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Das Volk muß gezwungen werden zu arbeiten, statt seinen Lebensunterhalt vom Staat zu erwarten.« Als kürzlich in einer der beliebten Quiz-Veranstaltungen nach dem Autor dieses vielen Ossietzky -Lesern gewiß bekannten Zitates gefragt wurde, standen folgende Persönlichkeiten zur Wahl: Heinrich Brüning, deutscher Reichskanzler, der per Notverordnungen die Sanierung der Staatsfinanzen sowie die Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit anstrebte und der faschistischen Diktatur den Weg bereitete; Mayer Amschel Rothschild, Bankier, der das Frankfurter Bankhaus Rothschild gründete und europäische Fürstenhäuser finanzierte; Marcus Tullius Cicero, römischer Staatsmann, Redner und Schriftsteller, der mit seinem Werk »De re publica« (Über den Staat) sowie zahlreichen Reden und philosophischen Schriften den Senat von Rom gegen cäsarische Alleinherrschaftsansprüche verteidigte; und Bundeskanzler Gerhard Schröder, Schmied und Wegbereiter der Agenda 2010. Beachtliche 41 Prozent entschieden sich für Schröder. Für Cicero, geboren 106 und ermordet 43 vor unserer Zeitrechnung, den tatsächlichen Autor, stimmten lediglich 4 Prozent. Neuzeitlich ist ein Zitat, das nahezu zur gleichen Zeit Gegenstand einer Meinungsumfrage war. Hier wurde nicht nach dem Autor, sondern nach dem Wahrheitsgehalt gefragt. Es lautete: »Innere Einheit ist das Ziel, Reformen sind der Weg. Deutschland ist wiedervereinigt. Mit allen Beteiligten sind wir stolz auf das Erreichte. Doch um die innere Einheit zu vollenden, sind weitere Reformschritte nötig. Die Agenda 2010 sorgt dafür, daß Deutschland weiter vorankommt bei der Herstellung gleicher Lebensbedingungen in West und Ost...« Die Sätze entstammen einem Faltblatt (neudeutsch »Flyer«), unlängst herausgegeben vom SPD-Parteivorstand, abgesegnet von Generalsekretär Olaf Scholz, also von dem Politiker, der soziale Grausamkeiten mit dem gleichen Grinsen verkauft wie seinerzeit NATO-Sprecher James Shea die sogenannten Kollateralschäden im Angriffskrieg gegen Jugoslawien. Die Befragten hatten die Wahl zwischen »falsch«, »teilweise falsch« und »zutreffend«. Immerhin 72 Prozent entschieden sich für »falsch«. Das ist ein erfreuliches Ergebnis. Aber eigentlich fehlte für diesen gestelzten Humbug die Wahlmöglichkeit »kurios«, denn es mutet schon absonderlich an, wenn behauptet wird, daß ein Dokument, mit dem die soziale Spaltung der Gesellschaft vertieft wird, ausgerechnet der »inneren Einheit« in Deutschland dienen soll. Schließlich wird mit der Agenda 2010 keine der zahllosen Benachteiligungen der nach 13 Jahren immer noch neuen Bundesländer beseitigt, weder die im Vergleich zu den westdeutschen Ländern längere Arbeitszeit, die um 20 Prozent niedrigeren Bruttolöhne und -gehälter und die geringeren Entgeltwerte der Rentenpunkte noch die mehr als doppelt so hohe Arbeitslosenzahl, die Abwanderung vor allem junger Leute und die anderen Folgen der Deindustrialisierung. Im Gegenteil, wenn die sozialen Auswirkungen der Agenda 2010 für die gesamte Bundesrepublik schlimm sind, so sind sie für ihren östlichen Teil katastrophal. Mit dem Kanzlerprogramm wird eine neue Phase des sozialen Abstieges von Millionen Menschen eingeleitet. Allein mit der Absenkung der Arbeitslosenhilfe auf das erbärmliche Niveau der Sozialhilfe droht jedem zweiten ostdeutschen Arbeitslosen und ihren Familien der sofortige freie Fall in die Armut, in Mecklenburg-Vorpommern gilt das sogar für zwei von drei Arbeitslosen. Zwangsläufig werden die Abwanderung und die jetzt schon zu registrierende Vergreisung und Verödung weiter Landstriche zunehmen. Aus der verlängerten Werkbank des Westens wird der Osten noch schneller zum Altersheim und Armenhaus Deutschlands. Ungeachtet dieser vorhersehbaren Szenarien bleibt Scholz bei seiner Auffassung. Als er am 3. Oktober mit Schröder nach Magdeburg zur Feier der Deutschen Einheit kam, konnte er die Transparente und Aktivisten von Attac in knallgelben T-Shirts sehen, auf denen geschrieben stand: »Agenda 2010 spaltet Deutschland«. Die Sprechchöre waren nicht zu überhören – so wenig wie viele andere Proteste im ganzen Land. Selbst das sich politisch zurückhaltende Diakonische Werk Berlin-Brandenburg stellte zu den Auswirkungen der »Reformen« der Bundesregierung fest: »Die Menschen in Ostdeutschland werden zu den großen Verlierern gehören.« Doch Scholz bleibt davon ungerührt, er läßt weiter verbreiten: Die Agenda 2010 dient der inneren Einheit. Eigentlich ist es dieser Unfug nicht wert, sich damit zu befassen. Denn was soll das immer wiederkehrende Geschwätz von der verfehlten oder ausstehenden, noch zu schaffenden oder noch zu stärkenden »inneren Einheit? Wie sieht die aus, wo soll sie herkommen und wohin führen? Waren die Deutschen denn jemals schon das auf Theater- und Rednerbühnen beschworene »einig Volk von Brüdern«? Selbst Friedrich Schiller hatte die Schwestern vergessen. Gab es die »innere Einheit« etwa, nachdem Bismarck das Deutsche Reich mit Blut und Eisen zusammengeschlossen hatte, zur Zeit seiner Sozialistengesetze? Oder als Kaiser Wilhelm am Beginn des Ersten Weltkrieges im Reichstag ausrief, er kenne keine Parteien mehr, sondern nur Deutsche? Bestand eine »innere Einheit« während der harten Klassen- und Parteienkämpfe in der Weimarer Republik oder gar zu den Zeiten, als wir nur ein Reich, ein Volk und einen Führer hatten? Sie bestand selbst innerhalb der Teilstaaten nicht, als Deutschland dann jahrzehntelang zwei gegeneinander gerichteten Blöcken angehörte. Die »innere Einheit« war und ist eine Schimäre. Worauf es jetzt ankommt, ist die Beendigung jeglicher Diskriminierungen der Ostdeutschen, die Beseitigung der politischen, wirtschaftlichen, sozialen und mentalen Kluft zwischen West und Ost, die eine verfehlte Vereinigungspolitik nicht verringert, sondern vertieft hat und die durch die Agenda 2010 ganz gewiß nicht verschwinden wird. Aber vielleicht haben Scholz und seine Öffentlichkeitsarbeiter doch ein wenig Recht mit ihren Behauptungen von der einheitsfördernden Wirkung der Agenda 2010, allerdings in einem ganz anderen Sinne, als sie meinen. Dieser Katalog beschlossener und geplanter sozialen Scheußlichkeiten richtet sich, wenn auch in einem unterschiedlichen Maße, gegen die Arbeiter und Angestellten, die Auszubildenden und Rentner, die Arbeitslosen und Sozialbedürftigen in Ost und West. Sie alle sind Opfer derselben Politik des Sozialraubes, und ein Teil von ihnen beginnt, sich gemeinsam zu wehren. Die Großdemonstration der Hunderttausend aus vielen Orten West- und Ostdeutschlands am 1. November vom Berliner Alexanderplatz zum Gendarmenmarkt war keine Demonstration der »inneren Einheit«, aber es könnte der Beginn einer dringend nötigen Aktionseinheit sein.
Erschienen in Ossietzky 23/2003 |
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