Das neue Feindbild

Bernd C. Hesslein

Ohne Feindbilder geht's wohl nicht. Jahrzehntelang war es der Weltkommunismus, auf den westliche Politik Denken und Handeln fixierte. Jetzt hat die dem Vorherrschaftstreben zugehörige Bedrohungsphantasie im Terrorismus ein neues eindimensionales Schreckensbild gefunden. Wieder sind wir dabei, der wirklichen wie der möglichen Gefahr mehr Aufmerksamkeit und Anstrengung zu widmen als der Beseitigung erkennbarer Ursachen, weltpolitischer Risiken. Und ebenso schnell sind wir wieder bereit, die Gesellschaft in einen latenten Ausnahmezustand versetzen zu lassen.

Wie schnell das geht, demonstriert gerade Hans Leyendecker, leitender Redakteur der Süddeutschen Zeitung . Mitte April reitet er eine ganzseitige Attacke gegen die »Appeasement-Fraktion«, »... die vorgibt, der deutsche Rechtsstaat müsse davor bewahrt werden, Polizeistaat zu werden«. Doch genau das ist unsere Erfahrung nach dem Deutschen Herbst und der Auseinandersetzung um die Volkszählung. Die politischen Strafgesetze, unter dem Vorbehalt der Ausnahme während des RAF-Terrors erlassen, existieren unverändert bis heute. Den unerwarteten Freiraum der Informationellen Selbstbestimmung hingegen verdanken wir dem öffentlichen Protest, der bis zum Verfassungsgericht nach Karlsruhe führte. Leyendecker befindet heute: »Die informationelle Trennung von Nachrichtendiensten und Polizei, für die es in der deutschen Geschichte gute Gründe gab, sie ist angesichts der Gefahr zum Anachronismus geworden.«

Der Journalist Hans Leyendecker hat oft wider den Stachel des Staates und seiner Geheimdienste gelöckt und sich dabei auch schon mal geirrt. Das hat ihn angreifbar gemacht. Jetzt ist er ein Wasserträger der Desinformationsstrategen. In seinem Wochenend-Erbauungsartikel heizt er Angst und Aggression mit der reißerischen Ankündigung an: »Geheimdienstinformationen belegen: Deutschland ist im Visier islamistischer Terroristen. Der Rechtsstaat versagt, wenn er sich nicht endlich auf eine Bedrohung einstellt, die es in diesem Ausmaß noch nicht gab.« Wie ihr zu begegnen sei, wird gleich als Forderung an die Politik erhoben: »Der Rechtsstaat aber muß angesichts der Erkenntnisse, die über den islamistischen Terror vorliegen, in der Tat bis an die Grenzen gehen.« Wo diese liegen, ist eine Frage des Ermessens, wie uns die Dioskuren deutscher Sicherheitspolitik, Günther Beckstein und Otto Schily, fast täglich vorführen.

Auch über die Ursachen des Terrors hegt Leyendecker keine Zweifel, vor allem keine Selbstzweifel. Es sind die »islamistischen Glaubensfanatiker«. Sie wollen, so behauptet er, »die Welt in Flammen setzen, und es macht ihnen nichts aus, dabei selber zu verbrennen. Weil sie in einem Wahnssystem leben, lassen sie sich auch nichts abhandeln.« Doch was ist mit dem Terror in Belfast? Was mit dem, der von Ariel Scharon ausgeht? Oder dem, den das Militär mit seinen Massenvernichtungswaffen ausübt? Und was den Glaubenswahn betrifft, ist er nicht Teil der Geschichte des Christentums, zu einer Zeit, als diese Weltreligion so alt war wie heute der Islam?

Uns war nicht fremd, was viele unter uns heute mit Schrecken und Paranoia erfüllt. Das zu begreifen, mag uns befähigen, den in allen Gesellschaften epidemisch auftretenden Terrorwahn einzudämmen. Das heißt vor allem, miteinander zu reden, anstatt zu vernichten. Wie das Beispiel Israel gezeigt hat, können aus Bombenlegern Ministerpräsidenten werden. Leyendecker verschließt sich dieser Erkenntnis mit der als Frage kaschierten Behauptung: »... aber was war der Terrorismus der Geschichte gegen die Brandwut der Islamisten in unserem Jahrhundert?«

Inschallah!

Helge Uhlmann, Man fühlt sich fast wie in "1984" (22. May. 2004, 17:57)

Erschienen in Ossietzky 9/2004