Die ökonomische und sozialstaatliche Krise in Deutschland wird von den hiesigen wirtschaftspolitischen Eliten genutzt, um den Sozialstaat schrittweise zu entsorgen.
Der neoliberale mainstream in Politik, Arbeitswelt und Wissenschaft ist mächtiger denn je. Unanfechtbar erscheint die mediale Hegemonie der Modernisierungsgewinner. Ihre Annahmen über die Voraussetzungen wirtschaftlicher Entwicklung, auch über die angebliche Reformunfähigkeit des Landes sowie über die Ursachen der ökonomischen Schwierigkeiten bestimmen den öffentlichen Diskurs. Die Neoliberalen scheinen die Hoffnung zu haben, daß - indem viele ihre Rezepte nachbeten - die Unwahrheit zur Wahrheit werde.
Weniger Besitzstände - das fordern jene, die in den letzten Jahren ihren Besitz selbst nicht nur gewahrt, sondern vermehrt haben.
Weniger Steuern - das fordern Einkommensmillionäre und Großunternehmer, die zu diesem Sozialstaat schon längst kaum noch etwas beisteuern, weil sie ohnehin kaum noch Steuern zahlen. Die durchschnittliche Steuerbelastung der Arbeitnehmereinkommen liegt dagegen bei 19, die der Gewinn- und Vermögenseinkommen bei acht Prozent.
Weniger Rente, weniger Kranken- und Arbeitslosengeld, weniger Arbeitslosen- und Sozialhilfe - das fordern Manager, die mit einer Millionenabfindung nach Hause gehen, wenn sie ihr Unternehmen in den Sand und Hunderte Arbeitnehmer "frei"-gesetzt haben, sowie Politiker, die schon nach wenigen Jahren in der Politik sechsstellige Übergangsgelder und Pensionsansprüche erwerben.
Mehr Eigenvorsorge in der Kranken- und Rentenversicherung - das fordern die Versicherungs- und sonstige Finanzindustrie, weil sie von der Umstellung der sozialen Sicherungssysteme auf private Vorsorge profitieren (siehe "Riester-Rente"), obwohl die Verwaltungs- und Vertriebskosten beim privat finanzierten Kapitaldeckungsverfahren drei- bis viermal höher liegen als beim Umlageverfahren.
Tatsächlich sind jedoch weder die sogenannte Reformunfähigkeit noch die "Modernisierung", d.i. Abschaffung der Sozialsysteme, Ursache der ökonomischen Probleme. Das Allheilmittel zur Krisenbewältigung kann zudem nicht in der Senkung der "Lohnnebenkosten" liegen. Es gab auch keinen "Reformstau", oder allzu lang hinausgezögerte, längst fällige Reformen. Schrittweise Veränderungen, die der ungeheuren Komplexität der modernen Systeme adäquat sind, finden unentwegt statt. Das Problem liegt vielmehr in der Hektik: Während der nächste Reformschritt schon geplant wird, ist der letzte noch gar nicht beendet, d.h. seine Wirkung analysiert. Dem Reformprozeß täte daher eine etwas ruhigere Hand gut.
Sparpolitik verhält sich in dieser Zeit wirtschaftlichen Abschwungs prozyklisch und damit gesamtwirtschaftlich kontraproduktiv. So erlahmt gerade wegen der Einsparungen im Sozialbereich sowie aufgrund der Steuersenkungen für das Großkapital die Wirtschaft noch mehr, woraufhin die Staatseinnahmen weiter sinken und der Subventionsbedarf der Sozialkassen zunimmt, so daß am Ende eines solchen gesamtwirtschaftlichen Wirkungsprozesses gerade die Sparabsicht den Sparerfolg zunichte macht. Dabei sind die Nutznießer des Sozialbereichs Menschen mit niedrigem Einkommen oder Bezieher von Lohnersatzleistungen, die jeden Euro ausgeben müssen und damit die Binnennachfrage stärken, während mittlere und höhere Einkommensbezieher jeden überschüssigen Euro sparen oder gewinnbringend anlegen und damit die konjunkturelle Binnennachfrage schwächen.
In einer solchen Situation bräuchte es nicht weniger, sondern mehr Staat, und er müsste auf allen Ebenen investieren, anstatt wie das Kaninchen auf die Schlange zu starren, auf die Einhaltung der ökonomisch unsinnigen und politisch willkürlichen Maastricht-Kriterien zu achten. Zwar hat der staatliche Schuldenberg inzwischen die Höhe von mehr als 1200 Milliarden Euro erreicht, doch stehen dem Schuldenberg auch private Vermögenswerte in mindestens gleicher Höhe gegenüber. Die nächste Generation erbt zwar die Schulden, aber zugleich auch eine intakte Infrastruktur und zusätzlich die Anleihen, mit denen der Staat diese Investitionen finanziert hat.
Im übrigen müßte der Staat ja gar nicht so viele Schulden machen, wenn er, statt Ausgaben zu kürzen, seine Einnahmeseite verbessern würde, indem er die Vermögenden und die Kapitalgesellschaften endlich im vergleichbaren Umfang wie die Arbeitnehmer zur Steuerkasse bitten würde.
Nicht die Höhe der sogenannten Lohnnebenkosten bestimmt allein oder auch nur vorrangig die Investitionen und die Schaffung von Arbeitsplätzen, sondern hierfür ist eine ganze Palette überaus komplexer Faktoren verantwortlich, wie zum Beispiel die Höhe der Lohnstückkosten, die in den letzten Jahren wegen der Lohnzurückhaltung der Arbeitnehmer einerseits und der Produktivitätssteigerungen andererseits kaum zugenommen haben. Auch Umsatz und Absatzerwartungen, Gewinne und Gewinnerwartungen, Zinsentwicklung, Qualität der Arbeitnehmer, Steuerbelastung usw. gehören zu dieser Faktorenpalette.
Wenn Mini-Jobs ausgeweitet und Ich-AGen gefördert werden, braucht sich niemand zu wundern, wenn sich der Trend verstärkt, sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze in solche Mini-Jobs aufzuteilen und aus normalen Arbeitnehmern Scheinselbständige zu machen. Die "Ich-AG" ist eine Chiffre für Scheinselbständigkeit, welche von der fatalen Folge begleitet wird, daß für Scheinunternehmer keine Sozialversicherungsbeiträge mehr gezahlt werden müssen und damit die verbleibenden regulären Jobs noch weiter belastet werden. Das hat Auswirkungen auch auf ehemals staatliche Unternehmen. Die Berliner Verkehrsbetriebe haben z.B. angedacht, ihre Busfahrer zu Selbständigen zu machen, die die Busse von ihrem Arbeitgeber leasen.
Umgekehrt könnte das Problem gelöst werden: Die Beitragszahlerbasis durch Abschaffung der Bemessungsgrenzen und Einbeziehung aller Selbständigen, Freiberufler, Beamten und Politiker zu verbreitern und die Unternehmen nicht mehr nach der Lohnsumme, sondern nach der Wertschöpfung zu bemessen; dies würde im übrigen auch die sogenannten Lohnnebenkosten senken.
Wenn der Lohnverzicht von Arbeitnehmern und die Lockerung des Kündigungsschutzes bestehende Arbeitsplätze sichern und zusätzliche schaffen würden, müßte es heute annähernde Vollbeschäftigung geben, weil die ganzen letzten Jahre die Realeinkommen der Arbeitnehmer zurückgingen. Im Osten Deutschlands, wo die durchschnittlichen Stundenlöhne gerade mal 78 Prozent des Westniveaus erreichen, ist aber die Arbeitslosigkeit bekanntlich am höchsten. Lockeren Kündigungsschutz würden die Arbeitgeber natürlich für zusätzlichen Stellenabbau nutzen. Die Probleme, vor allem auf dem deutschen Arbeitsmarkt, gehen ja gerade auf die Lohnzurückhaltung, d.h. auf die mangelnde Binnennachfrage zurück.
Wenn die deutsche Volkswirtschaft im benchmarking den anderen europäischen Staaten angeblich hinterherhinke, befindet sich der Vergleich in einer Schieflage, denn keine andere Volkswirtschaft hatte und hat die Lasten der deutschen Einheit zu tragen, die in Höhe von 75 Milliarden Euro jährlich den Sozialsystemen aufgebürdet wurden. Das macht es auch schwer, Rezepte anderer Länder unbesehen zu übernehmen. Im übrigen - um auch einmal die Proportionen zu recht zu rücken - ist Deutschland immer noch die drittgrößte und eine der fortgeschrittensten Ökonomien der Welt mit einem Produktionsniveau und gesellschaftlichen Reichtum, welche mit den ersten zehn reichsten Staaten auf der Welt Schritt halten kann.
Die ökonomische und sozialstaatliche Krise in Deutschland wird von den hiesigen wirtschaftspolitischen Eliten genutzt, um den Sozialstaat schrittweise zu entsorgen. Wer wollte leugnen, daß die Masse von vier Millionen Arbeitslosen ein schwerwiegendes Problem dieses Landes bedeutet. Die Ursachen hierfür sind jedoch vielfältig: von der demografischen Entwicklung über die Wiedervereinigung, technologische Umwälzungen und weltwirtschaftliche Verwerfungen bis zur mangelnden Binnennachfrage. Diese Krise läßt sich vor allem nicht mit neoliberalen Rezepten von gestern lösen, sondern nur mit Augenmaß: ursachenadäquat, sozial gerecht und gesamtwirtschaftlich vernünftig.
Hengsbach/Möhring-Hesse: Aus der Schieflage heraus. Demokratische Verteilung von Reichtum und Arbeit, Dietz Berlin 1999.
Jürgen R. Karasch ist Politologe und Verwaltungswirt. Seit 1976 ist er in verschiedenen Funktionen für die Bundesanstalt für Arbeit tätig, zur Zeit Arbeitsvermittler und Arbeitsberater für Angehörige hochqualifizierter Berufe im Hochschulteam Köln.
https://sopos.org/aufsaetze/3fd0dd56c38e7/1.phtml
sopos 12/2003