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In den Jahrhunderten vor 1789 hatte sich bei allen Kriegen, Hungersnöten und sonstigen Katastrophen das Leben des gemeinen Volkes über die Generationen wenig geändert. Die Epoche aber, die 1789 mit dem Sturm auf die Bastille begann, war die der doppelten Revolution: neben der unter der Trikolore die unter dem Schornstein, die industrielle Revolution. Diesem Doppelschlag folgten technische und soziale Umbrüche, die das Leben der Menschen schnell und tiefgreifend änderten. Verglichen damit fließt unsere Zeit träge dahin. »In den meisten Industrien«, stellte kürzlich der Londoner Economist in einem speziellen Report fest, »sind Durchbrüche, die einen wirklichen Unterschied machen, immer seltener geworden.« Wie wahr: Man muß schon zum lächerlichen Handygeklingel Zuflucht nehmen, um für unsere Zeit eine Neuerung nennen zu können, die mit der Einführung der Eisenbahn, des Automobils, der Elektrizität oder des Fernsehens in einem Atemzuge zu nennen wäre. Ein Mensch von 1910, per Zeitmaschine versetzt in die Zeit von 1960, wäre aus dem Staunen nicht mehr herausgekommen. Ein Mensch, per Zeitmaschine von 1960 nach 2010 versetzt, wird sich vermutlich zügig zurechtfinden. Am ehesten würde der Neubürger aus den 60ern wohl über die Computer staunen, die er als pfiffige Verschmelzung von Fernseher, Schreibmaschine, Telegraf und Telefon begrüßen und vermutlich schnell selber nutzen würde. Gewiß haben PC’s und Spielkonsolen die Arbeits- und Freizeit vieler Menschen umgestaltet. Ich stimme aber mit nicht wenigen bürgerlichen Ökonomen überein, die die EDV hinsichtlich ihrer Wirkungstiefe nicht mit der Eisenbahn oder der Elektrifizierung auf eine Stufe stellen wollen – was freilich in einem eigenen Artikel näher zu begründen wäre. Insgesamt bietet die Gegenwart das Bild erlahmender Innovation. Das gilt auch politisch. Außer dem Überstülpen aller westdeutschen Gesetze nach Ostdeutschland und aller Brüsseler Erlasse nach Osteuropa hat sich in den politischen Strukturen seit Jahrzehnten wenig geändert. Sind wir also nach den aufregenden Tagen von 1989/91 in das Zeitalter der Stagnation geraten? Ein zweiter Blick erhärtet die Vermutung, daß die Geschichte unter dem Schein der Stagnation keine Pause macht. In den nach 1945 führenden kapitalis-tischen Industrienationen erleben die dort aufwachsenden Menschen seit den Siegen von Reagan und Thatcher einen kontinuierlichen Abbau sozialer Sicherungssysteme. Der Neoliberalismus hat sich in seinen angelsächsischen Hochburgen, beklagt selbst von Konservativen, so weit durchgesetzt, daß die Leistungen sowohl in der Alters- und Gesundheitsversorgung als auch im Bildungswesen vom individuellen Einkommen abhängig geworden sind. Die Ergebnisse der großen wohlfahrtsstaatlichen Offensiven des 20. Jahrhunderts zerfallen. Mit ihnen zerfallen die Gebisse der schlechter Verdienenden, die Lebenserwartungen der Arbeitslosen und die Lesefähigkeiten der in den wachsenden Slums von New York und London lebenden Menschen. Die Bundesrepublik Deutschland befindet sich seit dem Verstummen ihres sozialen Gewissens DDR in einer erfolgreichen Aufholjagd. In Niedersachsen beispielsweise, so berichtet der über jeden linken Verdacht erhabene Hartmann-Bund, ist die Zahl arbeitsloser Arzthelferinnen von Januar bis März um 18 500 gestiegen. Was früher nur Warnung der Linken war, ist heute Realität: Die Armen gehen nicht mehr zum Arzt. Dafür überweisen die Unternehmer künftig einen geringeren Beitrag aus ihren reichlich sprudelnden Profiten an die vom Mai 1889 bis zur Agenda 2010 paritätisch finanzierten Krankenkassen. Die allgemeine Schulpflicht existiert zwar noch, wird aber durch wachsende Schulschwänzerei einerseits und auch in Deutschland grassierendes Privatschulwesen andererseits ausgehöhlt. In der Perspektive wird Bildung das, was es vor 1789 wie selbstverständlich war: ein Privileg der Reichen. So wie auch Gesundheit und Versorgtsein im Alter. Das ist keine deutsche Krankheit. Diese Prozesse lassen sich in unterschiedlichen Ausprägungen und Geschwindigkeiten in allen kapitalistischen Industrienationen beobachten. Die Vermutung liegt nahe, daß wir, der Kategorisierung Hobsbawms folgend, im Zeitalter des Zerfalls leben. Nun weiß jeder Gärtner, daß es ohne den Komposthaufen weder Kohl noch Tulpen gibt. Der Zerfall, der sich vor unseren Augen abspielt, ist wohl ähnlich notwendig wie der Zerfall feudaler Strukturen vor 1789, ohne den weder die Aufklärung noch die industrielle Revolution möglich gewesen wären. »Das Kapital« beginnt mit dem Satz: »Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ›ungeheure Warensammlung‹, die einzelne Ware als seine Elementarform.« Kapitalistische Verwertung ist an einen verkaufbaren Gegenstand geknüpft. In der Massenproduktion solcher Waren – vom Baumwolltuch bis zum Automobil – liegt die Stärke und historische Berechtigung des Kapitalismus. Durch Anhäufung ungeheurer Warenberge konnte er über die frühe sozialistische Gesellschaft Osteuropas siegen, die sich der Produktion von Konsumartikeln eher lustlos, der Kultur, dem Sozialen, der Politik und der Bildung dafür um so begieriger zuwandte. Die Produktion dieser Warenberge verschwindet aber mit wachsender Produktivität genauso aus dem Zentrum menschlicher Tätigkeit wie die Produktion von Nahrungsmitteln vor zweihundert Jahren aus dem Zentrum menschlicher Tätigkeit zu verschwinden begann. Zur Herstellung aller Nahrungsmittel, aller Kleidung, aller Transportmittel, Häuser und sonst noch zum Leben notwendigen Gegenständen braucht die Menschheit heute anders als früher nur noch rund ein Fünftel ihrer produktiven Kraft. Kapitalistisch, also auf der Grundlage von Privateigentum organisiert, sind die anderen Menschen überflüssig und lästig, weil sie zur Mehrwertproduktion, die an gegenständliche Waren gebunden ist, nicht mehr gebraucht werden. Das eigentlich menschliche Leben – Kultur, Bildung, Erziehung, Sorge um den Mitmenschen – ist über den kapitalistischen Markt nicht organisierbar. Es wartet viel Arbeit, die aber auf einem aus Individualismus und Privateigentum bestehenden Boden verdorrt. Sie gedeihen nur auf dem Boden von Solidarität und kollektivem Eigentum. Das Tragische dieses vor unseren Augen vor sich hinwelkenden Kapitalismus besteht nun (außer daß wir in ihm leben) darin, daß er isoliert auf seinem starken Feld – der Produktion gegenständlicher Waren – gar nicht weiter gedeihen kann. Der Profit realisiert sich nicht mit der Herstellung, sondern erst mit dem Verkauf der Ware. Weil dank wachsender Produktivität die Zahl der in der Warenproduktion Beschäftigten schrumpft und weil Kapitalismus die nicht an die Warenproduktion gebundenen Tätigkeitsbereiche nicht entwickeln kann, schrumpft auch die Zahl derer, die die Waren noch kaufen können. Das ist der politökonomische Grund, warum so vieles schrumpft: Bevölkerungen, Bibliotheken, Krankenpraxen und bald auch warenproduzierende Fabriken. Im Zeitraffer sehen wir deutlich die Implosion der auf Warenwirtschaft beruhenden Gesellschaften. Sie hat bereits diejenigen Bereiche menschlichen Lebens erfaßt, die für sie Randbereiche sind: Bildung, Gesundheit, Versorgung der nicht produktiv Tätigen. Aufgrund der immanenten ökonomischen Logik wird sich der Zerfall binnen weniger Jahrzehnte auch bis in das Mark dieser Gesellschaft, die Warenproduktion selbst, vorgefressen haben. Nicht also wegen des Versagens einzelner Politiker, sondern weil die Überwindung des Privateigentums als Gesellschaftsgrundlage zur Zeit stockt, leben wir in einer Epoche des Zerfalls. Willkommen im Kompost.
Erschienen in Ossietzky 12/2004 |
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