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Bemerkungen
Die Paläste
der untergehenden Macht brennen.
Die Mörder triumphieren
über die Mörder.
Tausende sind befreit
von ihrem Leben.
Überlebende plündern Verwertbares
aus den Trutzburgen der Besiegten.
Der neuen Macht
folgt ein neuer Krieg.
Michael Mäde
Unter dem Titel »Bomben und Landnahme« hat der Autor Gedichte aus
jüngsten Kriegszeiten veröffentlicht. Mit einem Vorwort von Jutta
Ditfurth und Illustrationen von anaximander sind sie erschienen im »Kunstquartier«,
107 Seiten, 8 €
Eine Türkin lehrt Gewaltfreiheit
Sie paßt nicht in das massenmedial vermittelte Bild einer türkischen
Frau. Sie ist nicht zurückhaltend, sie hat eine eigene Meinung, eigene
Überzeugungen, die sie allen Unannehmlichkeiten und Gefahren zum Trotz
selbstbewußt zum Ausdruck bringt. Ferda Ülker ist 35 Jahre alt, aufgewachsen
in einem Elternhaus, das auch die Töchter studieren ließ. Mit dem
Studium in Izmir (Lebensmittelkontrolle, dann Theaterwissenschaften) begann
auch ihre Politisierung, und zwar über die ältere Schwester, eine
»echte Revolutionärin« und ihr »großes Vorbild«,
die nach dem Militärputsch 1980 in der Studentenbewegung aktiv war und
dafür ihr Leben riskierte. Für sich selbst fand Ferda Ülker in
jenen schwierigen Zeiten, in denen in der türkischen Linken viele Fraktionen
miteinander konkurrierten, noch keinen Platz – bis 1993. In diesem Jahr
gründete sie zusammen mit anderen in Izmir den Verein der KriegsgegnerInnen.
Da engagierte sie sich für Kriegsdienstverweigerer, denen in der Türkei
noch heute langjährige Verfahren und mehrjährige Haftstrafen drohen.
Auch sie und andere Aktive des Vereins bekamen Repressionen zu spüren.
Sie wurden beispielsweise häufig und immer häufiger vorgeladen und
mit Geldbußen belegt, so daß 2001 die Auflösung des Vereins
nicht mehr zu vermeiden war.
Die Vereinsarbeit bestand für sie nicht allein aus Beratung und Unterstützung
für Kriegsdienstverweigerer, sondern sie arbeitete auch als Theaterregisseurin
– insbesondere nach den Ideen des »Theaters der Unterdrückten«
des Brasilianers Augusto Boal – und entwickelte Trainings zur Gewaltfreiheit.
Da entwickelt sie in Rollenspielen, Diskussionsrunden und Beratungen Kommunikations-
und Umgangsformen jenseits althergebrachter Hierarchien und starrer Rollenmuster,
die sich in allen Milieus der türkischen Gesellschaft wiederfinden.
Wovon lebt eine Aktivistin wie Ferda Ülker? Einen Teil ihres Lebensunterhaltes
verdient sie in einer Buchhandlung. Seit vorigem Jahr erhält sie außerdem
eine etwas ungewöhnliche Unterstützung: Die deutsche »Bewegungsstiftung
– Anstöße für soziale Bewegungen« kommt für
einen Teil ihrer Lebenshaltungskosten auf und ermöglicht ihr so »die
Freiheit, da zu arbeiten, wo ich mich am wertvollsten für die Bewegung
empfinde«. Etwa um ein Trainings- und Begegnungszentrum zur Gewaltfreiheit
in Izmir aufzubauen. Diesem Ziel ist sie in diesem Jahr ein großes Stück
nähergekommen, denn daß diese Trainings die politische Arbeit auch
gruppenintern verbessern, »hat sich«, davon ist Ferda Ülker
überzeugt, in vielen Gruppen in der ganzen Türkei »herumgesprochen«.
Die »Bewegungsstiftung«, gegründet von neun meist jungen Leuten
aus Friedens- und Umweltgruppen und aus dem Umfeld von »attac« in
Verden an der Aller, verfügt nach etlichen Zustiftungen jetzt über
ein Kapital von 590 000 Euro. Dem unter Mitwirkung von Horst Eberhard Richter
gegründeten Stiftungsrat gehören u.a. Gisela Notz und Mathias Greffrath
an. Unter denen, die sich, gefördert durch die Stiftung, auf ihre politische
Arbeit konzentrieren können, sind politisch aktive Deutsche wie Sven Giegold,
Jürgen Heiser, Karin Leukefeld und Jochen Stay, die sich seit Jahren durch
Klarsicht, Mut und Tatkraft gegen Konzernmacht, industrielle Umweltzerstörung,
Imperialismus und Krieg hervorgetan haben. Gabriele Rohmann
Nähere Informationen zur Situation der Kriegsdienstverweigerer in der Türkei
unter www.connection-eV.de, zur Stiftung
unter www.bewegungsstiftung.de oder info@bewegungsstiftung.de oder Fon 04231-957540
Karin Michaëlis
Die Dänin Karin Michaëlis (1872-1950) ist fast vergessen, seit die
Nazis Ende der dreißiger Jahre ihre Bücher endgültig verboten
und aus den Bibliotheken verbannt haben. Dabei hatte sie der Briefroman »Das
gefährliche Alter«, der die Nichtkongruenz des Sozialen und des Sexuellen
auch bei Frauen thematisierte, weltberühmt gemacht. Und während mehrere
Filme – in einem spielte Asta Nielsen die Hauptrolle – das Sujet
antiemanzipatorisch verdrehten, erreichte das Buch Ende der zwanziger Jahre
allein in Deutschland eine Auflagenhöhe von drei Millionen. Noch mehr schlugen
ihre Jungmädchenbücher über Bibis Abenteuer durch, womit sie
ab 1929 jährlich die Leserinnen beglückte. Die Geschichten des Mädchens,
das auch vor gefährlichen Unternehmungen nicht zurückschreckt, die
man bislang nur Jungen zugetraut hatte, sind weitaus politischer als die der
Nachfolgerin Pippi Langstrumpf: Bibi stammt aus einer Familie von Landadeligen,
die ihr Gut im Zuge der sozialdemokratischen Reformbewegungen der zwanziger
Jahre freiwillig aufgeben. Sie selbst wünscht sich eine Berufskarriere
als angestellte Agronomin. Hier wird das in ganz Skandinavien zum Zuge gekommene
sozialdemokratische Entwicklungsmodell mit einem solchen Pathos dargestellt,
als wäre es eine sowjetische Produktionsschlacht. Obwohl ihr jeder Bezug
zu Ideologien fremd war und für sie nur praktische Humanität zählte,
stand Karin Michaëlis dem sowjetischen Experiment aufgeschlossen gegenüber,
nachdem ihr die dortigen Waisenhäuser als die fortschrittlichsten der Welt
erschienen waren. Sie hat zeitlebens immer wieder humanitäre Hilfsaktionen
initiiert und unterstützt, so ein großes Hilfsprogramm für Hungernde
und Obdachlose nach dem 1. Weltkrieg, wodurch tausende deutsche Kinder in Dänemark
aufgepäppelt wurden. Als sie vom Kinderhilfskomitee der spanischen Republik
angesprochen wurde, aber kein Geld hatte, opferte sie ihre letzte Perlenkette.
Obwohl sie in ihrer Heimat Dänemark flammende Reden gegen die Machtergreifung
der Nazis hielt und obwohl bekannt war, daß sie Dutzenden jüdischen
und politisch bedrängten Flüchtlingen aus Deutschland – darunter
Helene Weigel und Bertolt Brecht – unter Einsatz ihres gesamten Vermögens
Exil geboten hatte, versuchte Goeb-
bels bis 1938, Karin Michaëlis zu einem politischen Schwenk zu veranlassen.
Aber in der öffentlichen Verurteilung Hitlers machte sie keine Kompromisse.
Und sie protestierte auch persönlich bei Stalin gegen die Verhaftung von
Intellektuellen.
Im amerikanischen Exil war sie arm wie eine Kirchenmaus, erhielt aber viel Unterstützung
von ehemaligen und neuen Freunden. Trotz ihrer materiellen Sorgen – sie
lebte in einer Dachkammer, für die sie fünf Dollar pro Woche zahlte
– liebte sie das New York des New Deal über alles: Es gab kostenlose
Konzerte und Bibliotheken, in bestimmten Stunden kostete auch die Nutzung der
Metro nichts. Ihr Traum, die Geschichte der Rettung der dänischen Juden,
die mit des Königs Hilfe fast alle ins schwedische Exil gebracht worden
waren, als Filmstory in Hollywood zu verkaufen, erfüllte sich nicht.
Nach dem Krieg bekam sie den königlichen Freiheitsorden. Doch eine während
ihrer Emigrationszeit akkumulierte Steuerschuld führte zum erneuten Bankrott.
Daß sie vergessen ist, liegt aber wohl vor allem daran, daß der
von ihr verkörperte Typ des noch mit den Ideen der Französischen Revolution
groß gewordenen radikaldemokratisch gesinnten Bürgertums selten geworden
ist. In Deutschland wurde er durch den Faschismus fast vollständig ausgerottet.
Benötigt würde er heute dringend.
Der Freiburger Kore-Verlag hatte in den neunziger Jahren die Bibi-Bücher
und die Autobiographie von Karin Michaëlis neu verlegt, damit aber keinen
kommerziellen Erfolg erzielt. Eine von einer amerikanischen Autorin verfaßte
ausführliche Biographie der einstmals so populären Dänin konnte
jetzt nur im Rahmen der Wiener Studien zur Skandinavistik erscheinen. Dort ist
sie eigentlich nicht richtig plaziert. So tut sich auch die Wissenschaft mit
dieser großen Popular-Schriftstellerin schwer.
Sabine Kebir
Beverly Driver Eddy: »Karin Michaëlis. Kaleidoskop des Herzens«,
Edition Praesens, Wien, 35 €
Nazis vor 1945 – und danach
Das Personenlexikon zum Dritten Reich von Ernst Klee dokumentiert die Biographien
von 4300 für die Nazi-Zeit wichtigen Persönlichkeiten; kein anderes
Lexikon informiert so umfassend und instruktiv zu diesem Thema.
Ist das Nachschlagewerk einerseits die Summa von Klees fast 25jähriger
Arbeit über die NS-Zeit, so ist es andererseits auch Nebenprodukt, denn
er hatte seine Forschungen, vor allem zur Geschichte der NS-Medizin und zu den
Euthanasieverbrechen, selbstredend nicht in der Absicht begonnen, dies Lexikon
zu erarbeiten. Aber seine Untersuchungen waren eben von vornherein so angelegt,
daß die gesellschaftlichen und personellen Kontexte immer einbegriffen
waren, und so erwuchs aus dem über Jahre und Jahrzehnte gesammelten Material
ein ständig aktualisiertes Personenverzeichnis, schließlich das systematisch
erarbeitete Personenlexikon. Vor allem galt Klee das Jahr 1945 nie als Stunde
Null, in der alle Nazi-Verbrecher verschwunden waren – stets faßte
er nach und rückte ins Blickfeld, was aus den Verbrechern nach 1945 geworden
war.
Gewiß, einige der im Lexikon erfaßten begingen Selbstmord, andere
wurden gehenkt oder zu langjährigen Haftstrafen verurteilt (und saßen
sie sogar ab); manche wurden auch von den Alliierten »übernommen«
oder entkamen nach Südamerika. Aber das Gros – es ist schon atemberaubend
nachzulesen, wie in der alten BRD ranghöchste SS-Offiziere friedlich im
eigenen Bett sterben durften, ziemlich direkt an Menschenversuchen beteiligte
Wissenschaftler zu höchsten Ehren gelangten, NS-Wirtschaftsführer
nach kurzer Zeit wieder zu Wirtschaftsgewaltigen aufstiegen, KZ-Ärzte ihre
Approbation behielten, Gestapo-Beamte nach kürzester Zeit in den Polizeidienst
und Blutrichter in den Justizdienst übernommen wurden, führende Militärs
eine zweite Karriere in der Bundeswehr begannen usw. usf. Sicherlich, auch die
DDR hat einigen Nazi-Aktivisten wieder zu Rang und Ehren verholfen, aber die
quantitative Analyse des bei Klee versammelten Materials zeigt, daß dem
Splitter im Auge der DDR Balken und ganze Stützpfeiler in der BRD gegenüberstanden.
Vollständigkeit, in welcher Hinsicht auch immer, konnte Klee nie anstreben,
und so wird den Spezialisten sicherlich der eine oder andere Name fehlen. Damit
muß jeder, der ein solches Werk verfaßt, rechnen. Ebenso gibt es
im Detail Unrichtiges. So war Bieberbach, der Chef der »deutschen«
Mathematik, nach 1945 nicht im Ruhestand, sondern fand schlicht keine Anstellung
mehr (jede Disziplin hatte ihren Sündenbock, den sie zugunsten der Verbleibenden
opferte); Timoféeff-Ressovsky war ab 1947 im sowjetischen Atomprojekt
beschäftigt, aber nicht im Internierungslager, sondern in einer vom NKWD
beaufsichtigten Forschungsstätte, und wurde zu Lebzeiten nie rehabilitiert;
Vögler beging Selbstmord nicht in US-Haft, sondern entzog sich auf diese
Weise der drohenden Verhaftung usw.
Bei manchen Namen fragt man sich, warum sie aufgenommen wurden – seien
es die wenigen von NS-Opfern wie Edith Stein, Dietrich Bonhoeffer und Julius
Leber, seien es in der NS-Zeit diskriminierte Wissenschaftler wie Fritz Haber,
Gustav Hertz, Karl Jaspers und Oskar Vogt (seine wissenschaftlich genauso bedeutende
Ehefrau Cecile fehlt) oder auch solche, die dem Regime weitgehend unbeteiligt
bis ablehnend gegen-überstanden wie Max v. Laue und Bruno Snell. Hier greift
der im Vorwort formulierte Ansatz – Namen, »die beim Studium der
NS-Zeit immer wieder auffallen« – wohl doch etwas zu weit.
Aber diese Einwände benennen ärgerliche Ungenauigkeiten und verweisen
das Lesepublikum auf eine Tugend, der Ernst Klee in seiner Arbeit an dem Lexikon
fast durchweg verpflichtet gewesen ist: nichts ungeprüft zu übernehmen.
Den seiner Summa zu entnehmenden Gesamtbefund berühren sie in keiner Weise.
Thomas Kuczynski
Ernst Klee: »Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und
nach 1945?«, S. Fischer Verlag, 733 Seiten, 29,90 €
Carl Andrießen
Carl, gebürtig zu Bergisch-Gladbach (6.12.1925), wurde nie mit rheinischer
Mundart vertraut, weil man ihn schon in zartester Kindheit nach Mittweida im
Mittelsächsischen Bergland verbrachte, wo er als Sohn eines Ingenieurs
der Papierfabrikation Journalist wurde, in der Leipziger Volkszeitung an der
Seite von Bruno Apitz als Redakteur und Theaterkritiker arbeitete, in der Universitätsstadt
als Geschichts- und Philosophiestudent auch von Leuten wie Ernst Bloch und Hans
Mayer was lernte und dann überraschenderweise bei der vorgeblich satirischen
Zeitschrift Frischer Wind in Berlin zu arbeiten anfing. Sehr viel zu arbeiten
gab es dort nicht, so daß mir Carl das Biertrinken beibringen und auch
die kulinarische Harmonie von Roquefort-Käse mit trockenem Rotwein praktisch
demonstrieren konnte. Damals war mein Kollege zum Essen noch gesund genug. Er
schrieb treffende Kritiken, Glossen und Polemiken für die (1993 plattgewalzte)
Weltbühne, verfaßte mit Lothar Creutz (und Regisseur Richard Groschopp)
Drehbücher für erfolgreiche DEFA- und DFF-Filme (beispielsweise Ware
für Katalonien, Sie kannten sich alle, Carl von Ossietzky); mit Creutz
gab er auch das leider verschollene Büchlein Zwei Tropfen Gift in jeder
Tasse Mokka, Anekdoten aus der Weltbühne der zwanziger Jahre heraus. 1968
wurde er Redakteur bei der Zeitschrift Eulenspiegel. Dieser genaue Beobachter
und aus der stilistischen Tiefebene des durchschnittlichen Journalismus auffallend
herausragende Publizist schrieb, um zu leben, lebte aber nicht, um zu schreiben;
er hatte, wie es schien, den Ehrgeiz, keinen Ehrgeiz zu haben. Wir alle schätzten
Carl, seinen trockenen Witz und seine etwas vertrackte Höflichkeit. Die
Krankheit machte ihn immer dünner; als wir uns mal an einer Ecke verabredet
hatten, entdeckte ich ihn erst nach Minuten hinter einem Laternenpfahl. Carl
war gesellig, aber nicht zum Heiraten geeignet. Sein Privatleben war das eines
möblierten Herrn, und so unauffällig ist es auch zu Ende gegangen,
am 11.11.1993, mitten im Karneval, zu dem dieser gebürtige Rheinländer
nicht die geringste Beziehung hatte. Lothar Kusche
Walter Kaufmanns Lektüre
»Wer sich selbst nicht in einen größeren Zusammenhang stellt,
der wird von anderen in einen... Kontext der Beziehungsleere gesetzt.«
Boris Groys
Das ist es! Wie sich Christa Wolf in fast jeder ihrer vierzig Aufzeichnungen
aus vierzig Jahren in einen größeren Zusammenhang stellt, beeindruckt:
Zeitgenossin und Zeitzeugin in einem. »In Afghanistan haben die radikal
islamischen Kämpfer den letzten kommunistischen Präsidenten aus dem
Haus gezerrt... und an einer Laterne aufgehängt«, notiert sie am
27. September 1996 und hört am gleichen Tage beim Einkauf auf dem Markt
mit wachem Ohr den empört-belustigten Ausruf eines Berliners: »Wat?
Drei Jurken for zwee Mark? Vier Jurken for zwee Mark – det wär richtich.«
Gegenüberstellungen – spannender Wechsel zwischen Alltag und Weltgeschehen.
Ebenso spannend die Einblendung von Erinnerungen, Zukunftsplänen, Betrachtungen
über die Künste, über ihr Schreiben und ihre Mühen dabei
– Anläufe, Fehlschläge, Erfolge und deren Resonanzen.
Christa Wolf teilt ihr Leben mit, die Zweisamkeit in ihrer Ehe: »Sehnsucht
nach Gerd. Uns könnte nichts mehr antasten, nicht einmal eine Leidenschaft,
die mir passierte. Und passieren sollte, aber nicht wird.« Die Töchter
tauchen auf, der Freundeskreis, ihre Leserschaft – man wird einbezogen,
und in dem Maß, wie man Teil hat an all den Septembertagen, erschließen
sich auch vier Jahrzehnte. In diesem einen Leben spiegelt sich unser Leben.
Ihre Verwandlungen sind nachvollziehbar: Verfechterin des anderen Deutschlands
bis hin zur inneren Abkehr, größtmöglichen Isolation auf dem
Lande, zu einer Künstlerin, die sich fragen wird: »Kann ich in diesem
Land noch bleiben?« (hier, wo hinter den Mauern des Frauengefängnisses
von Hoheneck eine Studentin wegen ihres Protestes gegen die Biermann-Ausweisung
eine hohe Strafe absitzt – »und was geschah mir danach?«),
die aber in den bewegten Tagen vor und nach der Wende mit ihrer Persönlichkeit
und all ihrem Einfluß wieder in Erscheinung tritt: kritische Begleiterin
allen Geschehens, und die in ihren Aufzeichnungen nicht von ungefähr Günter
Gaus zitiert: Ȇber den geistigen Horizont eines antikommunistischen
Kreuzzuges, bei dem Beutemachen zu den Freiheiten gehörte, ist der Vereinigungsprozeß
kaum je hinausgegangen...«
Vierzig Jahre umrissen durch die Beschreibung jeweils eines einzigen Tages –
bewundernswert! Und beneidenswert auch. Vergaß ich nicht völlig den
Kapitän, von dem ich ihr einst erzählt hatte? Erst durch sie fiel
er mir wieder ein: wie er sich geweigert hatte, seinen überladenen Frachter
von Ägypten nach Rostock zu bringen, wie er dafür gemaßregelt
und zeitweilig an Land versetzt wurde und wie dann unter dem Kommando eines
anderen Kapitäns das Schiff vor der Ostseeküste auseinanderbrach und
sank. Nichts von all dem hatte ich aufgeschrieben. Bei ihr aber ist es festgehalten,
und nun fällt mir sogar der Name ein: Kapitän Schröder, verantwortlich
für das Küstenmotorschiff, auf dem ich im Jahr 64 angeheuert hatte.
Und daß eben dieser Kapitän sich während unserer Hafenliegezeit
vor der BRD-Botschaft in Stockholm postiert hatte, um dort einen abtrünnigen
Steward abzupassen: »Bei Käptn Schröder haut keiner ab –
später kannst du machen, was du willst.« Wie damals sehe ich die
beiden an Bord zurückkommen, zwei einträchtige Seefahrer – Kapitän
Paul Schröder und jener Steward!
Beklagenswertes Versäumnis, über all die Jahre nicht jeweils einen
Tag beschrieben zu haben, wie Christa Wolf es vierzig Mal getan hat. W. K.
Christa Wolf: »Ein Tag im Jahr. 1960-2000«, Luchterhand, 655 Seiten,
25 €
Ein Knabe in Naumburg
»Es ist etwas gar zu Schönes, sich späterhin seine ersten
Lebensjahre vor die Seele zu führen«, schreibt Friedrich Nietzsche
am Ende seiner autobiographischen Aufzeichnungen »Die Jugendjahre«,
verfaßt im Alter von 13 Jahren. Darin teilt er seine poetische Produktion
bereits in »zwei Perioden« ein. »Überhaupt war es stets
mein Vorhaben, ein kleines Buch zu schreiben und es dann selbst zu lesen. Die
kleine Eitelkeit habe ich jetzt immer noch...«
Der mit Mutter, Schwester und Tanten aufwachsende Knabe, dessen Vater früh
an »Gehirnerweichung« gestorben ist, erinnert sich, daß 1848
»Wagen mit jubelnden Schaaren und wehenden Fahne auf der Landstraße
hinfuhren«. Damals sei »Freiheit, Gleichheit, Brudersinn«
in allen Landen ertönt, und selbst bei schneller Unterdrückung sei
»eine deutsche Republic« noch lange der Wunsch des Volkes geblieben.
Es sei eine »verhängnißvolle Zeit« gewesen, resümiert
er und freut sich dann, daß sein Geburtstag mit dem »unseres lieben
Königs« zusammenfällt, Friedrich Wilhelm IV. von Preußen,
nach dem er benannt ist – »so werde ich des Morgens schon mit Militärmusik
geweckt«.
Sorgfältig und anschaulich schildert der strebsame brave Junge die Stadt
Naumburg, seine Lehrer und Mitschüler, die Musik, der man sich widmet (von
Händel bis Mendelssohn), und die Begeisterung für Krieg und Manöver.
Der junge Naumburger Nietzsche-Forscher und hallesche Literaturdozent Kai Aghte
hat diese und weitere frühe autobiographische Notizen Nietzsches in einem
hübschen kleinen Band herausgegeben – mit Freude daran, daß
die Straßen in Naumburg bis heute so erhalten geblieben sind, wie der
Knabe Nietzsche sie beschrieben hat. E. S.
Friedrich Nietzsche: »Ich habe nun schon manches erfahren« –
Die frühen autobiographischen Schriften, hg. von Kai Agthe, Wartburg Verlag,
72 S., 10 €
Nur Glückssache?
Was will der Autor des Buches »Suchen und Finden« eigentlich finden,
fragt sich der angestrengte Leser, nachdem ihm allerlei über fleisch- und
pflanzenfressende Tiere, Autos, Flugzeuge und Himmelskörper erzählt
worden ist. Die Antwort läßt sich aus dem Text erlesen: »Finden
ist überhaupt keine Tätigkeit, sondern ein Ereignis; wir tun es nicht:
es wird uns zuteil.« Jeder Fund sei »Glückssache«.
Suchen und Finden sind aber immer Teil eines menschlichen Tuns. Jedes menschliche
Suchen hat ein Ziel, auch wenn Suchende es manchmal nicht selbst bewußt
zu nennen verstehen. Indem dieses Buch Suchen und Finden vom menschlichen Tun
trennt, wird es langweilig. Den Leser, den der Titel vielleicht hat hoffen lassen,
in seinem Suchen nach einem sinnvollen und glücklichen Leben fündig
zu werden, stellt es auf eine harte Probe. Der Mensch als gesellschaftliches
Wesen, der in arbeitsamer Beziehung mit der Natur zum Beispiel den Traktor oder
die modernen Kommunikationssysteme entwickelt, kommt hier nicht vor. Der Begriff
Arbeit taucht in dem Buch nicht einmal auf. Jürgen Meier
Manfred Sommer: »Suchen und Finden«, Suhrkamp Verlag, 416 Seiten,
35,90 €
Kreuzberger Notizen
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Press-Kohl
Die Zeitung Bild am Sonntag schilderte, wie sich das britische Gesundheitsministerium
um Englands Kinder bemüht: »Damit Englands Kinder mehr Gemüse
essen, schickte das britische Gesundheitsministerium an Hunderte Schulen Karotten
– und eine Anleitung, wie sie gegessen werden: Erst waschen, dann von
unten her essen und die Spitzen wegwerfen.«
Das heißt, man verzehre die Mohrrüben so, wie sie wachsen, nämlich
von unten, wobei man die dort befindlichen Spitzen nach dem Waschen und Essen
wegwirft. Und was geschieht mit dem oben befindlichen Laub? Dieses dient zum
Flechten von Kränzen für den Gesundheitsminister, die man ihm unten
auf den Kopf setzt, nachdem man ihm oben die Füße geküßt
hat.
*
»Heute vor 26 Jahren«, meldete die Berliner Zeitung in ihrer Ausgabe
vom 16. und 17. August 2003, »starb angeblich Elvis Presly beziehungsweise
wurde von Außerirdischen entführt. Wahrscheinlich fuhr der Geist
des Kings aber einfach in den korpulenten Körper von Amir Mostofi. Seither
trägt der Mann den Namen Elvis Pummel und gedenkt mit 50s-Low-Fi-Echo-Punk
dem großen Elvis.«
Sein bißchen Deutsch hat Mr. Pummel offenbar bei der Berliner Zeitung
gelernt. Felix Mantel
»Die Wölfe« in Erlangen
Der Schriftsteller Hans Rehberg war ein fanatischer Nazi, Parteimitglied seit
1930. Er bedichtete hymnisch seinen Führer, und als das Ende des Hitler-Krieges
schon absehbar war, schrieb er ein Durchhaltestück, betitelt »Die
Wölfe«. Dieses »Nazistück, das an einem Nazitheater für
Nazikriegsziele inszeniert worden ist« (Gerhard Zwerenz) soll demnächst
am Theater Erlangen wiederaufgeführt werden – in einer »sprachkritischen
Inszenierung«, wie sich Intendantin Sabina Dhein verteidigt. Die Grüne
Liste im Stadtrat erhob Einspruch, doch die CSU/SPD/FDP-Mehrheit unterstützt
das Vorhaben, wünscht nun allerdings begleitende Ausstellungen und Veranstaltungen.
Das Erlanger Bündnis für den Frieden fordert weiterhin die Absetzung
des Stückes: Zwar verbiete sich eine Beschäftigung mit Originaltexten
faschistischer Autoren nicht von selbst, dabei müsse aber klar sein, daß
Faschismus »keine Meinung, sondern ein Verbrechen« ist. Das Erlanger
Bündnis für den Frieden bemüht sich seit Jahren um Verbindungen
zu der italienischen Stadt Cumiana, dem Tatort eines Massakers unter dem Befehl
eines Erlanger SS-Offiziers im Jahre 1944.
(Kontakt: www.frieden-erlangen.de)
Erschienen in Ossietzky 22/2003
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