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Statt ihren Fall vor dem Gerichtshof darzulegen, entschlossen sie sich, eine Straßenveranstaltung zu organisieren – im Geist des klassischen israelischen Grundsatzes: »Wenn deine Position schwach ist, erhebe deine Stimme!« Im Gerichtssaal wurden die rechtlichen Argumente vorgetragen. Die Vertreter Palästinas führten aus, daß die Mauer rechtswidrig sei, da sie mitten in der Westbank errichtet wurde. Wenn Israel Selbstmordattentate fürchte, dann dürfe es eine solche Mauer auf seiner Grenze errichten, aber nicht im Herzen des besetzten Gebietes, wo es die palästinensische Bevölkerung in gefängnisähnliche Enklaven sperre. Niemand hat im Gerichtssaal diesem Argument widersprochen. Draußen organisierten Scharons Leute ein farbenprächtiges Spektakel. Wie einen Gag für die Medien brachten sie aus Israel einen ausgebombten Bus, zusammen mit den Experten, die die Körperteile auflasen. Dazu Dutzende von Familienmitgliedern von Opfern solcher Angriffe. Die Israelische Botschaft verteilte die Fotos von 900 Opfern, und jüdische Studenten trugen sie wie in einer Prozession. Die Botschaft: Die Juden leiden; auch in Israel sind sie die Opfer von Pogromen. Später am Tag organisierten die Palästinenser ein Gegen-Spektakel. Dort wurden die 3000 palästinensischen Opfer der Intifada beklagt und das Leiden der palästinensischen Bevölkerung unter Besatzung. Den Einwohnern von Den Haag wurde eine Art Olympischer Wettbewerb der Opfer zugemutet. Die Medien der Welt widmeten diesem Spektakel einige Minuten und teilten diese gleichmäßig unter die beiden Parteien. Für sie waren jedoch die Verhandlungen im Gerichtssaal die Hauptsache. In Israel wurde ein völlig anderes Bild gezeigt. Wie ein Mann mühten sich die Medien im Dienst der Gehirnwäsche; es erinnerte an die Sowjetunion. Alle Fernsehnetzwerke, alle Radiostationen, alle Printmedien – ohne Ausnahme – nahmen an dieser nationalen Anstrengung teil. Vom Morgen bis zum späten Abend sendeten alle Fernseh- und Radiostationen ohne Unterbrechung Berichte aus Den Haag und schufen so den Eindruck, daß die ganze Welt auf das israelische Straßenspektakel starre. Das Gerichtsverfahren selbst wurde als unwichtig hingestellt, eine armselige kleine Schau von Arabern und anderen Antisemiten. Die israelische Schau wurde als ein die ganze Welt erschütterndes Ereignis ausgegeben. Der ausgebombte Bus und die Opferfamilien erschienen dutzende Male auf dem Bildschirm aller israelischen Kanäle. Immer wieder. Die Gegen-Demo war für ein paar Sekunden zu sehen; genau so das Verfahren im Gerichtssaal. Nur um zu zeigen, wie liberal wir sind, durfte der palästinensische Vertreter auch ein paar Sätze sagen. Aber die Botschaft für den israelischen Zuschauer und Zuhörer war eindeutig: Dies war ein großer israelischer Sieg. Der ganzen Welt wurde klar, daß wir in dieser Geschichte die Opfer und die Palästinenser die Terroristen sind; daß die Mauer nötig ist, um unser Leben zu retten, denn »das Leben der Juden ist wichtiger als die Lebensqualität der Palästinenser« – ein Satz, der zigmal während des Tages wiederholt wurde. Eine Phalanx von Offizieren, Sicherheitsbeamten, Reportern, Kommentatoren und Professoren redeten sich auf allen Stationen dusselig. Und alle sagten genau dasselbe: Wir werden angegriffen, wir sind die Verfolgten, die Araber sind die Mörder, wir verteidigen uns nur. Die Besatzung wurde überhaupt nicht erwähnt. Warum sollte sie? Was hat denn das eine mit dem andern zu tun? Während dieser Sendungen demonstrierten die israelischen Friedensgruppen vor der Residenz des Ministerpräsidenten in Jerusalem gegen die Mauer. Der staatseigene Fernsehkanal 1 zeigte es genau vier Sekunden lang. Während des ganzen Tages erlaubte kein einziges israelisches Medium irgend jemandem, ein Wort gegen die Mauer oder zugunsten des Internationalen Gerichthofes zu sagen. Dies ist so erschreckend, weil es in einer Demokratie geschieht. Kein KGB oder keine Gestapo bedrohte das Leben der Journalisten, kein Gulag oder KZ erwartete die, die von der offiziellen Linie abwichen. Alles wurde freiwillig getan – aus innerer Überzeugung. Gewiß, die freien Medien in den demokratischen USA benahmen sich am Anfang des Irakkrieges ähnlich. Aber wenigstens nicht mit dem Syndrom »Alle Welt ist gegen uns«. Am Morgen der ersten Gerichtssitzung erklärte der stellvertretende Verteidigungsminister Zeev Boim in der Knesset, alle Muslime seien von Geburt an Mörder, das liege in ihren Genen. Und ein persönlicher Freund Scharons enthüllte im Fernsehen: »Arik sagte mir, daß er tief besorgt sei über den wachsenden christlichen Antisemitismus, z.B. im Film von Mel Gibson ›Die Passion Christi‹. Und nun würden große Teile der muslimischen Welt auch vom Antisemitismus infiziert werden.« Das ist Ghettomentalität. Wir schufen den Staat Israel, um eine normale Nation zu werden, »ein Volk unter den Völkern«. Die Ereignisse der vergangenen Tage zeigen, daß uns das nicht gelungen ist. Das Ghetto sitzt tief in uns – nicht nur physisch. Der Kampf gegen die Mauer hat viele Aspekte. Es ist nicht nur ein Kampf, um die Bewohner der Westbank von dem monströsen Hindernis zu befreien, das ihr Leben zur Hölle macht und sie zum Weggehen veranlassen soll. Es ist nicht nur ein Kampf, um beide Völker dieses Landes aus einer immer größer werdenden Gewaltspirale zu befreien. Es ist auch ein Kampf, um das israelische Volk aus dem tief in den eigenen Herzen sitzenden Ghetto zu befreien. Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert
Erschienen in Ossietzky 5/2004 |
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