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Geburtstagsfest
Ingrid Zwerenz
Im Oktober Geborene sammeln mit den Glückwünschen zugleich die Melancholien
des Herbstes ein. Am Morgen ist noch alles in Ordnung, die beste Schulfreundin
ruft an. Zuletzt hatten wir uns 1957 gesehen, dazwischen zwei verschiedene Leben
in zwei verschiedenen Staaten, jeder Kontakt hätte ihr schaden können.
Endlich die ersten Telefonate. Nach einigen tastenden Sätzen waren wir
vertraut wie früher. Frau Prof. Dr. H.B., jetzt pensioniert, ist medizinische
Ratgeberin ihrer zahlreichen Verwandten und Bekannten, Kreislauf-Spezialistin,
jahrzehntelange Forschung über zu hohen oder zu niedrigen Blutdruck, das
interessiert, und alle wollen partizipieren. Ein probates Mittel gegen das »Nassauern«,
sage ich, hatte Dr. Else Weil entwickelt, die erste Ehefrau Kurt Tucholskys.
Breiteten Herren und Damen bei gesellschaftlichen Anlässen ihre Wehwehchen
vor der Ärztin aus, reagierte sie kurz und bündig: »Bitte machen
Sie sich frei!« Meine Freundin lacht und will sich das merken. Minuten
später fragt sie nach Gerhard, achte auf ihn, sagt sie, du hast Glück,
ihr seid noch zu zweit. Sie ist seit Jahren Witwe, verlor mit dem Ehemann zugleich
den wichtigsten Berufskollegen, eine medizinische Kapazität, hochgerühmt
in DDR und BRD.
Wenig später meldet sich T., gratuliert und klingt bedrückt. Was ist?
frage ich. Ein trauriges Wochenende, Knud läßt nie merken, wenn es
ihm schlecht geht, jetzt klagte er: Ich schaffe es nicht mehr bis zur Pensionierung,
und zeigte mir das Testament. Ich bekomme das Haus, wie sollte ich dort leben,
wäre er nicht mehr, da erinnert mich doch alles an den Mann. Ich könnte
es nicht finanzieren, gerade sind erst die Zinsen bezahlt, kein Cent von den
Hypotheken. Klar, ich habe jahrzehntelang gearbeitet und kriege bald Rente,
große Sprünge kann ich damit nicht machen. Ist jetzt auch unwichtig,
zum Wochenende fiel ihm das Atmen schwer, der hohe Blutdruck, die Herzkranzgefäße
verkalkt, ich überredete Knud, schließlich ist er erst Anfang fünfzig,
daß er zu einem Kreislaufspezialisten in der Uni-Klinik geht. Er bewegt
sich zu wenig? In der Woche läuft er schon rum, muß ins Gericht,
aber Sonnabend/Sonntag sitzt er im Sessel über seinen Akten. Spazierengehen?
Wie denn, da tun ihm die Füße weh, hat lauter wunde Stellen wegen
Diabetes. Es kann doch nicht sein, das wäre der dritte Mann, den ich beerdigen
müßte. In der Praxis sind die Patienten ungeduldig und unwirsch,
ich habe immer gern dort gearbeitet, nun steht mir alles bis zum Hals. Sandra
ist die erste Kollegin, mit der es nicht klappt, tüchtig im Beruf, nur
ständig schlecht gelaunt. Wie alt sie ist? Ende dreißig. Immerfort
laufen ihr die Freunde weg, jetzt sucht sie einen Mann übers Internet.
Knud sagt, auf was die Chatter im Netz aus sind, ist eindeutig, sie müßte
einen Volkshochschulkurs belegen oder mal ins Theater gehen, wenn sie einen
Partner kennenlernen möchte. Sie wohnt weit weg in einem kleinen Nest,
weil die Mieten in der Stadt zu hoch sind, fühlt sich einsam. Kann das
Alleinsein nicht aushalten. Davor graut mir auch, wenn Knud etwas passierte.
Ich hatte immer ’ne Menge guter Bekannter, entweder haben die keine Zeit,
oder ich hab keine, oder sie sind inzwischen tot. Ich hoffe, daß Knud
bald besser dran ist, falls aber nicht, schaff‘ ich mir wieder ’ne
Katze an, schon eine junge. Vorher regle ich mit dem Tierheim, daß man
ihr einen guten Platz besorgt, wenn ich etwa sterbe.
Als nächstes ruft unsere ausgepowerte Kabarettistin an. Jahrzehntelang
das Theater am Laufen gehalten, Texte geschrieben und gespielt, zusammen mit
C., der Tochter, begabte Komödiantin, statt Bühnenkarriere steile
Drogenkarriere. Beide sind schwer angeschlagen. Jetzt die Gesundheitsreform
mit ihren Schrecken: Ich brauch‘ mindestens sechs verschiedene Sorten
Tabletten, muß ich da jeweils zehn Euro bezahlen? Das pack‘ ich
nicht. C. ist seit einem Jahr clean. Neues Engagement? Wie denn – bei
der Theater-Situation. Will einen PC-Kurs belegen, hofft auf einen Job und etwas
Geld. Mir fällt überhaupt nichts mehr ein, bin sowas von blockiert,
ob ich je wieder ’ne Zeile schreiben kann? Tschüß.
Jetzt mein Bruder, hört sich auch nicht heiter an. Ihm geht’s ganz
gut, die fünf Bypässe sitzen, Lob auf die Göttinger Klinik, in
der er operiert wurde. Ist etwas mit deiner Frau? Innerhalb von drei Wochen
rasend schneller Anstieg der Leukozyten, Leukämie, in der nahegelegenen
Kurstadt praktiziert ein ausgezeichneter Arzt, der verordnete Chemotherapie,
die Tabletten sind verträglich, F. kommt sonst mit Medikamenten schlecht
zurecht. Jeden zweiten Tag fuhr ich mit ihr runter zur Kontrolle, nein, Sohn
und Schwiegertochter konnten nicht einspringen, B. war in Kanada, zusammen mit
dem Mann von dem befreundeten Schweizer Ehepaar, in der Zeit machten die Frauen
Urlaub in den Bergen. Die Enkeltochter? N. ist in Moskau, sie studiert doch
Russisch, und da nützt der Aufenthalt im Land. Etwas besser sind die Werte
für F. inzwischen geworden, aber von Heilung kann man nicht sprechen ...
Gegen Abend gratuliert M., die patente, energische Nachbarin, ohne die ich mich
nie an den PC gewagt hätte. Sie ist eben vom Lebensgefährten in Amsterdam
zurück, er besucht sie Ende des Monats, ein Trost. Ich verstehe, sag ich,
du bist besorgt wegen deiner Schwester in München, hast du ja gemailt vor
der Abreise nach Holland. Was hatte ich denn geschrieben, fragt M. Daß
deine Schwester künstlich ernährt wird, nicht spricht, seit anderthalb
Jahren starr im Bett liegt. Als ich zuletzt bei H. war, erzählt M., packte
ich sie warm ein, setzte sie in den Rollstuhl und fuhr in den nahegelegenen
Park, die herbstfarbenen Bäume und Büsche schienen sie zu freuen.
Kaum war ich in Amsterdam, rief morgens ein Pfleger an. Ihre Schwester liegt
im Sterben, sagte er. Am Abend war sie tot.
*
Die von Gespräch zu Gespräch sich steigernden Hiobsbotschaften überfordern
selbst einen mitfühlenden Menschen. Im nächsten Oktober verreise ich
auf die Kanaren und versenke mein Handy im Atlantik.
Erschienen in Ossietzky 22/2003
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