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Arbeiterräte und industrielle Demokratie in der spanischen Revolution II

von Erich Gerlach (SoPo)

Infolge des uns zur Verfügung stehenden knappen Raumes müssen wir uns in unserem Beitrag auf einige Bemerkungen über die spanische Revolution beschränken und dabei in Kauf nehmen, da wir das tatsächliche Geschehen, auf das wir unsere Auffassungen stützen, nicht darstellen können, hier und da mißverstanden zu werden. Es genügt uns aber, wenn wir den einen oder anderen kritischen Sozialisten zum Studium der spanischen Revolution anregen.

Die spanische Revolution blieb eine "unvollendete Revolution". Die Notwendigkeiten der Kriegsführung und schließlich der militärische Sieg der verbündeten spanischen, deutschen und italienischen Faschisten setzten der Verwirklichung der ihr zugrunde liegenden Konzeption enge Grenzen. Trotzdem hat sie das Wesentliche einer sozialistischen Neuordnung deutlicher gemacht als alle bisherigen Sozialisierungsversuche. Sie hat gezeigt, daß die Sozialisierung vom Standpunkt der Arbeiterschaft zwei selbständige, gleich wichtige Inhalte hat:

1. Die Schaffung einer neuen demokratischen Leitung der Betriebe durch die Belegschaften, also die Änderung "des Verhältnisses des Arbeiters zu seinen Produktionsmitteln" am Arbeitsplatz. Dieser Vorgang bezeichnet man in Spanien als Kollektivierung der Betriebe.

2. Den Aufbau einer nicht staatsbürokratischen Planungsorganisation für die Volkswirtschaft auf der durch die soziale Revolution in den Betrieben geschaffenen Grundlage durch die Produzenten.

Die erste Aufgabe wurde in der spanischen Revolution grundsätzlich gelöst. Wir haben in unserem ersten Aufsatz gezeigt, welches die subjektiven Voraussetzungen hierzu waren. Von den sozialistischen Parteien wurden sie kaum gesehen. Ihr konkreter Gehalt war durch Allgemeinbegriffe wie "Staat", "Gesellschaft" oder den der zum mystischen Träger des geschichtlichen Fortschritts gestempelten "Arbeiterklasse" vernebelt. Wie immer, wenn abstrakte Begriffe die Köpfe beherrschen, blieb als einziger konkreter Akteur die Bürokratie.

Indem sie die wirtschaftlichen Leitungsaufgaben einer dieser Ziele entsprechend organisierten und vorbereiteten Arbeiterschaft übertrug, wies die spanische Revolution dem Sozialismus einen Weg, der sowohl das Entstehen einer neuen herrschenden Managerschicht wie die Stärkung der vorhandenen Staatsbürokratie vermeidbar macht.

Ein Gesetz verdient in diesem Zusammenhang der Vergessenheit entrissen zu werden, weil es die bisher weitestgehende und kühnste Legalisierung einer von den Arbeitern geleiteten Wirtschaft darstellt; das von der katalanischen Regierung am 24. Oktober 1936 erlassene Dekret über die Kollektivierung der Industrie und die Mitbestimmung in den Privatbetrieben. Es teilt die Betriebe in zwei Gruppen ein, in kollektivierte, in denen die Betriebsführung in den Händen eines von der Belegschaft gewählten Betriebsrates liegt, und in private, in denen die Arbeiterräte ein weitgehendes Mitbestimmungsrecht ausüben. Kollektiviert werden alle Betriebe mit mehr als 100 Beschäftigten sowie Betriebe mit 50 bis 100 Beschäftigten, wenn 3/4 der Belegschaft es fordern. Das Wirtschaftsministerium hat - insbesondere bei Betrieben über 500 Beschäftigten - gewisse Kontroll- und Mitwirkungsrechte.

Als Leitungsorgane für die einzelnen Industrien werden Industrieräte gebildet. Sie bestehen aus vier Vertretern der Betriebsräte, auch Gewerkschaftsvertretern und vier vom Wirtschaftsministerium vorgeschlagenen "Technikern".

Die Industrieräte sind wiederum im katalanischen Wirtschaftsrat als oberstem Leitungsorgan, an dessen Spitze der Wirtschaftsminister steht, zusammengefaßt. Alle Delegierte sind sie abrufbar und erhalten keine Managergehälter, die sie der Arbeiterklasse entfremden.

Die neue Ordnung wurde jedoch nicht durch dieses Gesetz beschaffen, es legalisierte nur einen Zustand, der schon zu funktionieren begonnen hatte und im sozialen Leben verankert war. Seine Grundlage war nicht staatlicher Zwang, sondern der Wille und das Können der Arbeiterschaft.

Die zweite Aufgabe, die Zusammenfügung der kollektivierten Betriebe zu einer von den Produzenten im Interesse des Volkes geleiteten Planwirtschaft, zur "Produzentendemokratie" als der Alternative zur "sozialistischen" Verwaltungswirtschaft konnte dagegen von der spanischen Revolution zumindest in der Praxis nicht gelöst werden. Es gibt hierfür im Wesentlichen zwei Gründe:

Wir wiesen schon darauf hin, daß das Experiment im Rahmen einer Kriegs- und Mangelwirtschaft erfolgte, daß alle Planungen unter der Notwendigkeit, die Fronten zu versorgen, standen. Es soll aber erwähnt werden, daß solche Leistungen wie der Aufbau der katalanischen Kriegsindustrie allein das Werk der Gewerkschaften und nicht der Staatsbürokratie waren.

Dem Sozialisten, der die spanische Erfahrung für die Praxis nutzbar machen will, sind dagegen die Fehler, die zwangsläufig aus der Doktrin der spanischen Arbeiterbewegung folgten, wichtiger als die historischen "Zufälligkeiten". Sie lagen in der Beschränkung der Revolution auf den wirtschaftlichen Bereich. Die Übernahme der Betriebe erfolgte in einem Moment der Schwäche des Staatsapparates. Der Staat als gesellschaftliche Institution hörte aber nicht auf zu bestehen. Da man es versäumte, ihn unter die Kontrolle der der sozialen Neuordnung ergebenen Kräfte zu bringen, erstand er wieder als bürgerlich-bürokratischer Staat, also als seinem Wesen nach im Gegensatz zur freiheitlich-sozialistischen Entwicklung stehend. Volksfrontideologien und die traditionelle syndikalistische Auffassung, daß die soziale Revolution völlig außerhalb des staatlichen Bereiches durchzuführen sei, lenkten in der entscheidenden ersten Phase der Revolution gleicherweise von den notwendigen "politischen" Schritten ab.

In Spanien war die stärkste revolutionäre Kraft, die CNT, gegenüber den Problemen, vor die die Existenz des Staates die Arbeiterbewegung stellte, genau so hilflos wie die Staatssozialisten aller Richtungen es bisher gegenüber der Aufgabe der demokratischen Organisation der Wirtschaft waren. Die von den Revolutionären nicht übernommene Staatsmacht fiel zwangsläufig in die Hände der bürgerlich-stalinistischen Reaktion. Sie wurde von dieser benutzt, die Errungenschaften der Arbeiter und Bauern systematisch zu beseitigen. Das wesentliche taktische Mittel war die Verstaatlichung der kollektivierten Betriebe als Wiederherstellung der Herrschaft der Bürokratie und Vorstufe der Reprivatisierung.

Ob die Macht des spanischen Proletariats unter den Bedingungen des Krieges zur Änderung der staatlichen Institutionen ausgereicht hätte, kann hier nicht untersucht werden. Darüber, daß ein solcher Versuch im Falle eines Sieges der Republik gemacht werden mußte, bestand bei den revolutionären Klarheit. Die gleiche Einsicht finden wir auch bei der polnischen Linken. Wir verweisen auf den in SoPo IV/57 abgedruckten bedeutsamen Aufsatz aus Pro Prostu, in dem ausgesprochen wird, daß die Demokratisierung der Betriebe scheitern müsse, wenn sie nicht von einer grundlegenden Änderung der bürokratischen Staatsstruktur begleitet sei.

Wir können den Verlauf der inneren Auseinandersetzungen zwischen Reaktion im republikanischen Lager nicht in seinen Einzelheiten darstellen. Ein unter dem Eindruck der größtenteils von stalinistischen Militärdilettanten verursachten Niederlagen (unsinnige Madrid- Tebruel- und Ebrooffensive) und des Versagens der staatlichen Wirtschaftspolitik zustande gekommener Pakt zwischen den sozialistischen und syndikalistischen Gewerkschaften und ein von ihnen ausgearbeitetes gemeinsames Aktionsprogramm kamen zu spät, um die Lage noch zu retten.

Aber in den Diskussionen, die um dieses Aktionsprogramm zur Rettung der Revolution geführt wurden, zeichnet sich die Konzeption einer freiheitlich-sozialistischen Gesellschaft ab, die wir neben ihrem großartigen kämpferische Stil als das Vermächtnis der spanischen Revolution an alle, die die Sache des Sozialismus nicht verloren geben, werten möchten. Wir können es nur kurz skizzieren.

An die Stelle des zentralistischen Zwangsstaates tritt eine dezentralisierte, auf Selbstverwaltungskörperschaften aufgebaute entbürokratisierte Demokratie. In dieser Demokratie ist durch die Übergabe der Betriebe an die Arbeiterschaft erstmals deren soziale Gleichstellung mit den anderen gesellschaftlichen Gruppen verwirklicht. Erst hierdurch wird die verbale Demokratie zur realen; denn solange parlamentarische Mehrheiten oder diktatorische Bürokratien über die Industrie entscheiden, ist das Proletariat, auch nach Beseitigung der Kapitalherrschaft, eine unterdrückte Klasse. Um mit den anderen sozialen Klassen auf der Grundlage der Gleichheit verhandeln zu können, muß es außerdem über ein zentrales Organ verfügen, mittels dessen es die Industrie insgesamt verwalten kann.

Diese Kerngedanken der spanischen Revolution haben heute die polnischen, die ungarischen Arbeiter und der Bund der Kommunisten in Jugoslawien erneut auf die Tagesordnung gesetzt. Es bestehen allerdings in der Art der Lösungsversuche einige wichtige Unterschiede. In Spanien sieht die Arbeiterschaft in den Gewerkschaften das geeignete Organ zur Verwirklichung des oben gekennzeichneten Zieles. So war als Planungsorgan der Volkswirtschaft ein staatlicher "Nationaler Wirtschaftsrat" vorgesehen, in dem die Gewerkschaftsvertreter gegenüber denen des Staatsapparates die Mehrheit haben sollten. In Polen soll dagegen die Klassenvertretung der Arbeiterschaft durch ein Rätesystem gebildet werden, an dessen Spitze ein zentraler Arbeiterrat steht als Verhandlungspartner mit dem Sejm. Diese Unterschiede dürften in der Struktur der Gewerkschaften begründet sein. Wo diese zentralistisch-bürokratisch sind, treten zwangsläufig die Räte in den Vordergrund.

Eine solche Ordnung löst das Zerrbild auf, zu dem die Diktatur des Proletariats in den stalinistisch beherrschten Ländern geworden ist, nämlich zur Diktatur einer Bürokratie, die im Namen des "abstrakten" Proletariats unterdrückt. Und ebenso vermeidet sie die Staatsallmacht des "Wahlfahrtsstaates". Sie macht deutlich, was mit der Herrschaft des Proletariats eigentlich gemeint war: eine freiheitlich-demokratische Gesellschaft, deren Schwergewicht bei der industriellen Produktion liegt, in der aber die Fabriken nicht mehr Bastionen kapitalistischer Monopolmacht sind, sondern von denen in ihn Arbeitenden in deren eigenem Interesse, das mit dem Interesse der Gesamtgesellschaft abgewogen wird, geleitet werden. Ein so in seinen Rechten gesichertes Proletariat würde im Rahmen einer föderativen Demokratie mit den anderen nicht ausbeutenden oder parasitären Klassen zusammenarbeiten (Bauern, Handwerk, freie Berufe, Kleinindustrie), ohne den geringsten Wunsch zu verspüren, sie in ihren Freiheitsrechten zu beschränken.

Das war das Nahziel der spanischen Revolution, nachdem sie ihre Ideale mit der Wirklichkeit konfrontiert hatte. Für dieses Ziel führen spanische Arbeiter, Bauern und Intellektuelle einen opferreichen unterirdischen Kampf gegen das Mörderregime Francos. Wir wünschen ihnen, daß sie diesen Kampf, wie die polnischen Arbeiter und Intellektuellen, bald offen führen können.

Der Text von Erich Gerlach erschien in der mittlerweile als historisch anzusehenden Zeitschrift "Sozialistische Politik" (SoPo), Nr. 5, Mai 1957, S. 3f.

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sopos 11/2003