Impressum Plattform SoPos |
Schockschwerenot! Der von Ihnen benutzte Internetbrowser stellt Cascading Style Sheets nicht oder - wie Netscape 4 - falsch dar. Unsere Seiten werden somit weder in dem von uns beabsichtigten Layout dargestellt, noch werden Sie diese zufriedenstellend lesen oder navigieren können. Wir empfehlen Ihnen nicht nur für unsere Internet-Seiten, auf einen anderen Browser umzusteigen - z.B. Netscape 6/Mozilla, Opera, konqueror. Gesellschaftszerstörende MassenirrtümerManfred Sohn Ideen, das wissen gebildete Marxisten, werden erst zur materiellen Gewalt, wenn sie die Massen ergreifen. Irrtümer, also falsche Ideen, werden, wenn sie die Massen ergreifen, zur gesellschaftszerstörenden Gewalt. Eine uns durch die Medien seit Jahrzehnten eingetrichterte Idee, die die Massen inzwischen ergriffen hat, lautet: Deutschland ist ein verknöchertes Gemeinwesen, dessen Wirtschaft inzwischen von den viel flexibleren Systemen in den USA und Großbritannien abgehängt sei. Wenn wir – so lautet dann das Heilmittel derer, die uns diese Diagnose stellen – wieder wettbewerbsfähig werden wollen, müßten wir unsere altertümlichen Arbeitsschutzgesetze liberalisieren und das üppige Sozialsystem zurückschneiden. Gestützt auf diese massenhaft verbreitete Logik wurde die »Agenda 2010« ins Werk gesetzt und wird jetzt an noch schlimmeren Heilmitteln gearbeitet. Der Economist , ein in London erscheinendes, vor allem in den USA gelesenes rechtes Kampfblatt, hat kürzlich zu diesem Thema der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit eine interessante Statistik veröffentlicht: Wenn die Produktivität der uns so oft als Vorbild gepriesenen britischen Wirtschaft zu 100 gesetzt wird, beträgt die Arbeitsproduktivität in Deutschland 123. Damit übertrifft Deutschland auch die USA und wird selber nur von einer der großen Industrienationen übertroffen: vom Land der 35-Stunden-Woche, also Frankreich. Das jährliche Wachstum der Arbeitsproduktivität betrug von 1995 bis 2002 sowohl in den USA als auch in Deutschland knapp zwei Prozent – also nichts von schnellerer Produktivitätsentwicklung im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Großbritannien lag mit 1,6 Prozent hinten. Betrachtet man den Zeitraum vor 1995 – der Economist nimmt dafür die Jahre 1973-1995 –, dann haben Deutschland und Frankreich mit einer jährlichen Durchschnittssteigerung von je 2,7 Prozent die USA mit kümmerlichen 1,3 Prozent weit abgehängt. Die Zahlen zeigen folgendes: In den drei Jahrzehnten von 1973 bis heute ist die Produktivität in Deutschland deutlich schneller gewachsen als in den USA und Großbritannien. Das ist auch der Hauptgrund dafür, daß dieses Land Exportweltmeister ist. Die hiesige Industrie mit ihren gesetzlichen Rahmenbedingungen, über die sie unaufhörlich stöhnt, erzielt Handelsbilanzüberschüsse, während das gepriesene freie Amerika in immer tiefere Defizite rutscht. Die Zahlen zeigen ein weiteres. Als die Bundesrepublik dank DDR-System-konkurrenz und Gewerkschaften, die in der Lage waren, in einem winterlichen Sechs-Wochen-Streik die 35-Stunden-Woche für die Beschäftigten der Druck- und Metallindustrie zu erzwingen, sozial besser ausgebaut war als heute, hatte sie einen größeren Produktivitätsvorsprung vor den USA; er wurde kleiner, nachdem einige sozialstaatliche Stärken geschliffen worden waren. Insofern bestätigt sich wohltuend ein humanistisches Menschenbild, wie es Marx hatte: Der Mensch arbeitet nicht dann am besten, wenn er Angst hat, sondern wenn er sich seiner Zukunft sicher ist. In dem Maße, wie heutzutage das produktivitätssteigernde Gefühl von Sicherheit und Kaufkraft ersetzt wird durch Angst um den Arbeitsplatz, verrottet das Land und tritt in einen immer törichteren, schädlicheren Wettlauf mit der schuldenmacherischen Rambowirtschaft Nordamerikas ein. Und warum lahmt die Produktivität in den USA und Großbritannien? Weil dort seit Thatcher und Reagan die Arbeitskraft immer billiger geworden ist. Die Zerstörung der Sozialnetze zwingt die Menschen bei buchstäblicher Gefahr des Hungers, jede erdenkliche Arbeit anzunehmen. Bei uns dagegen verhinderten bis Ende 2003 Sozial- und Arbeitslosenhilfe, daß Menschen zu Löhnen arbeiten mußten, wie sie in den USA und England längst üblich sind. Das wiederum zwang die Unternehmen zum Einsatz von Maschinen, die sie nicht entwickelt hätten, wenn Menschen billiger gewesen wären. Um die Produktivität eines Landes schrittweise zu steigern, braucht man nur den Mindestlohn – als sein Ersatzmittel fungierte bei uns bis vor kurzem die Sozialhilfe – Jahr für Jahr leicht steigen zu lassen: Er wirkt wie eine Peitsche für die Pfiffigkeit der Unternehmen. Wer aber den Mindestlohn senkt, läßt auf Dauer auch die Produktivität sinken – nicht nur wegen des Rückgangs der Nachfrage. Das weiß in einer ehrlichen Stunde jeder vernünftige Ökonom. Bleibt die Frage: Warum tun die das? Was treibt unsere herrschende Klasse seit den 90er Jahren dazu, durch alle ihre Medien dieses Land schlechtzureden und zu -schreiben? Die Antwort ist einfach: Die USA und Großbritannien wachsen langsamer, aber ihre Reichen werden schneller reich. Labour Research , eine dem britischen Gewerkschaftsbund nahestehende Monatszeitschrift, veröffentlicht regelmäßig Tabellen über die Gehaltsentwicklung der »fat cats«, der fetten Katzen. Die Herren Kopper, Breuer, Esser haben recht: Verglichen mit den Riesenhappen, die sich die Reichen der USA und Großbritanniens aus dem Ergebnis der gesellschaftlichen Arbeit herausreißen, sind die Einkommen der deutschen Reichen »Peanuts«. Wenn sie ihre eigene Ideologie ernst nähmen, wonach Konkurrenz das Geschäft belebt, wüßten sie, daß dies eine Nachwirkung der Systemkonkurrenz ist, die über 40 Jahre die Arm-Reich-Spanne in Deutschland gedämpft hat. Die – vor lauter Jubel bis heute kaum begriffene – Epochenniederlage der Arbeiterbewegung von 1989 hat ihnen die Chance gegeben, sich wieder hemmungsloser als früher zu bereichern und die Fesseln nach und nach zu zerreißen, die ihnen in den Jahren 1949 bis 1989 angelegt waren. So löst sich der scheinbare Widerspruch glatt auf: Die da oben wissen, daß ihre Gier die Produktivität des Volkes ebenso zerrüttet wie die natürlichen Lebensgrundlagen. Gerade deswegen stürzen sie sich auf möglichst schnelle Beute, auf möglichst große Stücke und treten alles nieder, was sie daran hindern könnte. Ein entsolidarisiertes, flexibilisiertes, chaotisiertes Volk von Ich-AGs kann ihnen nicht wirksam entgegentreten. Insofern nützt ihnen die Verbreitung falscher Ideen. Der Verlauf der letzten 15 Jahre gibt ihnen recht. Solange ihr Klassenkampf von oben von unten unerwidert bleibt, ist der Zerfall dieses Landes unsere Zukunft.
Erschienen in Ossietzky 5/2004 |
This page is hosted by SoPos.org website
<http://www.sopos.org> Contents copyright © 2000-2004; all rights reserved. Impressum: Ossietzky Maintained by webmaster@sopos.org |