Auf ein Neues!

von Wolfgang Eckert

Es war wie jedes Jahr: Boulevardzeitungen und solche, die behaupten, sie seien keine, befragten ahnungslose Menschen, was sie im nächsten Jahr anders machen möchten.

"Ich will im nächsten Jahr das Rauchen einstellen." Als würde dadurch die Welt besser! Höchstens die Luft in der näheren Umgebung. - "Ich nehme mir vor, nicht mehr soviel Torte zu essen." Fressen hat sie nicht gesagt. - "Ich werde ein Gläschen weniger trinken." Wenn es zehn Schnäpse am Tag waren, sind es nun nur noch neun.

Politiker zu fragen, war sinnlos. Denn sie wollen im neuen Jahr nichts besser machen, weil sie sich schon selber für gut halten. Menschen zu befragen, ist ein leichtes Spiel, die Menschheit, ob sie besser wird, ein gefährliches. Man bekommt Angst vor der Antwort. Deshalb waren wir so laut in der Silvesternacht und schauten den Knallern beklommen hinterher. Das ist noch besser, als Knallern zu begegnen. Im neuen Jahr wird das aber kaum zu vermeiden sein. Die Knaller häufen sich.

Nichtsdestotrotz hoffen wir unverbesserlich auf Verbesserung. Was sich bereits gebessert hat und im neuen Jahr weitere Erfolge feiern wird, ist außer dem gesunkenen Menschenverstand der gesunkene Krankenstand. Nähert sich unser Arbeitgeber, stellen wir sofort den Husten und das Niesen ein. Den Bauchschmerz verklemmen wir uns, indem wir mit dem Schädel gegen einen Eisenmast schlagen. Die Verlagerung des Schmerzes wirkt wie eine Heilung. Und trotzdem werden die Pharmakonzerne milliardenreich! Heimlich verschlingen wir unsere bitteren Pillen und lesen auch nicht die Packungsbeilage oder fragen unseren Arzt oder Apotheker. Denn sonst könnte ja unser Laster, krank zu sein, herauskommen - und wir sind ganz heraus.

Alles in allem ergaben die Befragungen zum Jahreswechsel, daß wir mit den Augen blinzeln. Spätestens am 2. Januar verfielen wir wieder in den alten Trott. Oder man verfiel uns in den alten Trott. Der Bundespräsident hatte es in seiner Heiligabendrede wie immer gut gemeint. Das Gegenteil von gut gemeint ist die Wirklichkeit.

Nein, die Menschheit wird nicht besser. Wer es glaubt, ist ein Idealist. Und Idealisten braucht diese phantasielose Welt. Profitgier, Machtbesessenheit, Selbstsucht und Eitelkeit umschlingen unsere Füße, und wir hoppeln hoffnungsvoll dahin. Wenn nur wenigstens ein bemerkenswerter Teil der Menschheit besser gehen lernte!

Vor fünfundsiebzig Jahren schrieb Erich Kästner: "Es gilt, das Los der Mehrheit zu bessern. Und wer Idealist genug ist, zu erwarten, daß sich dadurch diese Mehrheit selber bessern werde, der soll es glauben! Nur eins wird er rechtzeitig lernen müssen: auf die unvermeidliche Enttäuschung gefaßt zu sein, die einmal für ihn kommen muß. Es mag ihm genug sein, die Mehrheit gesünder und klüger, vielleicht gar ein wenig zufriedener zu sehen. Mehr, oder auch nur soviel, wurde noch nie erreicht, solange die Erde besteht. Und mehr kann nie erreicht werden."

Als ausgelernter Ossi, der miterlebt hat, wie auch nur das geringste Aufheben einer Gleichheit zu einem rettungslosen Wettrennen untereinander führte und ein solidarisches Miteinander schrumpfen ließ, kann ich nur hinzufügen: Lieber Erich Kästner, schon das allein wollen wir hoffen.

Erschienen in Ossietzky 1/2004