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Doch schon am nächsten Tag findet sich auf der Website des brandenburgischen Verfassungsschutzamtes (VS) ein Artikel, der den Anschlag zum Thema und den Ossietzky-Beitrag zum Dreh- und Angelpunkt folgender Argumentation macht: »Der am Tatort gefundene Artikel reiht sich ein in eine Serie ähnlicher Veröffentlichungen, die in ihrer Summe Gewaltbereitschaft fördern oder direkt hervorrufen. Mit solchen Texten ist die Straße zur Straftat gepflastert.« Dieser Fall ist keine Erfindung, sondern bundesdeutsche Realität. Der Anschlag war zwar nicht gegen das Arbeitsamt in Potsdam gerichtet, sondern gegen die Ausländerbehörde in Frankfurt/Oder. Es handelte sich auch um keinen. Brandanschlag, sondern die unbekannten Täter zerschlugen in der Nacht zum 16. September 2003 Fensterscheiben, schütteten eine übelriechende Flüssigkeit in die Räume, verschmierten die Schlösser der Außentüren mit Klebstoff und sprühten Parolen. Am Tatort hinterließen sie keinen Ossietzky-Artikel, sondern kommentarlos, so die Polizei, den Abdruck eines Artikels über Flüchtlingspolitik, der seit Februar 2001 auf der World Socialist Web Site der Partei für Soziale Gleichheit steht (www.wsws.de). Diese Partei tritt für eine sozialistische Politik und die Verteidigung demokratischer und sozialer Rechte ein. Titel des inkriminierten Artikels: »Abschiebepolitik und Grenzregime – Die tödlichen Folgen deutscher Flüchtlingspolitik«. Der Verfasser war nicht Otto Meyer, sondern die Autorin heißt Lena Sokoll. Aber die VS-Behörde ist identisch: die Abteilung V im Innenministerium des Landes Brandenburg (Verfassungsschutz). Der Artikel von Lena Sokoll setzt sich kritisch mit der Flüchtlingspolitik der Bundesrepublik auseinander (http://wsws.org/de/2001/feb2001/ausl-f24.shtml). Er prangert die Zustände an den deutschen und europäischen Grenzen an, beziffert die Opfer der Abschottungspolitik gegen Flüchtlinge, schildert die Praxis der Abschiebehaft und der Abschiebungen, durch die zahlreiche Betroffene zu Schaden, einige zu Tode gekommen sind. Diese Kritik wird von Flüchtlingsinitiativen und Menschenrechtsorganisationen geteilt. Wenige Stunden nach dem Anschlag in Frankfurt/Oder veröffentlicht der VS auf seiner allen Internet-Nutzern zugänglichen Homepage einen Beitrag voller Verleumdungen und Unterstellungen. Der Fund des wsws.de-Artikels am Tatort dient den anonym bleibenden VS-Autoren dazu, den »linksextremistischen Hintergrund der Tat« und die »Bezüge der Täter zum linksextremistischen Spektrum« zu belegen. Zunächst aber nehmen sie zu diesem Zweck eine Textanalyse vor. Die Autorin klage die Ausländerbehörden sowie den Bundesgrenzschutz und die Polizei an, »menschenverachtend mit Flüchtlingen und Ausländern umzugehen«. Dem Bundesgrenzschutz werfe sie vor, Flüchtlinge daran zu hindern, überhaupt nach Deutschland zu kommen. Auch die Praxis der Abschiebung, so der VS, werde sehr kritisch beschrieben. Schließlich behaupte die Autorin, daß hierbei Betroffene wiederholt verletzt worden oder gar zu Tode gekommen seien. Das Verfassungsschutzamt tut so, als wären das lauter linke Hirngespinste. Bei dieser gespielten Ahnungslosigkeit wollen es die VS-Autoren aber nicht belassen. Sie unterstellen der Verfasserin »Skepsis, ob der Kampf staatlicher Stellen gegen Rechtsextremismus ernst gemeint sei«. Die Autorin deute an, »daß Staat und Rechtsextremisten unter einer Decke steckten« – eine Schlußfolgerung, die aus dem inkriminierten Artikel für einen verständigen Leser nirgends herauszulesen ist. Schon gar nicht aus jenem Satz, auf den sich die Schlußfolgerung nur beziehen kann: »Mit der Abschiebe- und Abschottungspolitik macht die offizielle Politik den Nazis vor, daß das Leben eines ›unerwünschten‹ Ausländers in Deutschland nichts wert ist.« Jemandem etwas vorexerzieren bedeutet gerade nicht, mit ihm »unter einer Decke« zu stecken. Sodann widmet sich der VS dem »Argumentationsschema von Linksextremisten«, dem auch der inkriminierte Artikel folge. »Die Behauptung, daß die Ausländerpolitik der Bundesregierung mit rechtsextremistischer Ausländerfeindlichkeit gleichzusetzen sei«, finde sich »in vielen linksextremistischen Veröffentlichungen«. Will sagen: Deshalb müssen alle, die solches ebenfalls behaupten, linksextremistisch sein – eine »Logik«, die sich schon während der Kommunistenverfolgung der 50er und 60er Jahre vor bundesdeutschen Gerichten großer Beliebtheit erfreute. In linksextremistischen Veröffentlichungen werde argumentiert, so der VS-Text weiter, »daß der Staat durch sein Handeln Rechtsextremisten geradezu ermutige, gegen Ausländer und Flüchtlinge gewaltsam aktiv zu werden«. Demgegenüber schreibt Lena Sokoll in ihrem Artikel von der politischen »Verantwortung für den grassierenden Rassismus, die Politiker wie der deutsche Innenminister Otto Schily tragen, wenn er in Bezug auf Flüchtlinge die ›Grenzen der Belastbarkeit‹ beschwört«. Seit der Demontage des Asylgrundrechts und der Instrumentalisierung der Zuwanderungsdebatte haben Bürgerrechtler auf solche möglichen Auswirkungen immer wieder warnend hingewiesen. Erst an dieser Stelle versucht der VS, ein wenig zurückzurudern: »Man wird der Autorin des Aufsatzes nicht nachsagen können, für den Anschlag in Frankfurt (Oder) direkt verantwortlich zu sein. Strafrechtlich ist ihr nichts vorzuwerfen, schließlich hat sie an keiner Stelle zur Gewalt aufgerufen.« Großzügigerweise macht der VS die Autorin nicht »direkt« für den Anschlag verantwortlich – aber indirekt schon. Schließlich sei zur Zeit die Flüchtlingspolitik »eines der zentralen Themen von gewaltbereiten Linksextremisten«, die »gerade auch mit dieser Thematik Gewalt gegen Personen und Sachen« legitimierten. Soll heißen: Wer diese Thematik in ähnlich kritischer Weise aufgreift und behandelt, macht sich zwar nicht strafbar, arbeitet aber Gewalttätern in die Hände, ist geistiger Brandstifter. »Der in Frankfurt (Oder) am Tatort gefundene Artikel reiht sich ein in eine Serie ähnlicher Veröffentlichungen, die in ihrer Summe Gewaltbereitschaft fördern oder direkt hervorrufen. Mit solchen Texten ist die Straße zur Straftat gepflastert.« In diesen verleumderischen Sätzen gipfelt das VS-Traktat. Die Partei für Soziale Gleichheit hat sich gegen die geheimdienstliche Diffamierungskampagne zur Wehr gesetzt und die Verfassungsschutzbehörde aufgefordert, die unrichtigen und diskriminierenden Textpassagen unverzüglich zu löschen. Der VS handele rechtswidrig, wenn er den Artikel und seine Autorin gegenüber der Öffentlichkeit als »linksextremistisch« einordnet, als gewaltfördernd diffamiert und geistige Miturheberschaft behauptet. Der VS mißbrauche mit dieser öffentlichen Verrufserklärung seine Befugnis, die Öffentlichkeit zu unterrichten. Das müsse sich kein Autor, keine Partei, kein Verantwortlicher für eine Website von einer staatlichen Institution gefallen lassen. Der Leiter der VS-Behörde Brandenburg, Wegesin, antwortete lapidar und ohne Anflug von Unrechtsbewußtsein: Er könne in dem VS-Beitrag weder ehrverletzende Äußerungen und unwahre Tatsachenbehauptungen noch strafrechtlich relevantes Handeln erkennen. Deshalb werde der Text nicht entfernt. Weiteren Schritten sehe die Behörde »mit Gelassenheit entgegen«. Das Schreiben endete mit der versteckten Drohung: »... daß auch die Unterstellung, die Brandenburgische Verfassungsschutzbehörde äußere sich auf ihrer Website in verleumderischer Weise, den Bereich strafrechtlicher Relevanz berühren kann«. Bevor die Geschädigten Klage gegen den VS erhoben, stellte sich heraus, daß die Veröffentlichung nicht mehr abrufbar ist. Der VS begründete das mit technischen »Veränderungsarbeiten« an der Website. Darin sei kein Schuldeingeständnis zu sehen. Der VS halte den Text nach wie vor für nicht beanstandungswürdig. Mit einer Argumentation wie in dem VS-Beitrag könnte jeder kritische Autor, dessen Text in Zusammenhang mit einer Gewalttat gebracht und mißbraucht wird, Opfer eines zweiten Mißbrauchs durch den VS werden. Diese Vorgehensweise rückt jede pointierte Kritik an staatlicher Politik, jede harte Kritik an Regierungshandeln in den Dunstkreis der Förderung und Unterstützung strafbarer Handlungen und von Gewalt. Die Einstufung des Artikels als »linksextremistisch« und letztlich anschlagsrelevant ist willkürlich und damit unzulässig. Sie beeinträchtigt die verfassungsmäßigen Rechte der Autorin, der Partei und ihrer Funktionäre, sie ist ein Angriff auf deren Persönlichkeitsrechte, auf das Grundrecht der Meinungs- und Pressefreiheit und auf die Parteienfreiheit. Wenn sich doch die amtlichen Verfassungsschützer jemals die Verfassung angesehen hätten, die sie dem Namen nach schützen sollen!
Erschienen in Ossietzky 10/2004 |
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