Karl M.'s aktuelle Botschaft

Werner René Schwab

Vor 100 Jahren ist ein Roman erschienen, dessen politische Aussagen bis heute ihre Gültigkeit behalten haben. Er beruht auf weltpolitischen Ereignissen, die sich gerade in unseren Tagen in frappierender Weise wiederholen. Anlaß des Werkes war der sogenannte Boxer-Aufstand in China, der sich zuerst gegen das korrupte Kaisertum wandte, dann aber auch gegen die Vertreter der imperialistischen Mächte, die das Land und seine Schätze hemmungslos ausbeuteten und es wie eine Kolonie behandelten. Diesen Aufstand nahmen das deutsche Kaiserreich, Rußland, Frankreich, die USA, Großbritannien und Japan zum Anlaß, ein Expeditionskorps unter Leitung des deutschen Generalfeldmarschalls Graf von Waldersee zu entsenden, um, wie sie deklarierten, den Frieden wiederherzustellen und die westlichen Werte wie freier Handel und Zugang zu den Märkten und Bodenschätzen des Landes zu sichern. Kaiser Wilhelm II. hatte die passende Losung ausgegeben: »Völker Europas, rettet eure heiligsten Güter!« Unser Kriegsminister Peter Struck (SPD) kann sich also mit seiner Behauptung, Deutschland werde heute auch am Hindukusch verteidigt, auf ein gekröntes Vorbild berufen. Als die »Koalition der Willigen«, wie man heute sagen würde, einen leichten, aber für die »Völkerrechtsverletzer« (Originalton Wilhelm II.) blutigen Sieg errungen und so wieder Frieden gestiftet hatte, mußte China dafür mit Bodenschätzen und günstigeren Handelsbedingungen – günstiger für die anderen – zahlen.

Über den Sieg herrschte Jubel in den patriotisch gesinnten Kreisen Deutschlands, bei den Verfechtern einer »schimmernden Wehr«, beim Großbürgertum und seinem Kolonialverein, bei den Adeligen, Monarchisten und Militärs. Also kam Joseph Kürschner, Herausgeber des renommierten und weitverbreiteten Deutschen Literatur-Kalenders , auf die Idee, »den Ruhmestaten deutscher Kriegskunst« ein literarisches Monument in drei Bänden unter dem Titel »China – Ein Denkmal den Streitern und der Weltpolitik« zu errichten. Als Beispiel für die Weise, die angeschlagen wurde, seien hier nur vier Zeilen des damals einigermaßen bekannten Lyrikers Johannes Trojan aus seinem Gedicht »Füsilier Schulze« zitiert: »Fünfe links und fünfe rechts / Zerrt er an den Zöpfen / In der Hitze des Gefechts / Um sie dann zu köpfen.«

An einen Autor wandte sich Kürschner mit dem Vorschlag, einen Roman über chinesische Banditen schreiben. Der bekannte Volksschriftsteller sagte zu – und nutzte die Gelegenheit zu einem genialen Schelmenstreich. Denn er lieferte genau das Gegenteil dessen, was der Herausgeber erwartet hatte, wie der auch zugab. Dem Autor gelang das, weil vor Veröffentlichung der drei Bände das Werk in Fortsetzungsheften erschien. Er schickte die Kapitel immer so spät, daß nichts mehr geändert werden konnte. Und so las man überrascht zum Beispiel folgende Sätze, die ein Chinese in einem Gespräch mit Deutschen und Engländern sagt: »Was haben wir den andern Völkern zu leid getan? Trachten wir nach den Schätzen ihrer Bergwerke, nach den Früchten ihrer Felder, nach den Erträgnissen ihrer Industrie? Nein. Sie legen mit ihren Kanonen unsere Mauern, Türme und Häuser in Trümmer ... sie muten uns zu, ihrer Versicherung zu glauben, daß sie es mit der Erfindung ihrer ›Interessensphäre und offenen Tür‹ nur auf unser Heil abgesehen haben.«

Könnten diese Sätze nicht auch von einem Serben stammen, dessen Land vor fünf Jahren von der NATO überfallen worden ist, oder von einem einfachen Einwohner Bagdads? In dem Roman bringt der Autor die Weißen schließlich unausweichlich zu dem Eingeständnis, daß Chinesen, Malayen und Araber (also auch Islam-Anhänger) eine Kultur besitzen, die es an Alter und Bedeutung mit der des Westens aufnehmen kann.

Der Autor dieses Friedensappells heißt übrigens Karl May. Das mag heute noch viele überraschen, wie es damals Kürschner überrascht hat. Denn der hatte in ihm den Herold des weißen Kriegers und Übermenschen gesehen. Dabei sind schon die Helden der bekanntesten früheren Werke, Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi, zwar Raufbolde, aber durchaus pazifistische, die Blutvergießen immer durch Verhandlungen und friedliche Lösungen zu vermeiden suchen.

1904 erschien der Roman, gegenüber den an Kürschner gelieferten Fortsetzungen noch erweitert, in seiner heutigen Form unter dem Titel »Und Frieden auf Erden!« Das Buch sollte Peter Struck und Angela Merkel als Pflichtlektüre auf den Nachttisch gelegt werden.

Erschienen in Ossietzky 7/2004