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Kunde Student aux barricades?

Plädoyer für eine erinnernde Neubestimmung von Solidarität

von Marcus Hawel (sopos)

Wenn die Einführung einer Vermögensteuer eine vernünftige Forderung von Linken ist, was wäre dann gegen die Einrichtung einer Studiengebühr für Studenten aus vermögenden Verhältnissen von einem linken Standpunkt aus einzuwenden?

Nach einer kürzlich gemachten Umfrage des Forsa-Instituts, welche vom "Stiftverband für die deutsche Wissenschaft" und das "Centrum für Hochschulentwicklung" in Auftrag gegeben wurde, befürworten 59% der Studierenden in Deutschland die Einführung von Studiengebühren in Höhe von 500 € pro Semester. In der Gesamtbevölkerung sind es nur 8% mehr, - in beiden Fällen vorausgesetzt, man könne dafür ein zinsloses Darlehen aufnehmen, das erst nach Ende des Studiums und erst nach Überschreiten einer sozial verträglichen Einkommensmarge zurückbezahlt werden müßte, ferner daß die Einnahmen direkt den Hochschulen und nicht der jeweiligen Landeskasse zugute kämen, um damit irgendwelche Haushaltlöcher zu stopfen. (Vgl. HAZ vom 15.12.2003) - Auch wenn Zweifel an der Richtigkeit von Statistiken bleiben, die man selbst nicht gefälscht hat, zumal wenn sie von der anderen Seite in Auftrag gegeben wurden, scheinen mir die Ergebnisse der Umfrage halbwegs glaubwürdig zu sein. Offensichtlich sind demnach viele Studenten der Ansicht, es sich leisten zu können, aber dann wollen sie auch im Gegenzuge an den Hochschulen quantitativ bessere Studiensituationen vorfinden und wohl auch eine qualitativ bessere Ausbildung genießen. Das wäre die Erwartungshaltung eines Kunden, der nach einem alten Sprichwort König sei, aber noch mehr will er an einem Äquivalententausch teilnehmen und erwartet ein angemessenes Preis-Leistungs-Verhältnis. König will Kunde Student gar nicht werden, viel eher Chef. Von einem Umtauschrecht wird Kunde Student freilich schwer Gebrauch machen können - auch eine Garantieleistung wird er nicht bekommen. Ansonsten aber funktionierte Bildung als Ausbildung dann innerhalb normaler Parameter eines x-beliebigen Dienstleistungsbetriebes.

Bleibt zu fragen, wie viele jener 59% sich derzeit an den studentischen Protesten beteiligen? Ich fürchte: durchschnittlich viele. Sie gehen mit auf die Straße, um gegen die drastischen Einsparmaßnahmen im Bildungsbereich zu demonstrieren, die zu einer quantitativen Verschlimmerung ihrer Ausbildungsbedingungen führen und damit zwangsläufig zu einer qualitativen Verschlechterung ihrer Ausbildung, weil gleichzeitig keine Studiengebühren eingeführt werden, die den Hochschulen zugute kommen. Der rechte RCDS-AStA der Universität Göttingen, wo die Hochburg der Proteste zumindest in Niedersachsen liegt, macht entsprechend keinen Hehl aus seinen Sympathien zu Studiengebühren und schwimmt damit also scheinbar widerspruchsfrei auf der Woge der Proteste, interpretiert das Geheimnis seines Erfolges gegenüber der traditionellen studentischen Linke, die solchen demokratischen Widerstand schon sehr lange nicht mehr zustande gebracht habe, im gefundenen kleinsten gemeinsamen Nenner. Der kleinste gemeinsame Nenner? Das ist nichts anderes als das ständische Partikularinteresse der studentischen Mehrheit, also auch jener, die den Protesten fernbleiben. Abstrahiert von ihren jeweiligen politischen Positionierungen, trifft auf sie gemeinsam zu, daß sie, in der Regel aus gut situierten kleinbürgerlichen Elternhäusern kommen und karrierebewußt studieren. - Das, was die studentische Linke an "ideologischen Ballast" wie es so schön abwertend heißt, mit sich herumgeschleppt habe, behindere jedenfalls nur das Zustandekommen von Gemeinsamkeiten und verunmögliche den wirksamen "Real"-Eingriff in die Politik. Das sind Argumente, als hätte man es mit einer studentischen "Volksgemeinschaft" zu tun, in der die Konfliktlinien und Interessendivergenzen im gesellschaftlich-ökonomischen Klassenantagonismus, der sich bei den Studenten immerhin in ihrer sozialen, d.h. familiären Herkunft ausdrückt, wenn er auch noch nicht in Gänze in deren sozialer wie ökonomischer Ankunft nach ihrem Studium festgeschrieben steht, bewußt oder unbewußt ausgeblendet wurden. All zu oft ist auch affirmativ vom Universitätsstandort die Rede, machen sich angehende Akademiker im nationalen Wir-Jargon, also nach Art des "Gewohnheitspatriotismus´" (Brecht) Gedanken über die Zukunft Deutschlands.

Von den Medien und der Politik ernten sie dafür - wie schon im Winter 1997, als das letzte Mal studentische Proteste im größer angelegten Stil quer durch die gesamte Republik stattfanden - weitgehend wohlwollende "Solidarität", was freilich im Ergebnis nicht dazu führt, daß die studentischen Forderungen von der "großen" Politik eingelöst werden. Das war schon 1997 nicht so und wird auch diesmal nicht so sein. Als ahnten es die Studenten, fallen ihre Protestformen nicht unbedingt ernsthafter, aber schon etwas radikaler aus als vor sechs Jahren. Damals rannten wir unter dem lächerlichen Motto des "lucky streik" permanent offene Türen ein - heute werden Parteizentralen und Universitätsgebäude besetzt, ja sogar Parlamente, wenn auch nur für kurze Zeit. Mit 68 hat das freilich wenig zu tun, wie manche dennoch behaupten, aber viele zutreffend - leider aber euphorisch - verneinen.

Die Ergebnisse der Forsa-Umfrage erklären einiges: Viele Studenten würden sich vermutlich an den gegenwärtigen Protesten nicht beteiligen, wäre die Einführung von Studiengebühren geplant, die direkt den Hochschulen zu gute kämen. Vermutlich würden sich viel mehr Studenten am Protest beteiligen, ginge es um die Forderung der Einführung von Studiengebühren, die den Universitäten zu gute kämen. Die Mehrheit der Studenten wünscht sich in Wahrheit nämlich bloß eine bessere Dienstleistungsqualität ihrer Ausbildungseinrichtungen. Was Bildung von Ausbildung unterscheidet, interessiert denn auch nur eine studentische linke Minderheit, die Schwierigkeiten hat, das allgemeine Bewußtsein für dieses Problem zu sensibilisieren. Beide Begriffe sind schon seit langem als dasselbe eingeebnet. Als Kunde Student könnten sich sehr viele Studenten mit Studiengebühren identifizieren, weil sie mehrheitlich aus Verhältnissen stammen, die es ihnen möglich macht, ohne zweimal mit der Wimper zu zucken, 500 € oder mehr Gebühren pro Semester zu zahlen.

Immer wieder hört man von links angehauchten studentischen Juso-Rednern, daß eine Zwei-Klassen-Gesellschaft verhindert werden müsse, die unweigerlich durch die Einführung von Studiengebühren entstehe, weil die Chancengleichheit in Bezug auf Bildung liquidiert werde. - Meinen sie das im Ernst? Vielleicht. Aber so schön kann eben auch sozialdemokratische Lyrik dafür verwandt werden, um bewußt oder unbewußt Partikularinteressen zu verschleiern. Chancengleichheit in Bezug auf universitäre Ausbildung ist längst faktisch nicht mehr vorhanden. Wie sonst sollte man die Daten einer anderen Statistik interpretieren, die darüber Auskunft gibt, daß nur ein sehr geringer Prozentsatz der durch BAFöG geförderten Studenten überhaupt den Höchstsatz erhält.

Die studentischen Proteste wenigstens in Niedersachsen werden von einer karrierebewußten Generation dominiert, die sich von linken Utopien weitgehend verabschiedet hat und dies als Befreiung von ideologischem Ballast feiert, der im aufrechten Gang nur gestört habe. Statt dessen läßt sie sich vornehmlich von ständischen Interessen anleiten. In Berlin mögen noch oder schon wieder andere Verhältnisse unter den Studenten vorherrschend sein. In Niedersachsen aber gilt schon seit längerem oder noch, daß die studentische Linke auf dem Rückmarsch ist. Der RCDS hat in Göttingen, die Jusos haben in Hannover den AStA übernommen. Wer aufrecht gehen kann, habe keinen Grund, linkisch zu humpeln. Dem RCDS kommt es erst gar nicht in den Sinn, neben dem Widerstand gegen die Bildungssparmaßnahmen auch gegen die Sozialkahlschlagpolitik zu protestieren, und bei den Jusos scheint der Protest gegen den Sozialabbau nur schmückendes Beiwerk zu sein, um mehr Solidarität in der Bevölkerung zu finden, damit sie als sympathische Eliten von morgen gelten können. Freilich wird der Protest nicht allein durch die AStAe getragen. Es gibt auch noch die studentische Linke in den Fachschaften, und sie vermag sich, wenn auch gehörig versprengt und reichlich in die Defensive gedrängt, Gehör zu verschaffen.

In Hannover ist sie mit alternativen Organisationsgruppen in den Protest involviert, arbeitet - so gut es eben geht - mit den Jusos zusammen. Einmal galt unter den Linken der Konsens, daß man mit den bürgerlichen Demokraten studentischer Parteienableger nicht zusammengeht. Heute muß man in Kooperation den Protest vorbereiten und beteiligt sich gemeinsam an den Aktionen. Das Büro des Universitätspräsidenten, Ludwig Schätzl, wurde z.B. für zwei Tage besetzt gehalten, dann aber von der Polizei geräumt. In Göttingen besetzte die studentische Linke in Abgrenzung zum studentischen CDU-Ableger ein Institutsgebäude und wurde mit Zustimmung dieses RCDS-AStAs von der Polizei brutal geräumt. Bleibt zu hoffen, daß der Protest sich aufgrund solcher Gewalterfahrungen radikalisiert und darüber hinaus auch Weihnachten überlebt. Aber mit Radikalisierung meine ich nicht die Anwendung militanter Gegengewalt, sondern tiefergehende Reflexion, die im Ergebnis den Geist noch umfassender von der neoliberalen Seichtigkeit befreit, die in der Kundenideologie steckt, ohne als solche bisher zufriedenstellend wahrgenommen worden zu sein. Aber vor allem meine ich mit Radikalisierung die reflexive Fortführung der politisch-ökonomischen sowie kulturellen Konfliktlinien, die aufgrund des Klassenantagonismus´ in der Gesellschaft existieren, bis in die Universität hinein. Das hätte Auswirkungen auch auf die Protestpraxis und könnte der studentischen Linken allzu nötigen Zulauf bescheren.

Studiengebühren wären nicht deshalb abzulehnen, weil von Haus aus gutsituierten Abiturienten damit der Zugang zur Hochschule erschwert würde, insofern also Chancengleichheit zerstört werde. Weil wir in einer Klassengesellschaft leben und unter anderem in Bezug auf Bildung eine wirkliche Chancengleichheit, wenn sie jemals existiert hat, schon längst verloren gegangen ist, müssen Mechanismen geschaffen werden, die diese erst einmal herstellen. Das geht genausowenig durch allgemeine Studiengebühren wie durch ein allgemeines Verbot von Studiengebühren. Das abstrakte Gleichheitsprinzip, welches im bürgerlichen Recht vorherrschend ist, verletzt Prinzipien der Gerechtigkeit. Denn wer Vermögen besitzt, der vermag auch mehr zu besitzen als bloß genügend Geld. Geld ist allgemeine Ware, d.h. Geld ist auch Gallerte menschlicher Fähigkeiten und Fertigkeiten, die über den Warencharakter abstrakter Arbeit vermittelbar und deshalb auch akkumulierbar, jedenfalls indienstnehmbar sind. Somit verfügt der Vermögende über mehr Zeit, als derjenige, der Zeit vom Studium abzwacken muß, um Geld zu verdienen. Zeit ist nicht Geld, sondern Geld ist geronnene Zeit. So ist der Vermögende im Vorteil: seine Chancen, schnell und ergiebig zu studieren, Karriere zu machen etc. sind besser als bei dem, der nicht vermögen ist.

Wenn also die Einführung einer Vermögensteuer eine vernünftige Forderung von Linken ist, was wäre dann gegen die Einrichtung einer Studiengebühr für Studenten aus vermögenden Verhältnissen von einem linken Standpunkt aus einzuwenden, wenn diese nicht den Länderkassen zum Stopfen ihrer Haushaltslöcher, sondern den Universitäten, d.h. genauer: ihren nicht vermögenden Studenten zu gute käme, so daß diese von dem Zwang befreit wären, neben ihrem Studium zu arbeiten? Einen direkten Einwand hätte ich nicht, wohl aber einige indirekte.

Zu vermeiden wäre unbedingt alles, was den vorherrschenden Trend zum Ausbau von Eliteuniversitäten zusätzlich befördert, so daß den Angehörigen aus subalternen Schichten allenfalls noch der Zugang zu Hochschulen bleibt, in denen sie einen abgewerteten Studienabschluß erwerben können (interne Ausgrenzung). Die Studenten sind abstrakt gesehen zwar eine "Zwitterklasse" mit Optionen tendenziell nach beiden Seiten hin. Die zwitterhafte Optionalität ist allerdings nicht gleichmäßig verteilt. Nicht nur die soziale Herkunft, nach Bourdieu: die feinen Unterschiede, sondern auch die Wahl der Universität (grande port oder petite port), aber vor allem die Wahl des Studienganges entscheiden bereits im Vorfeld mit, welche Seite des Zwitters größere Anlagen aufweist, sich zu entwickeln. In bestimmten Studiengängen, mit welchen die für das Kapital und den Staat wesentlichen ökonomischen und politischen Schlüsselbereiche bedient werden (Wirtschafts-, Natur- und Rechtswissenschaften sowie Medizin), tummeln sich überproportional viele jener, denen die Zugehörigkeit zur herrschenden und ausbeutenden Klasse gleichsam in die Wiege gelegt wurde. Daß auch diese sich für ein subalternes Klassenbewußtsein entscheiden können, darf und soll ihnen nicht abgesprochen werden. Als "Zwitter" befinden sie sich in der Lage, materiellen Wohlstand seitens ihrer vermögenden Eltern zu genießen, sind aber aufgrund der Abhängigkeit von diesem Wohlstand darin behindert, sich von den Eltern adäquat emanzipieren zu können. Die Erschwernis der Emanzipation wiegt ähnlich schwer wie der Zwang zur bezahlten Arbeit, um sich das Studium selbst finanzieren zu können. Nach 68 gilt zwar nur noch in sehr eingeschränktem Maße, wessen Brot man esse, dessen Lied man singe, - gleichwohl kommt es noch allzu häufig vor, daß Eltern ihren Kindern die finanzielle Unterstützung versagen, weil diese nicht die Familientradition einer Anwalts- oder Ärztelinie fortsetzen wollen, sondern sich Studien widmen, z.B. der Germanistik oder Soziologie, die die zukünftige Zugehörigkeit zur herrschenden Klasse eher verunmöglichen. Darum gilt es, die Abhängigkeit von den Eltern genauso als ein repressives Moment, das der Affirmation des Bestehenden zu gute kommt, ernst zu nehmen wie auch den Zwang zur bezahlten Arbeit.

Ein obligatorisches Existenzgeld, welches an alle Studenten ausgezahlt wird, aber nur von denen plus einer Studiengebühr zurückbezahlt werden müßte, denen das Studium zu einer erfolgreichen Karriere mit entsprechendem Einkommen, mithin zum Aufstieg zur herrschenden Elite verholfen hat, könnte Abhilfe schaffen. Dabei müßte sich das Existenzgeld aus staatlichen Geldern zusammensetzen (der Staat darf sich nämlich in Bezug auf seinen Bildungsauftrag nicht aus der Verantwortung mogeln) und von universitären Einrichtungen - etwa dem Studentenwerk - ausgezahlt werden. Die Rückzahlung des Existenzgeldes wie auch der Studiengebühr müßte ebenfalls an diese universitäre Einrichtung erfolgen. So könnte die Studiengebühr für den Ausfall der nicht zurückbezahlbaren Existenzgelder jener, die nach dem Studium keine erfolgreiche Karriere machen, kompensiert und gleichzeitig sichergestellt werden, daß der Staat mit diesen Geldern keine etwaigen Haushaltslöcher zu stopfen beginnt.

Dem Staat ist nämlich grundsätzlich zu mißtrauen. Würden Existenzgeld und "progressive Studiengebühren", die dem Primat der Sozialverträglichkeit unterliegen, tatsächlich eingeführt (Studiengebühren also, deren Höhe sich nach den finanziellen Verhältnissen der jeweiligen Familien oder an der zukünftigen Einkommenshöhe des Absolventen richtet, und ein Existenzgeld, welches allgemein vom Zwang zur bezahlten Arbeit während des Studiums bzw. von der materiellen Abhängigkeit von den Eltern befreien soll), unterlägen aber der finanzpolitischen Hoheit des Staates, wäre es zudem wohl nur wieder eine Frage der Zeit, wann die Bemessungsgrundlagen aufgrund angeblicher Sparzwänge herabgesetzt würden und damit nicht mehr sozial verträglich wären. "Sozialverträglichkeit" bestimmt der Staat schon heute weniger durch die Notwendigkeit materiell abgesicherter Existenz, sondern durch das Quantum dessen, was vom gesellschaftlichen Reichtum zum Verteilen zugestanden wird. Der Sozialstaat wird aber nicht aus dem Sachzwang leerer Kassen "umgebaut" (ein Euphemismus, der das Absterben kaschieren soll), sondern weil die politischen und wirtschaftlichen Herrschaftseliten dieses Landes den Sozialstaat abschaffen wollen, sind die Kassen mehr oder weniger leer.

Wäre mein Konzept mehrheitsfähig? - Definitiv nicht. Es ist ein Konzept aus linker Perspektive, für das sich die wenigsten erwärmen können, weil es den Begriffsgehalt wahrer Solidarität in bare Münze umsetzt und dabei einem Solidaritätsbegriff folgt, wie er bei den ersten sozialistischen Bewegungen im Frankreich des frühen 19. Jahrhunderts gang und gäbe war. - Unter solidarité verstanden diese das Füreinanderstehen nicht im Sinne allgemeiner fraternité, sondern als gegenseitige Unterstützung unter Menschen der gleichen, klassenspezifischen Interessenlage. Der Proletarier solidarisiert sich mit dem Proletarier, um sich gemeinsam gegen Ausbeutung und Unterdrückung seitens der Kapitalisten zu schützen. Auf Basis dieses Begriffes kam es zu assoziativen proletarischen Vereinigungen, die imstande waren, nicht nur defensiv die Angriffe des Kapitals abzuwehren, sondern dem Klassenkampf von oben einen Klassenkampf von unten entgegenzusetzen. Der französische Soziologe Emile Durkheim nannte diese Form des zweckmäßigen, klassenspezifischen Zusammenstehens abwertend "mechanische Solidarität"; seine Absicht war es (wie auch schon A. Comte als Antipode zu Hegels sprengender Dialektik von Herr und Knecht), der klassenkämpferischen, erodierenden Gesellschaft eine stabile Ordnung zu geben. Die Tendenzen der Verstaatlichung und damit der Verallgemeinerung von Solidarität nannte Durkheim aufwertend "organische Solidarität" - dem Grundgedanken nach war dies der Beginn des Sozialstaates, in dem gemäß des bürgerlichen Prinzips der abstrakten Gleichheit der Klassenantagonismus repressiv versöhnt wird: den Gesellschaftsinsassen kommt eine fürsorgliche, abstrakte "Gleich"-Behandlung zugute, unabhängig von ihrer jeweiligen Klassenlage. - Bismarck führte schließlich im Deutschen Reich den Wohlfahrtstaat ein, weil er erkannte, daß jene "organische Solidarität" ein Mittel war, der Arbeiterbewegung, die auf Basis der "mechanischen Solidarität" autonome, proletarisch-assoziative Fürsorgestrukturen aufgebaut hatte, den revolutionären Stachel auszuziehen.

Aus Bismarcks Sicht mußten diese Strukturen unbedingt zerschlagen, d.h. verstaatlicht werden, weil mit ihnen die Arbeiterbewegung revolutionäre Kampfstrukturen entwickelte und imstande war, dem Sozialismus einen sehr großen Schritt näher zu kommen. - Die heutigen Gewerkschaften wären gut beraten, wenn sie den von Bismarck vollzogenen Schritt wieder rückgängig machten, indem sie anfingen, für Gewerkschaftsmitglieder all jenes an sozialer Fürsorge aus eigener Kasse zu kompensieren, was der Sozialstaat meint, nicht mehr finanzieren zu können und statt dessen die private Eigenverantwortung nahelegt. Außerdem sollten sich die Gewerkschaften endlich auch der drop outs zuwenden. Welches Gewerkschaftsmitglied wäre nicht bereit, für diese Zwecke höhere Mitgliedsbeiträge zu bezahlen?

Es ist nicht meine Angelegenheit, realpolitische oder gar neoliberale Konzepte zu entwerfen, die mehrheitsfähig wären, sondern lediglich Denkanstöße zu geben. Auf den Klassenkampf von oben muß jedenfalls eine klassenkämpferische Antwort von unten erfolgen. Wenn Solidarität eben nicht selbstverständlich ist und ein sozialdemokratischer Konsens der Nachkriegszeit nunmehr annährend restlos verbraucht ist, muß Solidarität von neuem bestimmt und erkämpft werden. Es kann jedenfalls nicht sein, daß es dem Staat, bzw. den Herrschenden obliegt zu definieren, was Solidarität bedeutet. Der SPD-Ministerpräsident Peer Steinbrück, ein zukünftiger Anwärter auf das Kanzleramt, kann stellvertretend zitiert werden in bezug auf den mehrheitsfähigen Teil der SPD, der mit einem Begriff von Solidarität herumjongliert, welcher nunmehr die "organische Solidarität" hinter sich läßt und der Idee einer neoliberalisierten "mechanischen Solidarität" folgt, die zweckgebunden ist, aber nicht den Interessen der Subalternen, sondern denen der Leistungsträger und der herrschenden Eliten das Wort redet - genau jenen, die Fürsorge eigentlich gar nicht nötig hätten: "Soziale Gerechtigkeit muß künftig heißen, eine Politik für jene zu machen, die etwas für die Zukunft unseres Landes tun: die lernen und sich qualifizieren, die Kinder bekommen und erziehen, die etwas unternehmen und Arbeitsplätze schaffen, kurzum, die Leistung für sich und unsere Gesellschaft erbringen. Um sie - und nur um sie - muß sich Politik kümmern." (ZEIT 47/03)

Warum sollten die Angehörigen der subalternen Schichten ein masochistisches Interesse daran haben, durch ihre Steuergelder mehrheitlich Menschen das Studium zu finanzieren oder fürsorgliche Subventionen zukommen zu lassen, wodurch diese Angehörige der herrschenden Eliten werden, bzw. bleiben und schließlich ihre ausbeuterischen Partikularinteressen gegen jene durchsetzen?

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sopos 12/2003