sozialismus bekannte: Der Funktionär im Kommunistischen Jugendverband erlebte das sowjetische Exil nicht ohne schwere Enttäuschungen, entging aber dem Gulag. Er arbeitete als Redakteur und Sprecher deutschsprachiger Sendungen und versuchte, Kriegsgefangene auf neue Wege zu führen. Dann hilft er, den Rundfunk in der sowjetischen Besatzungszone aufzubauen. Eines Tages fällt er – wie viele – die Funktionärstreppe herunter auf einen Leiterposten in der Konsumgenossenschaft in Mecklenburg, wird jedoch wieder als Redakteur gebraucht und zum Chef der Westberliner SED-Zeitung Die Wahrheit gemacht. Nach 1961 siedelt er in den Westteil der Stadt über und wirkt dort, solange das seine Kräfte zulassen. Diese Geschichte voller Wechsel, Spannungen und Widersprüche läßt in ein Leben blicken, zu dem Überzeugung, Risikobereitschaft und ein Schuß Abenteuerlust gehörten. Einfühlsam geschrieben verhehlt das Buch nicht die Schwierigkeiten im Verständnis von Generation zu Generation, vor allem, wenn zwischen dem Leben der Schreibenden und der Beschriebenen dramatische Wandlungen liegen. Kurt Pätzold Katharina Riege: »Einem Traum verpflichtet. Hans Mahle – eine Biographie«, VSA Verlag, 470 Seiten, 25 €
Wolfgang Eckerts kleine Stadt»Ach ja, das alte Kino. Einst hatten wir sogar zwei. Abends kurz vor Beginn der Vorstellung noch Karten zu erhalten, war ein Ding der Unmöglichkeit. Jetzt wird das letzte Kino abgerissen... Auf dem Bahnhof war einst reger Verkehr, der Bahnsteig bevölkert von Wartenden. Loks rangierten Waggons zur Güterrampe. Still liegt der Bahnhof, die Schalter sind geschlossen wie auch das stattliche Gebäude der Post. In einem Edeka-Laden muß ich nun Pakete aufgeben oder Briefe einschreiben lassen. Das hat den Vorteil, ich kann dort einen Sack Kartoffeln kaufen und gleich an Freunde verschicken.« So ändern sich die Zeiten in Meerane. Der Schriftsteller Wolfgang Eckert beobachtet es, bringt es sorgfältig zu Papier und läßt uns nachsinnen, wozu das alles gut sein könnte. In dem kürzlich neuaufgelegten Roman »Familienfoto« hat Eckert zu DDR-Zeiten am Beispiel dieser kleinen Stadt geschildert, was da schieflief und nicht gelingen konnte – klarer, wahrer als alle antisozialistische Propaganda aus dem Westen. Zur Zeit der Wende – da setzt sein jüngstes Buch ein – verbringt er den Sommerurlaub letztmals an einem See in einem Heim des DDR-Schriftstellerverbandes. »Das Haus und der See, die den Schriftstellern Ermutigung gaben für ihre scheinbar hoffnungslose Tätigkeit, sie werden den Schriftstellern weggenommen. Die Vertreibung aus einem Paradies beginnt. Denn auch die Schriftsteller haben reichlich vom Apfel DDR gegessen und sind, wenn man einigen die Knute der Moral schwingenden westdeutschen Aposteln glauben will, durchweg Stasi-Leute gewesen, haben alle hohe Honorare bezogen. Also weg mit ihnen... Unten im Keller wird die alte Heimbibliothek aufgelöst.« Staunend beobachtet er die neuen Sitten, zum Beispiel die vielen Partys – »denen ein geschäftliches Interesse zugrunde liegt. Man sieht das an den gepflegt harten Mienen der Gäste«. Die kommen strahlend auf einen zu, strecken die Arme aus und rufen – ob sie einen kennen oder nicht –: »Schön, daß Sie da sind!« Er denkt darüber nach und gibt Ratschläge, wie man solche Gelegenheiten nutzen kann: »Suchen Sie sich den vermeintlich einflußreichsten Gast aus und rufen Sie: ›Mein Gott, wann haben wir uns das letzte Mal gesehen! War das nicht vor fünf Jahren, wo Sie die große Blonde aufreißen wollten –?‹ Sofort wird sich der Angesprochene erschrocken bei Ihnen einhaken und Sie beiseite führen. Daß dies schiefgeht, ist ausgeschlossen. Denn es gibt kaum eine einflußreiche Persönlichkeit, die nicht schon einmal eine große Blonde – na, ist ja auch egal. Wichtig ist, daß alle sehen, wie der Ertappte warnend den Finger an seine Lippen legt und eine Vertraulichkeit mit Ihnen hat. Sofort werden einige Sponsoren spekulieren, ob Sie investierbar sind...« Heiterkeit und Klage liegen in Eckerts Betrachtungen nah beieinander. Das Leben liebend leidet er unter dem egoistischen Adam, der achtlos damit umgeht und sich frech an den natürlichen Lebensgrundlagen vergeht. »Und meine lieben, wackeren Meeraner, die man wegen Ihrer Freundlichkeit nicht hassen kann, stehen da und schauen zu, wie einer zum Spaß an den Pranger gebunden wird, und sie bemerken in ihrer Gutgläubigkeit wieder einmal nicht, daß sie es selber sind.« Eckert versteht es, mit wenigen Worten Räume zu schaffen, in die wir sofort einbezogen sind. Und ihm gelingen Formulierungen, die sich tief einprägen: »Später, wenn man den seidenen Faden erkennt, an dem alles hängt...« Literatur dieses Ranges ist selten im großen und immer größer werdenden Deutschland. E. S. Wolfgang Eckert: »Leise tönt das Martinshorn. 32 Randbemerkungen«, Ingo Koch Verlag, 148 Seiten, 11.80 €
Das Misch-PublikumLandauf, landab gibt es Lesefeste. Ranis, die winzige Burgstadt in Ostthüringen, fällt dennoch heraus. Alljährlich an zwei Juniwochenenden versammeln sich Oma, Mutti, Freak und Kind zu den »Thüringer Literatur- und Autorentagen« unter freiem Himmel innerhalb ehrwürdiger Burgmauern. Nur bei Regen drängelt man sich in Kemenaten oder der Kirche des Ortes. Nun sind die Besucher, die auf Gartenstühlen ausharren und ab und zu ein Bier vom Faß und eine Wurst vom Grill naschen, wirklich meist Thüringer – die Autoren aber kommen aus vielen europäischen Regionen. Denn alle, alle lasen hier schon: Dichter wie Volker Braun und Feridun Zaimoglu, Politiker wie Heiner Geißler, Norbert Blüm und Cornelia Schmalz-Jacobsen, Publizisten wie Christoph Dieckmann und Hellmuth Karasek, sonstige wie Harry Rowohlt, Barbara Thalheim, Friedrich Schorlemmer und Hansi vom Märchenborn. Damit es auch weiterhin Autoren gibt, wählt man in Ranis zudem alljährlich einen jungen Stadtschreiber, diesmal Christopher Kloeble (21), Literaturstudent aus Leipzig. Haben Autoren meist ihr Spezialpublikum – auf Burg Ranis mischt es sich. Rock-Spezialist Frank Schäfer war einst überrascht, als sich sein schwarzgewandetes Stammpublikum in der Menge grauhaariger Bürger, weißhaariger Ken-nerinnen und ungekämmter Kinder verlor. Beim diesjährigen Ranis-Fest stellte Landolf Scherzer das von ihm herausgegebene Solidaritätsbuch »Schwarze Weisheiten« vor und sagte dabei manche Wahrheit zur ausländerfeindlichen Politik einst und jetzt – das sehr gemischte Publikum nahm alles mit Freude auf, obwohl auch Thüringen, wie jüngst bestätigt, gern eine die Zuwanderung begrenzende, seit 1990 führende, alleinseligmachende Partei zum Landesverweser wählt. Doch Schöngeistigkeit und Politik – hier scheinen sie sich nicht zu fliehen. Die Politik müht sich zu erklären, daß sich alles »ausdifferenziert«, die Welt künftig aus Spezialinteressen und Ich-AGs zusammengesetzt sein wird. Auf Ranis aber ist das Volk nur Volk, das gemeinsam zuhört, nachdenkt, lacht und diskutiert. Die Literaturburg thront hoch oben – aber offensichtlich nicht über den Köpfen Matthias Biskupek
Eulenspiegel, ein HeldHumor ist meist gelitten, wenn er die jeweils anderen trifft. Eulenspiegel wäre ein schlechter Schelm gewesen, hätten seine Treffer nur jenen gegolten, nicht auch den Eigenen. Dafür war er Verfolgungen und Verboten ausgesetzt. Ein nicht leichtes Dasein – auch für einen Verlag, der des Schelmen Namen trägt. Umso erstaunlicher, daß er – der Eulenspiegel-Verlag – sich und die Qualität fünfzig Jahre lang halten konnte. Seit dem 1. Juli 1954 sorgt er für Humor zwischen Bucheinbänden – die ersten zwei Drittel dieser Zeit in der DDR, wo manches gemäßigt und alles zensiert war, besonders wenn es ums Eigene ging; aber international konnte man sich schon sehen lassen. Daß es nach der Wende nicht wie bei vielen anderen DDR-Verlagen den Bach hinunterging, ist weder einem Mäzen noch einem reichen Selbstverwirklicher, der sich zum Verleger berufen fühlte, zu danken, sondern Matthias Oehme und seiner Mannschaft, die heldenhaft ums Überleben kämpften, und dies mit Konzept und Prinzipien. Sie ließen die Leser und Autoren aus Vorwendezeiten nicht allein und warben zugleich um Neugierige, die mit Namen wie Biskupek und Büttner, Bofinger und Ensikat, Stengel und Stave, Röhl und Petersdorf, Wedel und vielen anderen erst einmal nichts anfangen konnten, aber nach der Lektüre neuer frecher Texte zu Fans wurden. Daß neben den klassischen Humoristen mehr und mehr (denn inzwischen hat sich aus dem Eulenspiegel-Verlag eine Eulernspiegel-Verlagsgruppe entwickelt) bedeutende, von anderen links liegen gelassene Schriftsteller wie Peter Hacks, Ludwig Renn oder Rainer Kirsch eine echte Heimstatt (mit Gesamtausgaben!) fanden, ist so toll wie das ganze fünfzigjährige Unternehmen. Christel Berger
Erschienen in Ossietzky 13/2004 |
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