Präservativ über der Zunge

Ingrid Zwerenz

In einem anderen Jahrtausend, als Radiosendungen noch Straßenfeger waren, stand bei der Hörerschaft das Westberliner Frontstadt-Kabarett »Die Insulaner« ganz oben auf der Beliebtheitsskala. Günter Neumann und sein Profi-Ensemble mischten heißen Herzens mit im Kalten Krieg, so scharfzüngig gegen den Osten wie sanftmütig gegenüber Deutschland-West. Sie erheiterten durch ihre große Klappe und lieferten unvergeßliche Gags über das im Nachkrieg sich wieder etablierende Kleinbürgertum. Das »Gelsenkirchener Barock« und sonstiger Schnickschnack in der mühsam wiederhergerichteten Behausung boten Stoff genug. »Schoner zum Schonen der Schonerdeckchen« hatten die Kabarettisten in trauten Heimen entdeckt. Zu schön.

So betulich werden wir heute vom TV-Programm bedient. Immer häufiger erblicken wir in den Talkshows Moderatoren beim Moderieren von Moderatoren. Das Muster stammt unverkennbar von den Schonern zum Schonen der Schonerdeckchen. Im Fernsehen ist das Fernsehen zu Gast. Eine Hand wäscht die andere. Ein TV-Kopf interviewt den anderen TV-Kopf. Diese Selbstgenügsamkeit des Mediums, die sich zur Selbstparodie auswächst, hat kein Satiriker ersinnen können. Gründe für das Verfahren liegen auf der Hand: Nur kein Risiko eingehen. Ein Bildschirm-As ist dem nächsten zu Diensten und trägt dabei ein Präservativ über der Zunge, damit beim Gespräch nichts herauskommen kann, das Hand und Fuß hat. Man weiß von vornherein, was er oder sie sagen wird, während bei fremden, unkonventionellen Gesprächspartnern unliebsame Überraschungen drohen.

Früher gab es immer mal welche, die mit provokanten Auftritten das moderate Ritual durchbrachen und tatsächlich etwas Neues und ihre Wahrheit zu sagen wagten. Das muß nicht sein, besser, man schmort im eigenen Saft. Der Gewöhnungseffekt ist gewünscht. TV-Größen, die regelmäßig auf ihrem eigenen festen Sendeplatz zu sehen sind und dort ihren Job erledigen, werden per Nacht-Talk zusätzlich befragt und ausgeleuchtet, man setzt auf den Wiedererkennungswert des Markenartikels. Programm-Verantwortliche wollen den Zuschauer nicht durch neue Gesichter und womöglich abweichende Meinungen verschrecken.

Kein neues Gesicht, aber eine abweichende Meinung war kürzlich bei Maischberger über ntv zu erleben. Da verkündete ein umtriebiger Bundeswehrhochschul-Professor, Folter an Terroristen sei tolerierbar. Wolffsohn trat im Schafspelz auf, warf ihn aber rasch ab, inzwischen hat er den Pelz wieder übergezogen: Er habe sich nicht als Professor, sondern als Privatmann geäußert. Ein geteilter Mensch eben und Humanist dazu. Die fleißige Moderatorin hat neben dem ntv-Talk noch ihre ARD-Sendung Menschen bei Maischberger. Wie wäre es mit der Variante »Unmenschen bei Maischberger«? Die Gäste plaudern aus, was sie wirklich denken und distanzieren sich sogleich aus taktischen Gründen.

Es gibt erfreuliche Ausnahmen. Vor Monaten war Roger Willemsen als Gast im deutschen Talk wiederzusehen, der seinen Platz beim ZDF 2001 frustriert geräumt hatte. Von ihm stammt der tiefgründige Satz: »Im TV wurde niemand je bestraft, der sein Publikum unterforderte.« Diese Gefahr besteht nicht beim »intelligentesten Talkmaster, den das deutsche Fernsehen je in seinen Studios geduldet hat«. Das hohe Lob für den hochgewachsenen Roger findet sich im Internet. Es gilt ebenso für den eben verstorbenen unnachahmlichen Interviewer Günter Gaus und dessen Gesprächsreihe Zur Person.

Willemsen ist hoffentlich bei guter Gesundheit, nur moderiert er jetzt als Gastarbeiter die Sendung Literaturclub in der Schweiz.

Erschienen in Ossietzky 11/2004