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Poesie auf der Insel

Der in Kassel lebende indische Schriftsteller Anant Kumar verbrachte als Stipendiat drei Wochen auf Sylt.


Rasend
kommt der fremde Wind
und rüttelt
das Dasein.

Entweder fege ich Dich weg.
Oder Du umarmst mich.
Vielleicht umarme ich Dich.
Oder auch nicht.


Rantum ist der idyllische Inselfleck, wo der syltische Boden zwischen der Nordsee und dem Wattmeer am schmalsten wird. Und in den ersten Tagen wirkt der rasende Wind abweisend: Die wilden Meeresböen bahnen sich ihren Weg durch jedwede Verglasungen an und rütteln pausenlos die zugesperrten Türen, als ob sie dem Fremden sagen würden: „Geh weg! Du gehörst nicht zu uns!“ Die Botschaft dringt durch, gerade wenn die lang sehnende Einsamkeit der Künstlerin in ihre Vereinsamung umkippt.

Die Kollegin aus Südafrika versucht auch nicht alles zu pauschalisieren: „Die Einheimischen grüßen mich weder noch zeigen sie eine Reaktion auf mein >'Hallo!<. Vielleicht liegt es daran, dass ich kein Deutsch kann!“

Die junge Theatermacherin aus Kapstadt war jedoch in die Vereinsamung (räumlich und psychisch) geraten und zählte ungeduldig ihre letzten Tage auf der Insel. Irritiert, zumal sie immer mehr Stolpersteine in dem bevorstehenden deutsch-südafrikanischen Theaterprojekt wahrnahm. „Be clear, before you invite foreign artists!“ … „Be clear, before you start an >Artist-in-Residence-Programme<!“ fielen ihre Kommentare während unserer Strandspaziergänge. Ich gab ihr Recht, paraphrasierend: „Coordination! … Friendliness! … Planning! … count a lot! “

Die Koordination lief auch in meinem Fall alles andere als gerade. Vor elf Monten traf der elektronische Brief der obersten Leitung der Ausschreibung „Inselschreiber 2003“ ein. Neben der hohen Anzahl der Beiträge teilte die Nachricht das Ergebnis mit: „ …Die Jury hat für einen anderen Autor entschieden. …Da uns jedoch ihr Beitrag auch sehr gefällt, möchten wir Ihnen als Trost-/Förderpreis ein vierwöchiges Aufenthaltsstipendium (Fördergeld +Künstlerwohnung) gewähren. Zusätzlich gehen die Eintrittsgelder der Lesungen an Sie.“ „Immerhin!“ sagte ich halbstolz zu mir und hatte sofort mein großes Interesse am Förderpreis/ -stipendium kundgetan – dankend.

Der Vertrag, den ich nach wiederholtem Gesuch vor sieben Monaten erhielt, war auf edlem Papier gedruckt und wich ein klein wenig von der Email ab: „Lesung: kann vor Ort vereinbart werden. (ist nicht Bestandteil des Vertrags).“

Ein gewisses Unbehagen plagte mich jedoch im September, als bis dahin die sehr umfangreiche Webseite der Einrichtung „Kunst: Raum Sylt Quelle“ weder meinen Namen noch den Beitrag in irgendwelchem Zusammenhang ankündigte. Sachte fing ich an, der Einrichtung die vorsichtigen Erkundigungen zu mailen, die unbeantwortet blieben. Mein erscheinender Erzählband gab mir dabei eine Deckung, indem ich schrieb: „ …Es wäre angebracht, wenn ich „Die uferlosen Geschichten!“ in Ihrer Einrichtung vorstellen könnte, zumal das Buch gerade mit jenem Essay „Inseln sind Orte, entfernt vom Land.“ endet, für den Sie mir den Förderpreis/ -stipendium vergeben.“

Die Geduld ließ nach. Man ging in die Offensive und versuchte telefonisch mit den Förderern in Kontakt zu treten. Die Sekretärin und die Betriebsleitung der Mineralwasserfabrik, die durch die wiederholten Anrufe an den Stipendiaten und an das Stipendium erinnert wurden, spürten die Ungeduld. Und es traf wieder eine tröstende Email der obersten künstlerischen Leitung ein: „ …Am 24. Oktober haben wir in der Sylt Quelle eine VHS Lesung. Da können Sie Ihre Neuerscheinung präsentieren.“ Ein gewisses „Ach!“ und „Gott sei Dank!“ kamen mit gemischten Gefühlen heraus.

Am Bahnhof „Westerland: Sylt“ holte mich eine Mitarbeiterin der Sylt Quelle ab, und zwischen meinen ersten Bewunderungen über die Dünen, Schilfe und Reetdachhäuser wurde mir die Nachricht mitgeteilt, dass die oberste Leiterin (meine Mäzenin!) in den nächsten 20 Tagen nicht zu treffen sei: „ …Nach dem Sommerstress erholt sie sich die ersten Oktobertage auf der Insel, und dann geht sie auf Mallorca, um zehn Tage Golf zu spielen.“ Die immer ruhiger werdende Insel in ihrer Oktoberröte sprach mich auch zum Erholen und zugleich zum Arbeiten an. Und am ersten Sylter Abend bedankte ich mich in meinem sehr gut ausgestatteten Künstlerappartement bei meinem Schicksal: „Relativ gesehen, läuft alles ganz gut!“

Dass die freundlichen Begrüßungen weiterhin in der Lage sind, die Komplikationen des postmodernen Alltags zu mildern, bestätigte sich täglich in der Begegnung mit Karin. Die emsige Chefin des sehr gut besuchten Sylt-Quelle-Restaurants sah ich immer in Aktion: Auf der Terrasse flink die Gäste bedienend, vom Haus (2 Kinder, 1 Hund und 1 Mann) ins Cafe laufend, … Wir liefen jeden Tag aneinander vorbei und wechselten kurze Sätze über das Sylter Oktoberwetter.

Lange Nacht – Kurze Nacht

Das Büchlein der Sylter VHS kündigt an:

Eröffnungsabend in der Sylt Quelle
Die lange Nacht der Quelle , Freitag, 24. 10. 2003, ab 20. 00 Uhr

Feridun Zaimoglu (Deutschland/ Türkei)
Bearni Searle (Südafrika)
Jan Kaus (Estland)

Drei ungewöhnliche Künstler und Schriftsteller aus Deutschland, Südafrika und Estland diskutieren an Quelle über ihre ganz persönlichen Inselerfahrungen und wie diese Einfluss auf ihre Kunst nehmen.

Die "Sylter Nachrichten" kündigten die Veranstaltung nicht weniger aufbrausend an: "Semesterstart der VHS mit illustren Gästen." Jedoch mit einer Abweichung: Der Name der südafrikanischen Künstlerin, Bearni Searle, ist von einem illustren Inder, Anant Kumar, ersetzt worden.

Während der ersten Tage meines Aufenthalts hingen in der Galerie der Sylt Quelle noch die Bilder von Bearni (Freundin von Sara, auch ein Mitglied des südafrikanischen Projekts). Geplant war, dass Bearni auch im Oktober als „Artist-in-Residence“ weilen und arbeiten sollte. Es soll etwas dazwischen gekommen sein, und Bearni brach ihren Aufenthalt ab und flog schon vorzeitig nach Kapstadt zurück. Hinterlassend ihre Bilder, deren Platz am Tag der Lesung die Ausstellung eines portugiesischen Malers nahm.

Am Abend des 24. Oktobers polierte ich, der neu eingeschlichne illustre Gast, meine Visage, und glänzend trat ich ins Sylt-Quelle-Restaurant (Veranstaltungsort) ein. Man wurde sofort von Journalistinnen und Veranstalterinnen umringt. Die Lesung musste jedoch nur mit zwei Autoren stattfinden, weil der junge Literaturstern Jan Kaus aus dem Baltikum letztendlich nicht erschien.

Im Hinblick der schwankenden Rahmenbedingungen erwies sich die Lesung sehr günstig, weil die beiden vorgetragenen Texte im gut gefüllten Raum sehr gut ankamen. Die Wirkung zeigte sich unmittelbar auf den Bücherverkauf.

Eine kritische Anmerkung machte mir jedoch eine Zuhörerin beim Erwerb eines Exemplars der Neuerscheinung: "Die Lesung war gut, aber es war keine lange Nacht!" - "Hmm! … Die Veranstalter sollten es besser wissen."


Entweder fege ich Dich weg.
Oder Du umarmst mich.
Vielleicht umarme ich Dich.
Oder auch nicht.

Rasend
kommt der fremde Wind
und
rüttelt das Dasein.

 

Anant Kumars neuestes Buch heißt: "Die uferlosen Geschichten, -Erzählungen-, ISBN 3937101047, €12,40, 130 Seiten, Broschur, mit Farbfotos v. Norbert Zauchner, Kassel, 12 x 20 cm, Wiesenburg Verlag, Schweinfurt 2003"

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https://sopos.org/aufsaetze/3fc3356379a50/1.phtml

sopos 11/2003