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Daß die berühmte Rede, in der Nikita Chruschtschow auf diesem Kongreß das mörderische Regime Stalins zwar anprangerte, aber auf diesen einen Mann und den um ihn betriebenen Personenkult reduzierte, die entscheidenden Fragen an die Geschichte der UdSSR unbeantwortet ließ, war dem Spätheimkehrer schon bewußt. Aber er nahm sich, den Abgründen entronnen, zunächst nicht vor, gedanklich erneut in sie hinabzusteigen. Zudem konnte ihm nicht entgehen, daß daran in der DDR ein gesellschaftliches Interesse, zu dessen Fürsprecher sich allein die führende Partei hätte machen können, nicht existierte. Ruge vertiefte sich in Forschungen zur deutschen Geschichte. Sie galten der Weimarer Republik, in der er in Berlin aufgewachsen war. Wer sich mit ihrem Aufstieg wie Ende befaßte, Aufschluß über triumphierende und überwältigte Interessen, Personen und Ereignisse gewinnen wollte, griff zu seinen Büchern. 1933 war der noch nicht Sechzehnjährige mit seinem um drei Jahre älteren Bruder nach Moskau emigriert, wo seine Mutter im Apparat der Komintern arbeitete. Dort öffnet sich ihm eine neue Welt, anders beschaffen, als er, der Jungkommunist, sie in seinen sozialistisch-enthusiastischen Vorstellungen erwartet hatte. Doch er lebt nicht nur in ihr, er will, sich von der Szene der Emigranten lösend, in ihr auch »Russe« werden. Ruge wird als Kartograph ausgebildet, erwirbt an einer Abendschule Hochschulreife, ist Fernstudent der Geschichte. Dann beginnt der Krieg. Obwohl inzwischen Sowjetbürger, wird er nicht einberufen, sondern als »Deutschländer« deportiert. Nur wenige Monate ist ein kasachisches Kaff sein Aufenthaltsort. Anfang 1942 gehört er unter der irreführenden Bezeichnung »Arbeitsmobilisierter« zu den Sträflingen des Gulag im Nordural. Daß und wie er überlebt, wie es ihm, vom Gefangenen zum Verbannten »aufgestiegen«, gelingt, in Swerdlowsk, einer Stadt, die er nicht betreten darf, sein Fernstudium zu beenden – ein Vorgang, der nicht seinesgleichen hat –, vor allem aber, wie er sich mit dieser Erfahrung geistig und psychisch auseinandersetzt, das bildet den Inhalt des außergewöhnlichen Lebensberichts. Der entläßt den Lesenden, sofern er nicht ohne Sympathien für die Idee des Sozialismus ist, mit quälenden Fragen. Die Auseinandersetzung mit ihnen bleibt conditio sine qua non jedes Blickes in eine denkbare Zukunft jenseits des Kapitalismus. Indessen: Wolfgang Ruge hat seine Erinnerungen nicht mit einer Analyse des Stalinismus befrachtet. Die hat er 1991 inmitten der turbulenten Ereignisse vorgelegt, die das politische Antlitz des Erdballs so gründlich veränderten (»Stalinismus – eine Sackgasse im Labyrinth der Geschichte«). Darin benannte er als das Hauptkennzeichen des mit dem Namen des Diktators doch nur etikettierten Regimes jene Politik, die jegliches Schöpfertum in der Theorie wie in der Praxis, auf den Feldern der Literatur und der Künste, in den Geistes- nicht anders als in den Naturwissenschaften erstickte, ihre Träger – die nur vermuteten eingeschlossen – ausschaltete, isolierte, hinmordete. Ein Prinzip, von dem nur in Ausnahme- und Grenzfällen abgewichen wurde, wie in den kritischsten Kriegszeiten, als Stalin die Entwicklung eigener Ideen in der Spitze der Militärhierarchie und innerhalb der Elite der Militärtechniker zulassen mußte. Ruges Buch belegt seine diskussionswürdige These eindrucksvoll. Er schreibt, ihm sei in Lager und Verbannung das Leben scheibchenweise gestohlen worden. Von da ist ein geringer Gedankensprung zu der Frage, was mit den erschossenen, verhungerten, erfrorenen, auf tausenderlei Weise zugrunde gegangenen Menschen dem revolutionären Aufbruch des Jahres 1917 entrissen wurde. Dieser »Diebstahl« hat sich nach Stalins Ende in der sogenannten poststalinistischen Phase im kleinen – zumeist, aber nicht immer, unblutig –fortgesetzt: in der UdSSR, in Polen, in der DDR, überall, wo die an die Wurzel gehende Abrechnung ausblieb und die Kräfte, die eine neue Gesellschaft wollten, sich nur zögernd befreiten. Sich den befreienden Bruch vorzustellen, macht mir bis heute Schwierigkeiten. Wer sollte sich in der Sowjetunion, wo er zuerst hätte erfolgen müssen, an die Spitze der notwendigen, aber ausgebliebenen antistalinistischen Revolution setzen, da es zu einer Massenbewegung nicht kam, angesichts der Gründlichkeit Stalins auch nicht kommen konnte und die beteiligten Schreibtischmörder nicht weichen wollten? Wolfgang Ruge, »Berlin – Moskau – Sosswa. Stationen eines Lebens«, Pahl-Rugenstein Nachf., 452 Seiten, 29 €
Erschienen in Ossietzky 23/2003 |
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