Zur normalen Fassung

Kampf um das europäische Sozialstaatsmodell

von Marcus Hawel (sopos)

Die Gewerkschaften wären gut beraten, wenn sie den von Bismarck vollzogenen Schritt wieder rückgängig machten, indem sie anfingen, für Gewerkschaftsmitglieder all jenes an sozialer Fürsorge aus eigener Kasse zu kompensieren, was der Sozialstaat meint, nicht mehr finanzieren zu können.

Bundesweit (Berlin, Köln, Stuttgart) demonstrierten am 3. April, der zum europaweiten Protesttag erklärt worden war, über eine halbe Million Menschen allein in Deutschland unter dem Motto "Aufstehen, damit es endlich besser wird!" für den Erhalt des Sozialstaats und gegen die Reformagenda 2010, mit der drastische Einschnitte in die Arbeitsrechte der lohnarbeitenden Bevölkerung sowie der bisher radikalste Sozialabbau in der bundesrepublikanischen Geschichte umgesetzt werden soll.

Der DGB-Vorsitzende Michael Sommer, Hauptredner in Berlin, warf der rot-grünen Bundesregierung eine asoziale Politik vor: die Agenda 2010 lade die wirtschaftliche Krise des Landes auf den Schwächsten ab, wodurch eine Massenverarmung drohe. Frank Bsirske, Vorsitzender der Gewerkschaft ver.di, hob in Stuttgart hervor, daß die Reformpolitik gegen die Interessen der eigenen Klientel gerichtet ist, mithin die Bundesregierung für ihren sozialpolitischen Kurs keine Legitimation erhalten habe. Darüber hinaus biete die Agenda-Politik "nicht nur keine Lösung für die aktuellen wirtschaftspolitischen und sozialen Probleme", sondern sei "selbst ein Teil des Problems".

Die Reaktionen aus Politik und Wirtschaft auf die Proteste waren einhellig. Gerhard Schröder räumte lediglich ein, Fehler in der Vermittlung der Reformpolitik gemacht zu haben, die Richtung aber stimme. Dagegen seien die von den Gewerkschaften organisierten Proteste "wenig hilfreich", so der SPD-Vorsitzende Müntefering. Der rechte Flügel der SPD, der Seeheimer Kreis, forderte sogleich, daß die Bundesregierung von ihrem neoliberalen Kurs nicht abrücke, egal wie viele Menschen auf die Straße gingen. Scharfe und zynische Töne auch von der Opposition. CDU-Fraktionsvize Friedrich Merz: "Einige Gewerkschaften träumen von den siebziger Jahren und vergessen die Zukunft. Wir müssen das Tarifkartell aufbrechen und die Funktionäre entmachten." FDP-Chef Guido Westerwelle wirft den Gewerkschaftsfunktionären sogar Verrat der Arbeitnehmerschaft und Arbeitslosen vor, weil sie angeblich notwendige Modernisierungen der sozialen Marktwirtschaft bekämpften und die Zukunft des Landes aufs Spiel setzten.

Die Zeit der großzügigen Verteilung soll vorbei sein, so der allgemeine Kanon der herrschenden Eliten aus Politik und Wirtschaft. Man könne kein Geld verteilen, das nicht vorhanden sei. Sozialstaatliche Versorgung bestimmen die herrschenden Eliten nicht durch die Notwendigkeit materiell abgesicherter Existenz, sondern durch das Quantum dessen, was vom gesellschaftlichen Reichtum zum Verteilen zugestanden wird. Der Sozialstaat wird aber nicht aus dem Sachzwang leerer Kassen "umgebaut" (ein Euphemismus, der das Absterben kaschieren soll), sondern weil die politischen und wirtschaftlichen Herrschaftseliten dieses Landes den Sozialstaat abschaffen wollen, sind die Kassen mehr oder weniger leer.

Deshalb ist es wichtig, für den Erhalt und auch den Ausbau der sozialstaatlichen Absicherungen auf die Straße zu gehen. Nicht nur einmal - sondern immer wieder. Der politische Kampf kann aber nicht an den nationalstaatlichen Grenzen Halt machen, die Interessen der Subalternen müssen europaweit artikuliert und gegen die herrschenden Eliten in Europa in Stellung gebracht, dürfen nicht in chauvinistischer Ignoranz national buchstabiert werden. Dazu gehört auch die Notwendigkeit der Überwindung von Streitigkeiten zwischen parteilichen und nichtparteilichen Gruppierungen in der Linken. Andernfalls wäre der Kampf angesichts der europäischen Integration nicht nur aussichtslos, sondern auch nicht emanzipativ. Denn es geht um nichts weniger als dafür zu sorgen, daß die europäische Integration auf verläßliche sozialpolitische und wohlfahrtstaatliche Standards hinausläuft, die rechtlich einklagbar sind, d.h. in einer künftigen EU-Verfassung fest verankert werden, so daß die einzelnen europäischen Mitgliedstaaten nicht in gegenseitiger Konkurrenz sozialstaatliche Versorgung in einer Abwärtsspirale abbauen, sondern zu deren Realisierung nach einer gesetzlichen Fundamentalnorm verpflichtet sind.

Kommt es dazu nicht, wird der Sozialstaat in Europa bald der Vergangenheit angehören. Es stehen manifeste politisch-ökonomische Interessen des Kapitals im Hintergrund, welche von den herrschenden Eliten exekutiert werden. Ihnen geht es um die ökonomische, nicht um die soziale Selbstbehauptung Europas im neoliberalen Zeitalter der Globalisierung - vor allem ist dies gerichtet gegen die wirtschaftliche Konkurrenz zu den USA, aber auch gegen die zukünftige ökonomische Weltmacht China. Das bisherige Niveau der sozialstaatlichen Versorgung gilt den herrschenden Eliten konsequent als eine unliebsame, weil verschwenderische Abschöpfung vom gesellschaftlich produzierten Reichtum, welcher zu Standortnachteilen im globalisierten Wettbewerb führe.

Galt diese unliebsame Abschöpfung in Westeuropa während der Nachkriegszeit bis zur Auflösung der bipolaren Weltordnung noch als eine taktisch nötige Investition in die Gesellschaft, weil man im real existierenden Sozialismus ein ernstzunehmendes sozialpolitisches Konkurrenzmodell befürchtete, so ist das europäische Sozialmodell hinsichtlich seiner ideologischen Funktion im Zuge der deutschen Einheit und der Auflösung der Sowjetunion obsolet geworden. Das durch Sozialabbau europaweit eingesparte Geld soll vor dem Hintergrund der marktgetriebenen Globalisierung nun für andere Zwecke verwendet werden: vor allem für die militärische Selbstbehauptung der europäischen Union, d.h. für den Aufbau einer von der NATO unabhängigen, einsatzfähigen EU-Armee, die sich an der imperialen "Befriedung" von ökonomisch sowie geopolitisch interessanten Krisenregionen beteilige - mit anderen Worten: wie die USA im Irak oder Afghanistan Kampfeinsätze durchführen kann.

Einem Mißverständnis ist von vornherein vorzubeugen: Selbstverständlich darf sich der Kampf um soziale Fürsorge nicht auf Europa beschränken. Zu Recht könnte man solch eingeschränkte Perspektive wiederum als borniert, egoistisch und letztlich chauvinistisch begreifen: als Standorteuropäismus, der den Rest der Welt vergißt oder wie dem Nationalismus schlicht gleichgültig wäre. Die EU ist aber deshalb vorrangig ein Bezugspunkt, weil es de facto bei ihr um einen Staat oder eine Staatenföderation im statu nascendi geht. Als positiver Bezugspunkt kann sie dennoch nicht gelten - dies obliegt allein einem universalen, internationalistischen Rahmen. Mit anderen Worten: eine europäische linke Politik verhält sich zur EU und zu einer zu schaffenden Verfassung nicht apologetisch, sondern kritisch strategisch. Es geht darum, daß die bürgerlich-rechtsstaatlichen Traditionen, die im Rahmen des Nationalstaats entstanden sind, auf EU-Ebene aufgenommen, d.h. gegen die Herrschenden verteidigt werden. Diese historischen Errungenschaften sind die Ausgangsposition für zukünftige Emanzipation - auch weltweit, schließlich handelt es sich bei Europa um eines der fortgeschrittensten Regionen der Welt, von dem - gemäß der marxschen Dialektik zwischen Peripherie und Zentrum - eine Strahlkraft für zukünftige globale Entwicklung ausgeht. Der Erfolg der Klassenkämpfe wird sich daran festmachen lassen, inwieweit Linke in ihrem Kampf nicht nur einen europäischen, sondern der Sache nach universalen Anspruch vertreten.

Wenn nach dem Ende der bipolaren Weltordnung in dem europäischen Sozialmodell nur noch ein Konkurrenzmodell zum Realsozialismus gesehen wird, welches nach der osteuropäischen Transformation obsolet geworden sei und mithin zerschlagen werden könne, um im Zeitalter der Globalisierung konkurrenzfähiger zu werden, wird fatalerweise übersehen, daß soziale Sicherungssysteme der wesentliche Beitrag für Stabilität und Frieden nach innen und damit auch notwendige Grundlagen zur Produktivitätsentwicklung gewesen waren. Insbesondere der deutsche Sozialstaat und die "soziale Marktwirtschaft" galten als Nachkriegskonzepte, um die die Gesellschaft erodierenden zentrifugalen Mechanismen des Kapitalismus zu beschränken, was den sozialen Frieden absichern sollte. Das sukzessive Absterben des Sozialstaates zeugt davon, daß man diesbezüglich nicht mehr gewillt ist, dem Kapitalismus ein "menschliches Antlitz" zu geben, d.h. aus Klassenkampf, zwei Weltkriegen, Faschismus und Auschwitz weiterhin wenigstens annähernd adäquate innenpolitische Konsequenzen zu ziehen.

Unweigerlich wird man damit sukzessive auf die historische Situation zum Ende des 19. Jahrhunderts zurückfallen und sich langsam aber ganz sicher dem Problem von Massenarmut und Klassenkampf gegenüberstehen sehen. Diese Momente der innergesellschaftlichen Erosion werden das Projekt der europäischen Integration von innen gefährden und können in unheilvollem Nationalismus, Rassismus und auch in der geschichtlich überwunden geglaubten Möglichkeit eines innereuropäischen Krieges enden.

Wenn die Gewerkschaften und Linke für den Erhalt des Sozialstaats kämpfen, ist ihnen das alles bewußt. Ihr Protest ist deshalb nicht verantwortungslos oder ein Verrat an den Lohnarbeitenden und Arbeitlosen, bringt nicht das Land in Gefahr, sondern im Gegenteil: er ist sozial verantwortungsvoll, solidarisch mit den Schwachen und trägt dazu bei, geschichtlichen Fortschritt der Gesellschaft abzusichern. Dem Klassenkampf von oben antworten sie - wenn auch noch nicht mit dem notwendigen Maße - vernünftiger Weise mit Klassenkampf von unten.

Die Gewerkschaften müßten allerdings als kämpferische Antwort angesichts des von der SPD längst vollzogenen Paradigmenwechsels hinsichtlich der Aufgabe sozialdemokratischer "organischer" Solidarität eigene Wege gehen und zu einem Solidaritätsbegriff zurückfinden, wie er bei den ersten sozialistischen Bewegungen im Frankreich des frühen 19. Jahrhunderts gang und gäbe war. - Unter solidarité verstanden diese das Füreinanderstehen nicht im Sinne allgemeiner fraternité, sondern als gegenseitige Unterstützung unter Menschen der gleichen, klassenspezifischen Interessenlage. Der Arbeiter solidarisierte sich mit dem Arbeiter, um sich gemeinsam gegen Ausbeutung und Unterdrückung seitens der Kapitalisten zu schützen. Auf Basis dieses Begriffes kam es zu assoziativen proletarischen Vereinigungen, die imstande waren, nicht nur defensiv die Angriffe des Kapitals abzuwehren, sondern dem Klassenkampf von oben einen Klassenkampf von unten entgegenzusetzen. Der französische Soziologe Emile Durkheim nannte diese Form des zweckmäßigen, klassenspezifischen Zusammenstehens abwertend "mechanische Solidarität"; seine Absicht war es (wie auch schon Auguste Comte als Antipode zu Hegels sprengender Dialektik von Herr und Knecht), der klassenkämpferischen, erodierenden Gesellschaft eine stabile Ordnung zu geben. Die Tendenzen der Verstaatlichung und damit der Verallgemeinerung von Solidarität nannte Durkheim aufwertend "organische Solidarität" - dem Grundgedanken nach war dies der Beginn des Wohlfahrtstaates, in dem gemäß des bürgerlichen Prinzips der abstrakten Gleichheit der Klassenantagonismus repressiv versöhnt wird: den Gesellschaftsinsassen kommt eine fürsorgliche, abstrakte "Gleich"-Behandlung zugute, unabhängig von ihrer jeweiligen Klassenlage.

Bismarck führte schließlich im Deutschen Reich den Wohlfahrtstaat ein, weil er erkannte, daß jene "organische Solidarität" ein Mittel war, der Arbeiterbewegung, die auf Basis der "mechanischen Solidarität" autonome, proletarisch-assoziative Fürsorgestrukturen aufgebaut hatte, den revolutionären Stachel auszuziehen. - Aus Bismarcks Sicht mußten diese Strukturen unbedingt zerschlagen, d.h. verstaatlicht werden, weil mit ihnen die Arbeiterbewegung revolutionäre Kampfstrukturen entwickelte und imstande war, dem Sozialismus einen sehr großen Schritt näher zu kommen. - Die heutigen Gewerkschaften wären gut beraten, wenn sie den von Bismarck vollzogenen Schritt wieder rückgängig machten, indem sie anfingen, für Gewerkschaftsmitglieder all jenes an sozialer Fürsorge aus eigener Kasse zu kompensieren, was der Sozialstaat meint, nicht mehr finanzieren zu können und statt dessen die private Eigenverantwortung nahelegt. Außerdem sollten sich die Gewerkschaften endlich auch der drop outs zuwenden. Welches Gewerkschaftsmitglied wäre nicht bereit, für diese Zwecke höhere Mitgliedsbeiträge zu bezahlen?

Ein selbstfinanziertes und selbstorganisiertes Sozialsystem ist zwar vorerst mit dem DGB nicht zu machen, weil es mit Risiko verbunden ist. Schon den endgültigen Bruch mit der SPD, die historisch an ihrem Ende angelangt ist (siehe den sopos-Beitrag ebenfalls aus 4/2004 von Kritidis/Janson), scheut die Gewerkschaftsführung. Die Gewerkschaftsbasis scheint da bereits weiter zu sein. Sollte jener neu gedachte Solidaritätsbegriff, wie ich ihn erinnert habe, einmal wieder praktisch werden, wäre dieses Mittel gewerkschaftlichen Kampfes sprengend. Zwar beißt es sich mit dem Kampf um das europäische Sozialmodell, weil dieses auf der "organischen" Solidarität und insbesondere auf dem autoritären Charakter des Staates beruht, aber im Übergang von einer "organischen" zur "mechanischen" Solidarität müßten dennoch zunächst beide Kämpfe parallel geführt werden, weil es sich dabei um nichts geringeres als um einen radikalen Systemwechsel handelt, der nicht ad hoc geleistet werden kann, ohne jede soziale Organisation damit zu überfordern.

Auf den Klassenkampf von oben muß jedenfalls in dieser Hinsicht auch eine klassenkämpferische Antwort von unten erfolgen. Wenn Solidarität eben nicht selbstverständlich ist und ein sozialdemokratischer Konsens der Nachkriegszeit nunmehr annährend restlos verbraucht ist, muß Solidarität von neuem bestimmt und erkämpft werden. Es kann jedenfalls nicht sein, daß es dem Staat, bzw. den Herrschenden obliegt zu definieren, was Solidarität bedeutet. Der SPD-Ministerpräsident Peer Steinbrück, ein zukünftiger Anwärter auf das Kanzleramt, kann stellvertretend zitiert werden in bezug auf den mehrheitsfähigen Teil der SPD, der mit einem Begriff von Solidarität herumjongliert, welcher bereits die "organische Solidarität" hinter sich gelassen hat und der Idee einer neoliberalisierten "mechanischen Solidarität" folgt, die zweckgebunden ist, aber nicht den Interessen der Subalternen, sondern denen der "Leistungsträger" und der herrschenden Eliten das Wort redet - genau jenen, die Fürsorge eigentlich gar nicht nötig hätten: "Soziale Gerechtigkeit muß künftig heißen, eine Politik für jene zu machen, die etwas für die Zukunft unseres Landes tun: die lernen und sich qualifizieren, die Kinder bekommen und erziehen, die etwas unternehmen und Arbeitsplätze schaffen, kurzum, die Leistung für sich und unsere Gesellschaft erbringen. Um sie - und nur um sie - muß sich Politik kümmern." (ZEIT 47/03)

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https://sopos.org/aufsaetze/4076e17897a5a/1.phtml

sopos 4/2004