Die faulen Kinder

Günther Schwarberg

Manchmal schäme ich mich, Journalist zu sein. Journalisten sind mitschuldig am Überfall auf Jugoslawien, am ersten Golfkrieg, am zweiten. Mitschuldig an den Raketen auf den Belgrader Fernsehsender. Mitschuldig an Berlusconi, an dem jahrzehntelangen Schweigen über die deutschen Naziverbrecher, an der Verharmlosung der Neonazis, an der Kürzung von Sozialleistungen, an der Arbeitszeitverlängerung, am Kulturabbau, an … –

Und jetzt: Tausende Jugendliche finden keinen Ausbildungsplatz, ihr Weg ist von der Schulbank direkt zum Arbeitsamt vorgezeichnet. In den Abgangsklassen Hoffnungslosigkeit, Apathie, Desinteresse. Was lohnt heute noch das Lernen, wenn Rodenstock seine Fabrik nach Tschechien verlagert, wenn Siemens ganz wegzieht, wenn Kodak fünfzehntausend Arbeitsplätze streicht, wenn im Jahre 2005 eine halbe Million Menschen nicht einmal mehr Arbeitslosenhilfe bekommen?

Man kann als Journalist die ganze Sache auch umdrehen und die Schuld bei den Kindern sehen, indem man eine Schlagzeile schreibt: »Lehrstellen auch für Analphabeten?« So tat es Die Welt und bezog sich auf eine Behauptung des Arbeitgeber-Präsidenten Hundt: »20 bis 25 Prozent der Schulabgänger können kaum lesen und schreiben.« Klappe zu, Schulabgänger tot.

Das läßt sich noch steigern mit einer fetten Seiten-Überschrift »Generation kann nix«. So tat es Stefan von Borstel mit der Behauptung, die Jugendlichen seien »nicht ausbildungsfähig«. Er erzählte lauter Beispiele von Schülern, die faul sind, keinen Bock haben, nicht einmal Bewerbungen abschicken. Das »zehnte Zehntel in Deutschland« sei eine »verlorene Jugend«, kommentierte Nikolaus Blome (verantwortlicher Redakteur für Innenpolitik und Parlamentsbüro), weil diese jungen Menschen »nicht haben, was eine moderne Gesellschaft von ihnen als Gegenleistung verlangt: Fertigkeiten, selbst geringste, und Tatkraft«.

Nicht das kapitalistische System bringt also dieses Elend hervor, sondern es sind »Familie, Sozialpolitik und Schule«, die »mit falschen Regeln und unklarer Orientierung... das meiste zur Deformierung und Stagnation am untersten Ende der Gesellschaft« beitragen. Das »alimentierte Getto der Willen- und Bildungslosen« werde von denen hervorgerufen, die »Scheinlösungen« wie eine Ausbildungsplatzabgabe fordern.

Dabei geben sich die liebe, gute Industrie und die Wirtschaft ja solche Mühe: Die Industrie- und Handelskammern »helfen nach«, stellen »sozialpädagogische Betreuung«, aber Gisbert Kurlfinke von der IHK Aachen »kennt Jugendliche, die morgens von ihrem Betreuer zu Hause abgeholt werden müssen, weil sie sonst nicht am Arbeitsplatz erscheinen«.

So sind sie, die Journalisten, die nur wissen, was Arbeitgeber und Handelskammern ihnen sagen, und sonst nix.

Erschienen in Ossietzky 9/2004