Scherben

Martin Petersen

Das Fernsehen zeigt Günter Wallraffs Dokumentation aus den Sechzigerjahren über ältere Männer, die sich mit dem Leierkasten über Wasser hielten. Heute, denke ich, muß sich niemand mehr so zur Schau stellen. Zwei Wochen später steht ein Mann in der Ladenstraße, der die Kurbel eines Leierkastens dreht. Die fröhliche Musik paßt nicht zu seinem erstarrten jungen Gesicht. Die Menschen gehen vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.

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An der Bushaltestelle schaue ich auf den Fahrplan. Ein alter Mann mit Gehwagen wühlt im Abfall. Er dreht sich zu mir um und sagt: »Das ist mein Hobby. Ich mach das, weil ich ja was zu tun haben muß. Eigentlich bin ich ja pensionierter Beamter.« Er trägt abgewetzte Kleidung, ist grau im Gesicht und hat eingefallene Wangen. »Wissen Sie, was mir neulich geschah?« Er lacht. Ihm fehlen zwei Schneidezähne. »Da kam einer zu mir und gab mir zehn Euro. Und ein anderes Mal bekam ich fünf angeboten. Die hab ich angenommen, obwohl ich das doch eigentlich nicht brauch.« Ich warte auf den Bus und schäme mich – weil ich ihm so auf die Pelle gerückt war, daß er glaubte, sich rechtfertigen zu müssen. Weil er im Müll wühlen muß, während ich die Mülleimer fülle. Weil wir in einer Welt leben, wo einer wie er nicht die Wahrheit sagen mag.

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Mein Internist schneidet mir ein Karbunkel auf. »Ich mach’ das ohne Spritze, die ist nämlich noch schmerzhafter als das Stichskalpell.« Und teurer ist sie wohl auch. Auf »Drei!« beiße ich die Zähne zusammen.

Nach dem Eingriff berichtet eine Arzthelferin: Das Krankenhaus hat angerufen, Herr XY liegt da und braucht Medikamente. »Aber das Rezept sollen Sie ausstellen, das Krankenhaus weigert sich.« Mein Arzt läßt nachsehen, ob XY Mitglied in einer Krankenkasse ist. »Ja, in der Barmer.« Er wäscht sich die Hände und sagt: »Das wird immer verrückter.«

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Im Bus sitzen hinter mir zwei Frauen. »Da ist ja kein Geld mehr, iss ja klar, daß gespart werden muß. Vor allem bei’n Arbeitslosen. Den’ geht’s doch viel zu gut.« Darauf die zweite: »Mein Sohn is auch ohne Arbeit, aber unverschuldet.« Wieder die erste: »Das is nich leicht, so ohne Arbeit. Aber gespart werden muß doch.« Die zweite: »Wo soll das auch herkomm’?«

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Eine Freundin ist von der »Brücke« angeschrieben worden. Die Einrichtung erklärt sich bereit, ihr nach Absprache die notwendigen Psychopharmaka zu bezahlen. »Die machen das,« sagt sie, »weil es psychisch Kranke gibt, die sich Arztbesuche und Medikamente nicht mehr leisten können. Wenn die ohne Arznei wieder krank werden, kann das ihr Leben ruinieren.« Sie heftet den Brief sorgfältig in einem Ordner mit der Aufschrift »Leben« ab.

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Die Freundin wird vom Amtsarzt untersucht. Er legt fest, daß sie trotz ihrer schweren Beeinträchtigungen dem Arbeitsmarkt uneingeschränkt zur Verfügung zu stehen hat. Als sie Widerspruch gegen diesen Befund ankündigt, sagt der Arzt: »Das können Sie gerne tun, aber dann wird Ihnen vom Tag Ihres Widerspruchs an das Arbeitslosengeld gesperrt.« Was tun? Wenn sie vermittelt wird und die Anforderungen des Jobs nicht erfüllt, kann ihr das als Arbeitsverweigerung ausgelegt werden.

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Ein Kommilitone vertraut mir an: »Ich würde heute nicht mehr den Kriegsdienst verweigern. Die Menschheit verdient unterzugehen.« Auch einen Job in der Munitionsfabrik würde er annehmen. Er steht im Kontakt mit einer Sekte, die alle Menschen sterilisieren will. »In spätestens hundert Jahren wären dann alle Probleme gelöst.« Er studiert aufs Lehramt.

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Das Jugendmedienprojekt der Stadt wird zu Grabe getragen. Die Jugendlichen konnten dort differenziert über Themen wie Homosexualität oder Antisemitismus schreiben. Auflage: 30 000. Doch die Zeitung bekommt für eine ernsthafte Jugendseite keine Anzeigen, und die Stadt streicht ihre freiwilligen Leistungen für Jugendliche zusammen – also auch die Gelder für das Jugendmagazin. Jetzt dürfen sie wieder schweigen.

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Scherben. So vieles geht in Scherben. Sie haben scharfe Kanten.

Erschienen in Ossietzky 12/2004