Staat und Gesellschaft in Irak befinden sich in einer Transformationsphase, in der sich das Augenmerk auf Verfassungsfragen, Machtteilung und Dezentralisierung sowie Vergangenheitsaufarbeitung und Entbaathisierung richtet. Um die heutige Situation zu begreifen und Vorstellungen über die politische Zukunft Iraks zu entwickeln, hilft ein Blick zurück: ins Jahr 1914.
Die englischen Truppen wollten nach dem "Mesopotamischen Feldzug" einen neuen Staat Irak gründen - und zwar auf einem vorher nicht existenten politischen Territorium. Es kam zu gravierenden Ordnungsproblemen bei dem Versuch, Hegemonie zu erlangen und über die Vermittlung einer Differenz von Innen und Außen ein "Nationen-Volk" auszubilden. Der Begriff "Nation" diente zunächst eher innergesellschaftlichen Zielen, insbesondere der Konstruktion einer "Gemeinschaft". Der von den Briten installierte Staatsapparat unterstand einer "herrschenden Klasse", die geprägt war von der widersprüchlichen Identität dreier verschiedener sozialer, konfessioneller und politischer Gruppen: einer Dynastie aus dem Hedjas, einer osmanisch-arabischen Gruppe von sunnitischen Offizieren und Beamten, und einer geschlossenen religiösen Gruppe von Großgrundbesitzern. Der irakische Staat war seinem Wesen nach ein koloniales Projekt, das die britischen Interessen in der Region bewahren sollte.
Die Gründung eines Staates und die Ausübung von politischer Macht erfordern organisiertes kollektives Handeln. Aber der Kolonialstaat Irak war weder militärisch noch finanziell in der Lage, seine nicht homogene Bevölkerung zu kontrollieren, geschweige denn sie zu einer kulturell homogenen Einheit zusammenzuschweißen. Das Verhältnis zwischen Kolonialstaat und "Mutterland" war durch eine enge Verschränkung zwischen kolonialer Ausbeutung und Verwaltung bestimmt.
Heute steht der irakische Staat vor einer ähnlichen Problematik, nämlich der Konstituierung einer neuen Nation und Staatsform sowie der Bewältigung ihrer politischen Legitimationskrise. Unter der Baath-Herrschaft erzeugten Repression und Unterdrückung einen Loyalitätszwang unter den Gruppen. Heute führen politische Instabilität, wirtschaftliche und soziale Depression und Identitätsängste zum gleichen Muster, ohne wirklich wieder eine integrierte traditionelle Gesellschaft herbeizuführen. Die neu entstandene Gruppenorientierung führt zu einer politischen Kultur, in der ethnische oder konfessionelle Organisationen im Rahmen der politischen Bedingungen für ihre jeweils eigenen Interessen kämpfen.
Während sich unter den Schiiten in Irak die Religion als materialisierter identitätsstiftender Faktor abzeichnet, ist die ethnische und kulturelle Grenze bei den Kurden zur nationalen Form ihrer Gemeinschaft geworden. Bei den Turkmenen und den Assyrern spielen beide Faktoren eine Rolle. Im künftigen Irak wird sich die schiitische Bevölkerungsmehrheit mit dem Status einer politischen Minderheit nicht zufrieden geben. Die arabischen Sunniten werden ihre bisherige politische Dominanz nicht behalten können, aber auf einige Schlüsselpositionen im Staatsapparat nicht verzichten wollen. Die Kurden werden auf ihrer ausgerufenen föderativen Forderung beharren. Zumal der vom kurdischen regionalen Parlament im Jahr 2002 beschlossene föderale Verfassungsentwurf für Kurdistan und Irak von der ehemaligen irakischen Opposition auf der Londoner und später auf der Salahaddin Konferenz 2003 bekräftigt wurde.
Eine politische Neuordnung Iraks nach föderalen und demokratischen Prinzipien wird heute von einigen nationalistischen und religiösen Kräften in Irak als Problem für die "irakische Identität" betrachtet. Ohne diese fehle die Loyalität mit der staatlichen Herrschaft. Tatsächlich steht der neue Irak vor einem problematischen Prozeß der Staatsbildung. So ist beispielsweise das künftige irakische Grundgesetz höchst umstritten, der Verfassungsausschuß aus 25 Juristen und Religionsgelehrten konnte sich bis heute nicht über ein Wahlverfahren einigen. Dieser Dissens veranlaßte den Ausschuß, die Entscheidung dem von der amerikanischen Zivilverwaltung ernannten Rat zu übertragen.
Die formale Übernahme staatlich-administrativer Funktionen bietet der neuen irakischen Elite unmittelbaren Zugang zu den staatlichen Ressourcen. Die Entstehung unzähliger neuer politischer und religiös-politischer Gruppierungen in den letzen Monaten deutet an, daß noch heftige Auseinandersetzungen bevorstehen. Die Uneinigkeit dieser Gruppen ließ sich im Streit um die neue Staatsspitze, dem Regierungsrat, bereits erkennen.
Es ist ein Dilemma: Ohne eine "Ordnungsmacht", die den Übergang zur Demokratie sichert, steht Irak gesellschaftlich und politisch vor einem Destabilisierungsprozeß. Schon während des Bürgerkriegs von 1991 befürchteten manche eine "Libanisierung" Iraks. Denn das Mißtrauen der unterschiedlichen fragmentierten Gruppen untereinander und gegenüber dem Staat hat eine lange Geschichte. Auf der anderen Seite bieten politische Instabilität, wirtschaftliche Not und Identitätsängste gerade die Voraussetzungen dafür, daß die pan-nationalistischen und islamistischen antiwestlichen und antiamerikanischen Kräfte die Lage radikalisieren und das Mißtrauen gegen die Besatzer für sich nutzen. Bei allen Problemen ist es aber erforderlich, die Iraker nicht länger nur als Opfer zu betrachten, sondern als eigenständige Akteure, die unter den gegebenen Bedingungen ihr Handeln selbst bestimmen können.
Aras Fatah ist Mitherausgeber des Buches "Saddam Husseins letztes Gefecht? Der lange Weg in den III. Golfkrieg (Hamburg 2002).
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift iz3w - informationszentrum dritte welt, Nr. 273.
https://sopos.org/aufsaetze/3fe220f03e49a/1.phtml
sopos 12/2003